"Aḥer fragte nach seiner Ausartung den R. Meir: Worauf deutet der Schriftvers: 'Gold und Krystall kommen ihr nicht gleich, noch tauscht man sie ein für güldenes Geschirr' (Hiob 28,17)? Dieser [Aher] erwiderte: Das sind die Worte der Gesetzeslehre, die schwer zu erwerben sind, wie Gold und güldenes Geschirr, und leicht zu verlieren ist, wie Krystallgeschirr. Da sprach jender: Dein Lehrer R. Aqiba erklärte es anders: wie Gold- und Krystallgeschirr, wenn es zerbricht, hergestellt werden kann, ebenso giebt es für einen Schriftgelhrten, wenn er gesündigt hat, eine Besserung. Darauf sprach dieser: So thue auch du Busse! Jener erwiderte: Ich habe bereits [eine Stimme] hinter dem [himmlichen] Vorhang rufen gehört: Kehret zurück, ihr abtrünnigen Söhne, ausser Aḥer."
Der Begriff ḥiğāb erscheint in dieser Bedeutung gelegentlich im Koran, wo göttliche Offenbarung – ähnlich der hier zitierten Talmudstelle – nur mittelbar, d. h. min warāʾi ḥiğāb „von hinter einem Vorhang“ erfolgen kann (vgl. Q 38:32 und Q 42:51 [hebr. me-aḥorey ha-pargod, vgl. bḤag 15a; bBeraḵot 18b; bSan 89b; bYoma 77a]). Das Wort erscheint auch in Q 19:17 in Verbindung mit Maria, der Gottesmutter, wo die christliche typologische Lektüre Maria mit dem Tempel Christi, d. h. Wohnung Gottes auf Erden identifiziert, so etwa bei Gregorius Thaumaturgus (um 210–um 270) und Gregor von Nazianz (329–389). Folgt man dieser typologischen Lektüre – wie sie auch im Protevangelium des Jakobus (Kapitel 8) begegnet – dann wäre hier mit ḥiğāb „Tempelvorhang“ (paroḵet, Ex 26,33-35, 2 Chr 3,14) zu verstehen, der das Allerheiligste verhüllt (vgl. A. Neuwirth, 2017: 611–613).
Der Babylonische Talmud [bT] (hebr. ha-talmud ha-bavli) zählt wie kein anderes Werk zum Traditionsschatz des rabbinischen Judentums (vgl. Günter Stemberger, Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit (70. n.Chr.–1040 n.Chr.), München: C.H. Beck, 1979) und damit zum Hauptzeugen der jüdischen Gedankenwelt klassischer Zeit. Der babylonische Talmud bezeugt eine Verhandlung von Themenfeldern und Einzelproblemen, die bereits in der Mischna [M] und der Baraita/ Tosefta [T] aufgeworfen worden sind. Es handelt sich aber nicht nur um eine Sammlung rechts-philosophischer und rechts-theologischer Diskussionen, sondern bewahrt eine Vielzahl haggadischer Materialien, welche uns Rückschlüsse auf die Theologie des rabbinischen Judentums geben (vgl. Salomon Schechter, Aspects of Rabbinic Theology, London: A & C Black, 1909; Ephraim E. Urbach, The Sages: Their Concepts and Beliefs, trans. I. Abrahams, Jerusalem: Magnes Press, 1979). Die Textgeschichte des Talmuds, der bisher häufig im frühen sechsten Jahrhundert n.Chr. zeitlich lokalisiert wurde, stellt sich schwieriger dar als bisher angenommen. Selbst wenn mit einer abschließenden Bearbeitung durch die Talmudredaktoren (Setammaʾim) erst zu Beginn des achten Jahrhunderts n.Chr. zu rechnen ist, so sind die mündlichen Überlieferungen älteren Datums (Moulie Vidas, Tradition and the Formation of the Talmud, Princeton: Princeton University Press, 2014). Damit werden die Traditionen des babylonischen Talmuds [bT] neben den frühen Auslegungsmidraschim – Genesis Rabba [BerR], Leviticus Rabba [WaR], Pesiqta de-Rav Kahane [PesK] – und den rechts-philosophischen und rechts-theologischen Midraschim – Mekhiltaʾ de-Rabbi Yischmaʾel [MekhY] und Sifre Deuteronomium [SifDev] – zu dem wichtigsten Bezugspunkt jüdischen Denkens der Spätantike.
Ausgabe: Talmud Babli (Wilna Edition), 20 Bde., Jerusalem: o.V., 1977 [= Wilna: Romm, 1880–1886]; Übersetzung: (Deutsch) Lazarus Goldschmidt, Der babylonische Talmud, 12 Bde., Berlin: Jüdischer Verlag, 1929-1936 [Nachdruck Berlin 1996]; (Englisch) Isidore Epstein (Ed.), The Babylonian Talmud. Translated into English with Notes, Glossary and Indices, 35 Bde., London: Soncino Press, 1935-1952 [Nachdruck in 18 Bde. London 1961]; Literatur: Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch. Neunte, vollständig neubearbeitete Auflage, München: C.H. Beck, 2011, S. 211–247; vgl. auch Günter Stemberger, Der Talmud: Einführung, Texte, Erläuterungen, München: C.H. Beck, 1982.
"After his apostasy, Aher asked R. Meir: What is the meaning of the verse: 'Gold and glass cannot equal it; neither shall the exchange thereof be vessels of fine gold' (Hiob 28,17)? He answered: These are the words of the Torah, which are hard to acquire like vessels of fine gold, but are easily destroyed like vessels of glass. Said [Aher] to him: R. Akiba, thy master, did not explain thus, but [as follows]: Just as vessels of gold and vessels of glass, though they be broken, have a remedy, even so a scholar, though he has sinned, has a remedy. [Thereupon, R. Meir] said to him: Then, thou, too, repent! He replied: I have already heard from behind the Veil: Return ye backsliding children — except Aher."