Im Koran wird die Verehrung paganer Gottheiten und Idole nach traditionellem Verständnis scharf zurückgewiesen. Der Begriff Beigesellung (širk) wird dabei sowohl in Bezug auf trinitarische Christen als auch auf die arabischen Zeitgenossen des Verkünders gebraucht (zur Begriffsgeschichte vgl. Hawting 2002; kritisch zur Gleichsetzung von širk mit Polytheismus: Hawting 1999: 45–66). Eine ähnlich scharfe Verurteilung der Idolatrie findet sich im Dādestān ī Mēnōg ī Xrad (TUK_1381), worin die Verehrung von Idolen als achte Todsünde (DMX 36:11) verstanden wird. Allerdings korrelierte, wie Michael Shenkar zeigt, die formulierte Ablehnung und Verurteilung der Idolatrie nicht mit einer ikonoklastischen Politik seitens der sasanidischen Autoritäten (Shenkar 2015).
Im hier zitierten Abschnitt aus dem Ardā Wīrāz Nāmag findet eine individuale Eschatologie Ausdruck, wobei paradigmatisch das Schicksal einer Sünderin beschrieben wird, deren Fehlverhalten sie im Jenseits nicht nur einer Strafe überantwortet, sondern auch von ihrem Mann, der ins Paradies einzieht, trennt. Anders als im Koran, der ein ambivalentes Frauenbild entwirft (siehe dazu Stowasser 1994), zeichnet sich das Ardā Wīrāz Nāmag durch eine tendenzielle Misogynie aus (König 2010: 107–112). Die Vorstellung der Loslösung des Menschen aus den ihm Schutz bietenden familiären bzw. tribalen Strukturen, die Hilflosigkeit des Einzelnen und seine Letztverantwortlichkeit für die von ihm verübten Taten erscheint auch in der koranischen Schilderung des Jüngsten Gerichts.
Das Ardā Wīrāz Nāmag („Das Buch des Ardā Wīrāz“) stellt auf Grund seiner einzigartigen Gestaltung wie auch seiner breiten Rezeption den bedeutendsten zoroastrischen Beitrag zur Gattung der apokalyptischen Literatur dar (vgl. zum Werk Gignoux 1986). Strukturell gliedert sich das Werk in vier Teile: Auf eine kontextualisierende Einleitung (Kapitel 1–3) folgen die ausführlichen Beschreibungen des Paradieses (Kapitel 4–15) und der Hölle (Kapitel 16–100) sowie eine kurze Schlusssequenz (Kapitel 101), die eine zweite Begegnung des Ardā Wīrāz mit Ohrmazd im Paradies schildert (vgl. die ausführliche Zusammenfassung bei Haug and West 1872: LVII–LXII). In der Einleitung wird geschildert, wie Ardā Wīrāz auf Grund seiner Tugendhaftigkeit von Priestern auserkoren wird, die zoroastrische Glaubenswahrheit durch eine Himmelsreise zu bestätigen. Nachdem die Priester ihm einen narkotisierenden Trank eingeflößt haben, fällt Ardā Wīrāz für sieben Tage und sieben Nächte in einen tiefen Schlaf, bevor er das Bewußtsein wiedererlangt. Die sich anschließende Schilderung der Jenseitsreise beschreibt detailliert die Freuden der Gerechten und Leiden der Sünder (vgl. TUK_1271). Den weitaus größten Teil nimmt die Beschreibung der Hölle ein: 84 der 101 Kapitel des Werkes beschäftigen sich mit den Sünden der Hölleninsassen und den korrespondierenden Strafen (Stausberg 2009: 238; Leurini 2002: 214–220).
Alter und Entstehungszeit sind schwer einzugrenzen. In seiner heutigen Form wurde das Werk jedoch erst nach der arabischen Eroberung verschriftlicht, wie die angefügte Einleitung deutlich macht, in der von der Invasion Irans durch die Araber die Rede ist. Martin Haug und Edward W. West betonen die literarische Eigenständigkeit der Apokalypse, die weder jüdische noch christliche Einflüsse aufweise (Haug and West 1872: LVI–LVII), und verorten die Entstehung des Werkes in die Spätphase der Sasanidenherrschaft (Haug and West 1872: LXXIII). Mary Boyce und Philippe Gignoux datieren die Endredaktion auf das 9. bzw. 10. Jahrhundert (Boyce 1968: 48; Gignoux 1969). Dabei geht Boyce von einem sehr alten Kern des Werkes aus, worauf auch der bereits in den Gāthās vorkommende Name Wīrāz (Yašt 13:101) hinweise (Boyce 1968: 48–49), und auch Faridun Vahman (Vahman 1981: 11) betont, dass die zentralen Teile des Werkes aus der sasanidischen Zeit stammen.
