1 Die Luft des Paradieses ist die Quelle der Wonnen. Aus ihr hat in seiner Jugend Adam getrunken und (ihr) Hauch hat (ihm in) seiner Kindheit als Mutterbrust gedient. Jung und schön war er und heiter. Doch als er das Verbot missachtete, wurde er düster, alt und abgelebt. Und er trug das Greisenalter, die Bürde der Uebel.
RESPONSORIUM: Gepriesen sei, der Adam erhob und (wieder) zurückführte in das Paradies.
2 Schädliche Kälte und sengende Hitze gibt es nicht an jenem Ort der Wonnen, jenem gepriesenen. Er ist der Port der Freuden und der Sammelplatz der Wonnen. Licht und Heiterkeit wohnen darin, eine Schar mit Harfen, eine Wohnung (voll) von Zithern, ein Hosannarufen, eine Kirche Hymnen (singend).
3 Die Umfriedung, die ihn umgibt, ist alles befriedender Friede. Seine Mauer und Vormauer sind alles versöhnende Eintracht. Der Cherub, der ihn umringt, ist hold denen, die drinnen sind, und drohend für die draussen, die verworfen wurden. Alles, was du hörst von jenem Paradies, dem reinen und heiligen, ist lauter und geistig.
4 Nicht soll seine Beschreibung gerichtet werden vom Hörenden; denn nie und nimmer fallen die Aussagen darüber unter (sein) Gericht. Denn wenn es auch den Namen nach irdisch zu sein scheint, der Wirkkraft nach ist es geistig, geläutert. Die Namen der Winde sind gleich; (doch) ist von jenem unreinen der heilige getrennt.
5 Dem Sprechenden ist es ja ganz unmöglich, ohne die Worte für die sichtbaren Dinge den Hörern vor Augen zu stellen das Bild unsichtbarer Dinge. Denn wenn schon der Schöpfer des Gartens in die Namen unseres Raumes seine Maiestät gehüllt hat, (um) wieviel (mehr) wird man dann mit unseren Gleichnissen von seinem Garten sprechen (dürfen).
6 Wenn nun auf die von der (göttlichen) Maiestät entliehenen Namen (allein) jemand irrend schaut, dann lästert und verleumdet er sie mit jenen entliehenen (Aussagen), in die sie sich hüllte um ihm zu helfen; und er ist undankbar gegen die Güte, die herabsenkte ihre Höhe zu seiner Unmündigkeit; denn obwohl er nicht mit ihr verwandt ist, hat sie sich in seine Bilder gehüllt, um ihn zu ihrem Bild zu führen.
7 Dein Verstand möge daher durch die Bezeichnungen nicht in Verwirrung geraten! Denn das Paradies hat sich gehüllt in die mit dir verwandten Namen. Doch ist es (deswegen) nicht arm, weil es in deine Bilder sich hüllte. Deine Natur ist schwach, gar sehr, unfähig, seine Erhabenheit zu fassen; und gar sehr verblassten seine Schönheiten, weil sie dargestellt wurden mit den Farben, den schwachen, die mit dir verwandt sind.
8 Die schwachen (menschlichen) Augen wären nicht imstande, in die Strahlen seiner himmlischen Schönheit zu blicken. Er hüllte daher seine Bäume in die Namen unserer Bäume und seine Feigenbäume wurden nach dem Namen der unsern benannt. Und seine Blätter, die geistigen, wurden greifbar und körperlich; sie verwandelten sich, damit Uebereinstimmung geschaffen werde, zwischen den Kleidern und den Sichbekleidenden.
9 Dichter und strahlender als die Sterne dieses sichtbaren Himmels (stehen) die Blumen jener Erde, und ein Teil jenes Duftes, der durch die Güte (Gottes) weht, wird ausgesandt als Arzt der Leiden (unserer) Erde des Fluches. Durch seinen heilenden Duft heilt er das Siechtum, das durch Eva auftrat.
10 Der Hauch, der von einem kleinen, gepriesenen Teil des Paradieses ausgeht, versüsst die Bitterkeit dieser (unsrer) Gegend; er mildert jenen Fluch unserer Erde. Der Garten ist der (Lebens)odem dieser kranken Welt. Da sie lange dahinsiechte, verkündete er, dass eine Lebensarznei uns Sterblichen gesandt werde.
11 Wozu bedurfte die Erde, dass von dort zu ihr hervorfliesse der sich teilende Strom, wenn nicht dazu, dass durch das Wasser (ihr) beigemischt würde der Segen (des Paradieses), dass (der Segen) hervorkomme, die Menschen zu tränken und ihre Quellen zu heilen, denen der Fluch beigemischt ist, so wie die Wasser geheilt wurden, die ungesunden, durch das Salz.
