Ein silbernes Sprengbecken, [70 Schekel nach dem Schekel des Heiligthums] (Num 7,19) gegen die Tora, die mit Wein verglichen wird, wie es heisst: Und trinket von dem Wein den ich gemischt. (Prov 9,5) Und weil man den Wein in Becken (Schalen) zu trinken pflegt, [wie es heisst]: Sie trinken den Wein aus Schalen, darum brachte er ein Sprengbecken dar. (Amos 6,6) Siebzig Schekel nach dem Schekel des Heiligtums. (Num 7,19) Warum? Weil das (hebräische) Wort yayin, "Wein", "siebzig" in der Zahl hat, und so gibt es auch siebzig verschiedene Auslegungsweisen der Tora." [Übersetzung: A. Wünsche, S. 326 (mit leichten Modifikationen)]
Die Annahme, dass Schriftverse mehr als eine Bedeutung haben, scheint scheint sich bereits früh in der exegetischen Literatur des Judentums durchgesetzt zu haben (vgl. A. Neuwirth, 2010: 531). Die Idee von der Vielstimmigkeit in Bezug auf das jüdische Recht ist bereits im babylonischen Talmud (vgl. bEruvin 13b) belegt: "Für drei Jahre stritten das Haus Shammai und das Haus Hillel. Bet Shammai pflegte zu sagen: 'Die Halakhah stimmt mit unserer Ansicht überein'. Beit Hillel sprach dagegen an: 'Die Halacha stimmt mit unserer Ansicht überein'. Da sprach die Bat Qol, eine himmlische Stimme: 'Diese und diese sind die Worte des lebendigen Gottes'". Die Vielfältigkeit des Schriftsinns und die Meinungspluralität im talmudischen Schriftum behandeln ausführlich David Stern, 1988, Daniel Boyarin, 2002 sowie Steven Fraade, 2007.
Die Vorstellung, dass die Schrift verschiedene "Erscheinungsformen" oder "Gesichter" (hebr. panim) hat und gemäß ihren unterschiedlichen Aspekten verstanden bzw. ausgelegt werden muss, ist im Midrasch Rabba zu Numeri belegt, wo es heißt, dass "die Tora 70 Gesichter besitzt" (hebr. šivʿim panim la-tora). Der früheste Beleg des Ausdrucks šivʿim panim la-tora ("70 Gesichter besitzt die Tora") findet sich im Midrasch Numeri Rabba (Paraschat Naso XIII,16), der eine Passage aus Numeri 7,19 erklärt: "Er brachte als seine Opfergabe dar: eine silberne Schüssel, 130 [Schekel] schwer; ein silbernes Sprengbecken, 70 Schekel schwer nach dem Schekel des Heiligtums, beide voll Feinmehl, mit Öl gemengt, als Speisopfer; [...]". Die Tora wird in diesem Abschnitt so wie in der rabbinischen Theologie im Allgemeinen üblich (vgl. z.B. Midrasch Hohelied Rabba I,II,5 bzw. I,II,8) mit Wein verglichen. Das hebräische Wort für "Wein" yayin – geschrieben mit den drei Buchstaben yod-yod-nun – bedeutet nach der Gematria (der Deutung hebräischer Wörter durch den Zahlenwert der vorkommenden Buchstaben), "siebzig" (y=10+y=10+n=50) und verweist auf das Geheimnis, hebr. sod (s=60+w=6+d=4), das in den Worten der Torah enthalten ist, d. h. hier auf eine große (nicht näher zu bestimmende) Anzahl von Verständnismöglichkeiten. Der babylonische Talmud betrachtet überdies die gesamte Tora – einschließlich der Buchstabenverzierungen (hebr. kǝtarim bzw. tagin, Sg. taga, "[Buchstaben-]kronen") – als Bedeutungsbestandteile, aus dem neue Verständnismöglichkeiten abgeleitet werden können. In der berühmten Stelle in bT Menaḥot 29b wird beschrieben, wie Gott die Krönchen und Kränze der Buchstaben Šin, ʿAyin, Ṭet, Nun, Zayin, Gimel und Ṣade, windet: "R. Jehuda sagte im Namen Rabba: Als Moses in die Höhe aufstieg, traf er den Heiligen, Gepriesen Sei Er, sitzend und Kränze für die Buchstaben windend. Da sprach er zu Ihm: Herr der Welt, wer hält Dich zurück? Er erwiderte: Es ist ein Mann, der am Ende von vielen Generationen sein wird, namens Aqiva ben Joseph, er wird dereinst über