Siehe Abbildung.
29 Der Daēva Vīzarǝša mit Namen, o Spitama Zaraθuštra, führt die Seele der truggläubigen daēvaanbetenden... Menschen gebunden fort; er kommt zu dem von Zrvan geschaffenen Pfad – der für den Druggläubigen und für den Ašagläubigen (bestimmt ist) –, zu der mazdāhgeschaffenen Činvat-Brücke; Wahrnehmungskraft und Seele befragen sie nach dem Anteil an Hab und Gut, (der dem Verstorbenen) in dem stofflichen Dasein verliehen (war).
30 Jenes schöngeschaffene tüchtige wohlgewachsene (Mädchen) stellt sich ein, mit den beiden Hunden, ..., mit einem Strick versehen, die gewandte kunstfertige. Die zerrt der Druggläubigen schlechte Seelen in die Finsternis hinab. Die bringt die Seelen der Ašagerechten – über die hohe Harā kommt sie heran – über die Činvat-Brücke hinüber zum Uferdamm der geistigen Yazata’s. (Wolff 1910: 430–431)
Die Frage nach dem ideengeschichtlichen Ursprung der großäugigen koranischen Paradiesjungfrauen (Huris von arab. ḥūr ʿīn) ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden (siehe den Überblick bei Jarrar 2002): George Sale hatte bereits 1734 eine zoroastrischen Provenienz vermutet (vgl. Sale 1734: 77), wogegen jedoch Reinhart Dozy mit dem Hinweis auf das Ṣad Dar-e Bohdaheš Einspruch erhob (dazu West 1885: XXXVI–XLV, der auf S. XXXVI–XXXVII den alten Kern der Prosa-Fassung von 1531 betont). Dieses sei nämlich ein Erzeugnis des 15. Jahrhunderts (vgl. Dozy 1879: 154; zur Diskussion der älteren Forschung siehe Berthels 1925: 263–265). Sowohl Tor Andrae (vgl. Andræ 1926: 146–150) als auch Edmund Beck (vgl. Beck 1948; Beck 1959) argumentieren dagegen für einen syrischen Hintergrund der koranischen Vorstellung. Mit zahlreichen Belegen aus der altarabischen Dichtung wiederum wartet Josef Horovitz auf; in den von ihm angeführten Stellen erscheinen die ḥūr als betörend schöne Frauen im Kontext üppiger Trinkgelage (vgl. Horovitz 1923: 12–13; siehe TUK_1410). Christoph Luxenberg schließlich möchte in ihnen Weintrauben erkennen (vgl. Luxenberg 2000: 225–242; zur Kritik an Luxenbergs Ansatz siehe: Wild 2010).
Nach Martin Haug (Haug and West 1872: LXI–LXII), Louis H. Gray (Gray 1902: 158) und William St. Clair Tisdell (St. Clair Tisdall 1905: 235–238) hat in Sonderheit Eugen Berthels einen möglicherweise zoroastrischen Ursprung der ḥūr zur Diskussion gestellt, wobei er zwar einräumt, dass die koranische Vorstellung von den Gerechten im Paradies zur Verfügung stehenden Jungfrauen wenig mit dem zoroastrischen Konzept der daēnā, der Schauseele, zu tun habe, gleichzeitig aber darauf hinweist, dass nur ein kleiner Teil des reichen zoroastrischen Schrifttums auf uns gekommen sei. Die rein geistige Vorstellung der daēnā könnte also etwa im Volksglauben eine handfestere Form angenommen haben (vgl. Berthels 1925: 266–267). In diesem Zusammenhang ist eine Beobachtung Gherardo Gnolis aufschlussreich, der eine ikonographische Darstellung der daēnā auf sasanidischen Siegeln belegen konnte, die diese als eine Frau darstellen (vgl. Gnoli 1993). Diese Anthropomorphisierung, welche die dēn häufig mit einer Blume als Symbol des mit ihr assoziierten Wohlgeruchs darstellt, wird durch eine Reihe von Formulierungen auf den sasanidischen Siegeln (z. b. ruwān wēnān, „möge ich die Seele sehen“) gestützt, die Allusionen an die dēn enthalten (vgl. Grenet 2013: 202–203, weitere Beispiele bei Shenkar 2014: 93–96). Arthur Jeffery (vgl. Jeffery 1938: 119–120) diskutiert die Möglichkeit, dass ḥūr auf das mittelpersische hurust (hwlwst', „schön, wohlgestalt“, MacKenzie 1971: 45) zurückgehen könnte, wobei er anmerkt, dass dieses Wort im Ardā Wīrāz Nāmag als Eigenschaft der die Taten des Gerechten verkörpernden dēn verwendet wird. Des Weiteren wurde vereinzelt darauf hingewiesen, dass die Farbe Weiß in Verbindung mit der Idee einer Paradiesjungfrau auch im Zoroastrismus vorkomme (Groß-Bundahišn 30:14, siehe Sundermann 1992: 169–170). Die Idee eines zoroastrischen Hintergrundes hat in jüngerer Zeit Jürgen Tubach wiederaufgenommen (vgl. Tubach 2010: 191-193), und auch Johnny Cheung verweist auf die einschlägige Belegstelle aus dem Hādōxt Nask (vgl. Cheung 2017: 324–326).