Das Genre der Jenseitsreise, während derer eine bedeutende Person Himmel und Hölle erblickt, und somit die zoroastrische Religion durch eine transzendente Erfahrung legitimiert, ist alt; schon Zarathustra soll nach Vizīdagīhā ī Zādspram 21 in den Himmel aufgefahren sein und auch über den legendären König Vištaspa wird Ähnliches berichtet (Dēnkard 7.4:83–86). Der Hohepriester Kartīr (vgl. zu Leben und Wirken Kartīrs Skjærvø 2011), der in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts zu höchster Machtfülle im Sasanidenreich aufstieg, rühmte sich, eine Jenseitsreise unternommen zu haben, wie aus seinen Inschriften in Naqš-e Raǧab (vgl. auch TUK_1323) deutlich wird (Skjaervø 1983). Im Gegensatz zu den Inschriften Kartīrs, die eine physische Jenseitsreise des Hohepriesters beschreiben, findet sich im Ardā Wirāz Nāmag eine Akzentverschiebung hin zu einer spirituellen Reise der Seele, während derer der Körper im Diesseits verharrt.
1 U-m dīd ruwān ī mard-ē ud zan-ē kē šān ān mard ō wahišt ud ān zan ō dušox hamē kešēnd ud aan dast andar band ud kurstīg ī ān mard abgand ēstād
2 u-š guft kū čiyōn ka-mān pad zīndagān har nēkīh pad āgenēn būd nūn tō ō wahišt ud man ō dušox hamē nayēnd
3 ud ān mard guft kū ēd rāy čē man wehān ud azānīgān ud driyōšān padīrīft u-m tis dād
4 u-m humad ud huxt ud huwaršt warzīd
5 u-m yazdān menīd ud dēwān *nikōhīd ud pad weh-dēn ī māzdēsnan āstawān būd ham
6 ud tō wēhān ud driyōšān ud arzānīgān ud kārawānīgān tar kard
7 u-t yazdān *nikōhīd u-t *uzdēszār paristī ud dus-humat ud duš-hūxt ud duš-huwaršt warzīd ud pad dēn ī ahreman ud dēwān āstawān būd hēh
8 ud pas ān zan ō ān mard gunt kū pad zindagān hamāg tan ī ō abar man sālār ud pādišā būd ud tan ud gyān ud ruwān ī man ān ī tō bud ud xwarišn ud *dārišn ud
9 paymōzišn ī man ray az tō būd
10 ēg-it Zaum ud pādifrāh čē rāy padiš ne kard ham
11 u-t wehīh ud frārōnīh čim ka nē hē ud tā nun ēn zaxm ud anāgīh nē ābāyēd burd
12 ud pas ān mard ō wahišt ud ān zan ō dušox šud ud ān zan az ān pašēmānīh andar dušox be tārīgīh ud gandagīh any petyārag nē būd
13 ud ān mard andar wahišt mayān ī ahlawān az nē wardānīdān ud nē hammōzānīdān ī ān zan kē dārišn awiš mad būd ō frārōnīh pad šarm nišast
1 And I saw the soul of a man and a woman whom they were ever leading, the man to Paradise and the woman to Hell. And the woman had put her hands to the tie and the sacred girdle of the man
2 and she said: “How is it that while living we had every goodness together, now they are leading you to Paradise and (dragging) me to Hell?”
3 And that man said: “It is because I received things for the good ones and the worthy and the needy and gave (them) things,
4 and I practiced ‘good thoughts’ and ‘good words’ and ‘good deeds’,
5 and I remembered the gods and reproached the demons, and I was faithful to the good religion of the Mazdeans.
6 But you despised the good and the poor and the worthy and the travelers,
7 and you reproached the gods and you worshipped (in) the idol temple, and practiced ‘evil thoughts’ and ‘evil words’ and ‘evil deeds’, and you were faithful to the religion of Ahriman and the demons.” (Vahman 1981: 211–212)