jedes Häkchen (der Buchstaben) eine Unzahl an Lehren vortragen. Da sprach er zu ihm: Herr der Welt, zeige ihn mir. Er erwiderte: Dreh dich um. Da kehrte er um und setzte sich hinter die achte Reihe; er verstand aber ihre Unterhaltung nicht und wurde darüber bestürzt. Alsdann gelangte er zu einer Sache, und seine Schüler fragten ihn, woher er dies wisse; der erwiederte er ihnen, dies sei eine dem Mose am Sinai überlieferte Lehre. Da wurde er beruhigt. Hierauf kehrte er um, trat vor den Heiligen, Gepriesen Sei Er, und sprach zu ihm: Herr der Welt, Du hast einen solchen Mann, und verleihst die Gesetzeslehre durch mich!? Er sprach: Schweig, so kam es mir in den Sinn." Aus dem Bericht lässt sich ableiten, dass die Lehre kontinuierlicher Fortentwicklung ausgesetzt ist, so dass selbst Mose, dem sie ursprünglich gegeben wurde, sie nicht wiedererkennen konnte. Damit entfaltet die Lehre (hebr. tora) durch die Deutung durch den Menschen ihr volles Potential und entwickelt eine schier unendliche Anzahl an Auslegungstradition (vgl. N. Levine, 2002). Weitere Belege für die Vorstellung der Mehrdeutigkeit der Schrift finden sich in bT Sanhedrin 34a, bT Shabbat 88b, bT Eruvin 21b und bT Menaḥot 29b. Der mehrdeutige Schriftsinn hat sich sowohl im rabbinischen als Judentum als auch im Christentum niedergeschlagen (vgl. dazu für die jüdische Tradition K.E. Grözinger, 2005: 206-209, 594f. und für die christliche Tradition H. de Lubac, 1999). Hatte Origines (185-254) noch im 3. Jahrhundert die Schrift nach dem dreifachen Schriftsinn erklärt, so spricht die Auslegung in der Folgezeit von weiteren Dimensionen. Johannes Cassianus (360-435) spricht von einem vierfacher Schriftsinn (vgl. Collationes patrium 14,8), der in einem lateinischen Merkvers aus dem 13. Jahrhundert folgendermaßen zusammengefasst ist: Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia, "Der Buchstabe lehrt die Ereignisse; was du zu glauben hast, die Allegorie; der moralische Sinn, was du zu tun hast; wohin du streben sollst, die Anagogie" (zitiert nach U. Kuther, 2000: 124; zum vierfachen Schriftsinn im Judentum vgl. auch D. Krochmalnik, 2009).
Q 3:7 ist von den den Gelehrten sehr verschieden gedeutet worden, wie Leah Kinberg dargestellt hat (vgl. L. Kinberg, 1988). Die beiden Worte muḥkam (von der Wurzel <ḤKM> in IVten Verbalstamm mit der Bedeutung "etwas stark machen", "etwas klar erkennbar machen", vgl. A. Ambros, 2004: 76) und mutašābih (Partizip der Wurzel <Š-B-H> im VIten Verbalstamm, mit der Bedeutung "einander gleichen", vgl. A. Ambros, 2004: 145), die als Gegensatzpaar verstanden werden müssen (vgl. E.M. Badawi/M.A Haleem, 2008: 228f.), werden von den islamischen Exegeten als "eindeutig, feststehend" (muḥkam) und "mehrdeutig, allegorisch, symbolisch" (mutašābih) verstanden. Einen anderen Zugang zu diesen Begriffen bieten die aristotelischen Kategorien der Rhetorik : muḥkam entspräche bei dieser Sichtweise dem griechischen Begriff pithanós oder peistikós ("überzeugend, überredend, überzeugungskräftig", vgl. H.G. Liddell/R. Scott, 1940/1996: 1403), während mutašābih der Kategorie amphiboléos ("mehrdeutig, strittig, zweifelhaft, ungewiss") entspräche (vgl. H.G. Liddell/R. Scott, 1940/1996: 90; siehe zur inhaltlichen Interpretation A. Neuwirth, 2010: 528-532. Vgl. zur Ambiguität als Prinzip der arabisch-islamischen Kultur auch Th. Bauer, 2011. Auch die frühe Koranexegese (tafsīr) kennt die Vieldeutigkeit von Wörtern bzw. Versen. Diese werden als Gesichter (wuğūh) bzw. als Aspekte (ašbāh) des Koran gekennzeichnet – manchmal auch naẓāʾir – dabei erscheinen sie austauschbar. Eines der ältesten Handbücher zu dieser an der Semantik orientierten Disziplin der klassischen Koranwissenschaften stammt von Muqātil b. Sulaymān (150/767) und trägt den Titel al-Wuğūh wa-l-naẓāʾir fī l-qurʾān, andere vergleichbare Werke heißen al-Ašbāh wa-l-naẓāʾir fī l-qurʾān usw. Die maßgebliche Edition von Muqātils Handbuch wurde von ʿAbd Allāh Maḥmūd Šaḥātā im Jahre 1975 (Kairo) herausgegeben (vgl. zu diesem Genre innerhalb der traditionellen Koranwissenschaften M.A. Sattar, 1978; siehe zu dieser Art von philologisch-lexikographischer Auslegung auch Cl. Gilliot, 1990: 118-120 und P. Nwiya, 1970: 109-116). Bereits Ignaz Goldziher hat zurecht darauf hingewiesen, dass islamische Theologen gerade in der foecunditas sensus, der "Fruchtbarkeit des (Text-)sinns", einen Vorzug des heiligen Buches erkannten: der Qurʾān ist der islamischen Theologie zufolge ḏū wuğūh, "vielgesichtig" bzw. "vieldeutig" (vgl. für Beispiele Ğalāl al-Dīn al-Suyūṭī oder Badr al-Dīn al-Zarkašī [al-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, vol II, ed. Muḥammad ʾAbū l-Faḍl ʾIbrāhīm, 173 sowie al-Zarkašī, al-Burhān fī ʿulūm al-qurʾān, ed. Muḥammad ʾAbū l-Faḍl ʾIbrāhīm, vol. II, S. 69]). Das bedeutet letztlich, dass aus dem Text viele, möglicherweise heute noch nicht abzusehende Bedeutungen hergeleitet werden können (vgl. I. Goldziher, 1920: 84f. und dazu M. Ayoub, 1984: 19ff.).
Numeri Rabba (Bamidbar Rabba) ist ein später rabbinischer Homilien-Midrasch zu dem biblischen Buch Numeri – früheste vollständige Manuskripte datieren nicht früher als um das fünfzehnte Jahrhundert n. Chr. Der vermutlich in Palästina entstandene Midrasch besteht aus zwei verschiedenartigen Teilen, nämlich aus (a) haggadischen Bearbeitungen von Numeri 1-7 und (b) aus einem homiletischen Midrasch zu Numeri 8-36. Es wird angenommen, dass das Material erst im elften Jahrhundert n. Chr. durch Moše ha-Daršan oder Mitglieder seiner Schule zusammengetragen wurde, wobei Einzeltraditionen viel älteren Datums sein können.
Textedition: Arieh Mirkin, Midraš Rabba, 11 Bde., Tel Aviv: Yavneh Press, 1966-1967 [BemR=Bde. IX-X]; Übersetzung: (Deutsch) August Wünsche, Bibliotheca Rabbinica. Eine Sammlung alter Midraschim. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen, 5 Bde., Leipzig: Otto Schulze, 1880-1885 [Nachdruck Hildesheim 1967; BemR=Bd. IV]; (Englisch) Harry Freedman, Maurice Simon (eds.), Midrash Rabba: Translated into English, 10 Bde., London: Soncino Press, 1939, 31961 [BemR= Bd. IV, übersetzt von J.J. Slotki]; Literatur: Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch. Neunte, vollständig neubearbeitete Auflage, München: C.H. Beck, 2011, S. 343-344; vgl. auch Günter Stemberger, Midrasch: Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel: Einführung, Texte, Erläuterungen, München: C.H. Beck, 1989.
One silver basin, [of seventy shekels, after the shekel of the sanctuary] (Num 7,19) was brought as a symbol of the Torah which has been likened to wine, as it says And drink of the wine which I have mingled (Proverbia 9,5). Now because it is customary to drink wine in a basin, you may gather from the text, that drink wine in bowls (Amos 6,6) – he on that account, brought a basin. Of seventy shekels, after the shekel of the sanctuary (Numeri 7,19). Why? As the numerical value of (the Hebrew word) yayin, "wine", is seventy, so there are seventy modes of expounding the Torah." [translation: J.J. Slotki, S. 534 (with slight modifications)]