12 Auf gleiche Weise liegt in der andren Quelle, (in der Quelle) der Düfte, die von Eden ausgeht und die Luft durchdringt, ein Hauch voll von Nutzen, und in ihm regt sich unsere Seele, indem unser Atem gesundet durch das Wehen des Paradieses, das gesunde, und es werden die Quellen gesegnet durch jene gesegnete Quelle von dort.
13 Schon ein grosses Rauchfass, Wohlgerüche hauchend, vermischt die Luft mit dem Rauch seiner Düfte; nützlichen Hauch verteilt es an die Nahen. (Um) wieviel (mehr) also das Paradies, das lobwürdige! Seine Umfriedung gewährt uns Hilfe, und ein wenig wird gemildert jener Fluch der Erde durch den Hauch seiner Düfte.
14 (Damals) als die seligen Apostel versammelt waren, erhob sich dort eine Bewegung und der Duft des Paradieses, das seine (künftigen) Bewohner wahrnahm. Es liess seine Düfte strömen, und erfreute die Herolde, durch die belehrt kommen sollten die Gäste zum (Hochzeits)mahl. Zu denen, die es betreten sollen, fühlt sich hingezogen (das Paradies), der Freund der Menschen.
15 Würdige mich in deiner Güte, dass ich die Gnade (des Paradieses) erlange, den Schatz der Wohlgerüche und die Scheune der Düfte, indem ich Hungriger mich erlabe am Hauch seiner Wohlgerüche. Es ist ein Duft, der alle ernährt zu jeder Zeit, und wer ihn einatmet, wird erquickt, er vergisst sein Brot. Der Tisch des (Himmel)reiches ist es. Gepriesen sei, der ihn in Eden bereitet hat!
Der koranischen Paradiesbeschreibung und der Hymne Ephrems liegt u.a. auch die gemeinsame Vorstellung zugrunde, dass die Gerechten im himmlischen Garten (arab. ǧanna, syr. gantā) weder Hitze noch Kälte spüren werden. Diese angenehmen Verhältnisse werden dabei als Gleichgewicht zwischen extremen Temperaturen beschrieben: wo der Koran die Sonne (šams) dem Frost (zamharīr) gegenüberstellt (Q 76:13), spricht Ephrem von Eiseskälte (syr. quršā) und Hitze (syr. ḥummā) und betont die Schädlichkeit beider. Von diesen sind die „Gerechten“ (al-abrār, Vers 5) bzw. die „Diener Gottes“ (ʿibādu ʾllāhi, Vers 6) für immer befreit. Sicherlich ist die so beschriebene ideale Witterung des Paradieses im Koran auch als Gegensatz zur unerträglichen Hitze des Höllenfeuers zu denken (vgl. saʿīr, Vers 4). Diese Eigenschaft gehört zu einer ganzen Reihe von Elementen, welche die Vorzüglichkeit des jenseitigen Lebens hervorheben sollen. In derselben Sure (al-Insān, Q 76) kommen eine Fülle an solchen Einzelheiten vor: die Gerechten werden Wein trinken (Vers 5, 16, vgl. TUK_0603), sich in Seide kleiden (ḥarīr, sundus, Vers 12, 21) und im Schatten der fruchttragenden Bäume weilen (Vers 14). Siehe auch TUK_0609.
Dagegen ist Ephrems Beschreibung des Gartens nicht unbedingt endzeitlich ausgerichtet. Ephrem versteht Eden in dieser Hymne hauptsächlich als die ursprüngliche Wohnstätte Adams, wo er vor seinem Fall von der paradiesischen Luft (syr. ʾāʾar d-pardaysā) wie aus einer Quelle genährt wurde. Diesen lebensspendenen Lufthauch wird dann laut Ephrem erst mit dem Herabkommen des Hl. Geistes am Pfingsten wieder für die Menschen greifbar (Hy. de Paradiso 11:14). Darüber hinaus insistiert Ephrem auf die rein geistige (unkörperliche) Natur des Paradieses, die jedoch den Menschen nur in sinnlichen Bildern erkennbar wird (vgl. z.B. Hy. de Paradiso 11:7-8), ein Problem das in Sure 76 nicht angesprochen wird (siehe auch TUK_0610).
Neben der idealen Temperatur im Paradies fallen auch andere Gemeinsamkeiten zwischen der ephremischen Hymne und der koranischen Sure auf: die doppelte Charakterisierung Adams/des Menschen (ʾinsān) als Befolger bzw. als Übertreter der Gesetze Gottes (vgl. Q 76:3 und Hy. de Paradiso 11:1); die Erwähnung der Wasserströme/Quellen in Eden (vgl. Q 76:5, 18 und Hy. de Paradiso 11:11-12), das paradiesische Leben als Gnadengabe Gottes für die Gottesfürchtigen (vgl. z.B. Q 76:7-12; 22, 29-31 und Hy. de Paradiso 11:15).