Im Zoroastrismus findet sich die Vorstellung, dass die „Atem-Seele“ (uruuan, mittelpersisch ruwān) eines Verstorbenen der Versinnbildlichung seiner Taten in Gestalt seiner Schauseele (daēnā, mittelpersisch dēn, siehe für verschiedene Aspekte Shaki 1994) begegnen, bereits in awestischen Texten (Vīdēvdād 19:30, Hādōxt Nask 2). In der mittelpersischen Literatur lassen sich komplementäre Passagen sowohl in den Inschriften des Hohepriesters Kartīr (TUK_1408), im Ardā Wīrāz Nāmag und Dādestān ī Mēnōg ī Xrad (TUK_1409 u. TUK_1411) als auch in der späteren priesterlichen Literatur (Dēnkard 9:20) nachweisen (zu Idee und Entwicklung siehe Widengren 1983 u. Sundermann 1992). Daneben scheint eine ähnliche Vorstellung auch im Manichäismus existiert zu haben (vgl. Henning 1945: 476–477, Colpe 1981, Gershevitch 1984, Sundermann 1992: 166–169), so dass die Idee der die guten Taten des Menschen nach seinem Tode verkörpernden Jungfrau als „recurring pattern in der Geschichte der Religionen auf iranischem Boden“ (Sundermann 1992: 172) bezeichnet werden kann.
Die hier zitierte Passage teilt mit Yasna 46:11, Yasna 31:20 und Hādōxt Nask 2 die ambige Vorstellung der daēnā, wonach diese sowohl die guten wie auch die schlechten Eigenschaften des Verstorbenen verkörpert und seiner „Atem-Seele“ dementsprechend in einer belohnenden bzw. strafenden Funktion erscheint (zum Verhältnis von uruuan und dāenā im Awesta siehe Lankarany 1998: 77–79).
Das Vīdēvdād („Gesetz zur Verwerfung/Ablehnung der Dämonen“; siehe für verschiedene Deutungen der jungawestischen Wendung dāta vīdēuua Cantera 2006 und Skjærvø 2007: 106) bildet mit Yasna, Yašts, Visparad und Khorde Avesta das Corpus der heute erhaltenen awestischen Texte (siehe dazu Hintze 2009). Es stellte den 19. Teil (nask) des 21 Teile umfassenden sasanidischen Awesta dar (siehe dazu Cantera 2004; zum Vīdēvdād Malandra 2006, Skjærvø 2007 und Hintze 2009: 38–46). Hauptsächlich mit rechtlichen Fragen befasst, insbesondere Reinheitsvorschriften, bildet das Vīdēvdād zusammen mit sechs weiteren, heute verlorenen Büchern das Dād Nask, einen der drei Hauptteile des Awesta (Shaki 1993). Alter und Entstehungszeit wurden und werden kontrovers diskutiert: Während die ältere Forschung eine westiranische Provenienz annahm (siehe den Überblick bei Moazami 2014: 6–8), wird in jüngerer Zeit von der Kompilation verschiedener älterer und jüngerer Textschichten ausgegangen, die einen alten ostiranischen Kern und eine Kanonisierung zu Beginn der Achämenidenzeit wahrscheinlich erscheinen lassen (Skjærvø 2007: 112; Hintze 2009: 45–46).
Der Text gliedert sich in 22 Kapitel und ist vornehmlich als Dialog zwischen Zarathustra und Ahura Mazdā gestaltet. Der mit Abstand größte Teil des Textes (3–17) ist Reinheitsvorschriften und Angaben zum Umgang mit Verletzungen derselben durch die Menschen gewidmet. Die ersten zwei und letzten fünf Kapitel befassen sich mit mythologischen Themen: die Erschaffung der Welt durch Ahura Mazdā (1), die Herrschaft Yimas über die Welt (2), die Versuchung Zarathustras und das Schicksal der Seele nach dem Tode (19), Invokationen des Wassers, der Sonne, des Mondes, der Sterne und der Kuh (21) sowie die Erschaffung von Krankheiten und Leiden durch Aŋra Mainyu und Ahura Mazdās Abwehr, wobei er sich eines heiligen Mantra und der Hilfe Airyamans (22) bedient (für eine Zusammenfassung siehe Malandra 2006).
29 vīzarəṣ̌ō daēuuō nąma
spitama zaraϑuštra
uruuānəm bastəm vāδaiieiti
druuatąm daēuuaiiasnanąm
mərəzujītīm maš́iiānąm
paϑąm zruuō.dātanam jasaiti
yasca druuaite
yasca aṣ̌aone
cinuuat̰ pərətūm mazdaδātąm
baoδasca uruuānəmca yātəm
gaēϑanąm paiti jaiδiieiṇti
dātəm astuuainti aŋhuuō
30 hāu srīra kərəta taxma huraoδa jasaiti
spānauuaiti niuuauuaiti pasuuaiti
yaoxštauuaiti hunarauuaiti&
hā druuatąm aγəm uruuānō
təmō huua nizarṣ̌aite
hā aṣ̌āunąm uruuānō
tarasca harąm bərəzaitīm. āsənaoiti
tarō cinuuatō pərətūm vīδāraiieiti
haētō mainiiauuanąm yazatanąm