Am Tag des Jüngsten Gerichts werden nach koranischer Vorstellung die in Büchern (kutub) und Blättern (ṣuḥuf) verzeichneten Taten der Menschen Grundlage für deren Beurteilung sein. Diese Vorstellung lässt sich neben zahlreichen Belegen in der christlichen und jüdischen Tradition (vgl. TUK_0130; TUK_0892; TUK_0914; TUK_0915; TUK_1071) auch im zoroastrischen Schrifttum nachweisen (vgl. den Überblick bei Williams Jackson 1895). Bereits in Yasna 31:13-14, einem Teil der Zarathustra zugeschriebenen Ahunauuaitī Gāthā (umfasst Yasna 28-34), wird die Vorstellung artikuliert, dass die Handlungen derjenigen, die dem Pfad der Wahrheit, Aša (siehe dazu Schlehrath and Skjærvø 1987) folgen, ebenso wie die Taten der Anhänger der Lüge, Druj (siehe dazu Kellens 2011), registriert werden (TUK_1303). Diese Idee erscheint in weiteren gāthischen Passagen (Yasna 49:10; 45:8; 34:2, weitere Belege bei Pavry 1926: 49-53), und auch im Jungawesta (Yašt 10:32; Visparad 15:1; Vīdēvdād 19:27-30 (TUK_1392) siehe dazu auch Pavry 1926: 60-71). Darüber hinaus besteht eine weitere Gemeinsamkeit im Fokus auf eine Individual-Eschatologie: Ebenso wie im koranischen Gericht (dīn) "keine Abrechnung mit Völkerschaften, sondern mit dem einzelnen Menschen" (Neuwirth 2010: 438) im Vordergrund steht, sind es die die individuellen Taten des Menschen, die in den zoroastrischen eschatologischen Texten sein Schicksal im Jenseits determinieren. Besonders ausgeprägt erscheint diese Vorstellung im Bild der daēnā, die dem Verstorbenen auf der Činwad-Brücke als Verkörperung seiner Taten entgegentritt (Shaki 1994). Diese Idee, die ihren Ursprung bereits im Avesta (Vīdēvdād 19:30) zu haben scheint, lässt sich bereits im jungawestischen Hadōxt Nask 2:11 (TUK_1346) und in der Inschrift des Hohepriesters Kartīr in in Sar Mašhad (TUK_1263) nachweisen. In der mittelpersischen Literatur der späten Sāsānidenzeit (Ardā Wirāz Nāmag 4:11, Dādestān ī Mēnōg ī Xrad 2:125) findet sich die Vorstellung der daēnā ebenso, wie in der späteren priesterlichen Literatur (Wizīdagīhā ī Zadspram 31:5). Im angegebenen Abschnitt aus dem Ardā Wīrāz Nāmag wird beschrieben, wie Ardā Wīrāz die Činwad-Brücke überschreitet. In der zoroastrischen Eschatologie stellt diese Brücke, welche die Seelen der Verstorbenen in der Morgendämmerung des vierten Tages nach dem Tode zu überschreiten haben, den Ort des vorläufigen Gerichts dar. Die Anzahl der Gottheiten, die dem Tribunal beiwohnen, variiert je nach Text, allerdings steht dem Gericht zumeist Mihr, der Gott des Paktes vor. In den mittelpersischen Texten ist es zumeist der Gott Rašn (siehe dazu Malandra 2013), dem die Rolle zukommt, die guten und schlechten Taten der Seele gegeneinander abzuwiegen (so auch im Dādestān ī Mēnōg ī Xrad 2:218-22). Die Seele der Toten betritt, von Norden kommend, die Brücke, wobei sie nach einem Tribunal entweder nach Süden in das Paradies einzuziehen vermag, oder aber in den unter der Brücke liegenden Höllenschlund stürzt (vgl. Tafażżolī 1991 mit weiterer Literatur).
Das Ardā Wīrāz Nāmag (Das "Buch des Ardā Wīrāz") stellt den bedeutendsten zoroastrischen Beitrag zur Gattung der eschatologischen Literatur dar (vgl. allgemein Gignoux 1986). Strukturell gliedert sich das Werk in vier Teile: Auf eine kontextualisierende Einleitungsequenz (Kapitel 1-3) folgen die ausführlichen Beschreibungen des Paradieses (Kapitel 4-15) und der Hölle (Kapitel 16-100), sowie eine kurze Schlusssequenz (Kapitel 101), die eine zweite Begegnung des Ardā Wīrāz mit Ohrmazd im Paradies schildert (vgl. die ausführliche Zusammenfassung bei Haug and West 1872: LVII_LXII). In der Einleitung wird geschildert, wie Ardā Wīrāz auf Grund seiner Tugendhaftigkeit von den Priestern auserkoren wird, die zoroastrische Glaubenswahrheit durch eine Himmelsreise zu bestätigen. Nachdem die Priester ihm einen narkotisierenden Trank eingeflößt haben, fällt Ardā Wīrāz für sieben Tage und sieben Nächte in diesen Schlaf, bevor er das Bewusstsein wiedererlangt. Bei der Schilderung der Jenseitsreise beschreibt Ardā Wīrāz detailliert die Freuden der Gerechten (vgl. TUK_1389) und die Leiden der Sünder (vgl. TUK_1271). Die Beschreibung der Hölle nimmt dabei den größten Teil des Werkes ein: 84 der 101 Kapitel des Werkes beschäftigen sich mit den Sünden der Hölleninsassen und den korrespondierenden Strafen (Stausberg 2009: 238; Leurini 2002: 214-220).
Alter und Entstehungszeit sind schwer einzugrenzen. In seiner heutigen Form wurde das Werk jedoch erst nach der arabischen Eroberung verschriftlicht, wie die angefügte Einleitung deutlich macht, in der von der Invasion Irans durch die Araber die Rede ist. Martin Haug und Edward W. West betonen die literarische Eigenständigkeit der Apokalypse, die weder jüdische noch christliche Einflüsse aufweise (Haug and West 1872: LVI-LVII) und verorten die Entstehung des Werkes in der Spätphase der Sāsānidenherrschaft (Haug and West 1872: LXXIII). Mary Boyce und Philippe Gignoux datieren die Endredaktion auf das 9. bzw. 10. Jahrhundert (Gignoux 1969; Boyce 1968: 48). Dabei geht Boyce von einem sehr alten Kern des Werkes aus, worauf auch der bereits in den Gāthās vorkommende Name Wīrāz (Yašt 13:101) hinweise (Boyce 1968: 48-49), und auch Faridun Vahman (Vahman 1981: 11) betont, dass die zentralen Teile des Werkes aus der sāsānidischen Zeit stammen. Das Genre der Jenseitsreise, während derer eine bedeutende Person Himmel und Hölle erblickt, und somit die zoroastrische Religion, durch eine transzendente Erfahrung legitimiert, bestätigt ist alt; schon Zarathustra soll nach Vizīdagīhā ī Zādspram 21 in den Himmel aufgefahren sein und auch über den legendären König Vištaspa wird ähnliches berichtet (Dēnkard 7.4:83-86). Der Hohepriester Kartīr (vgl. zu Leben und Wirken Kartīrs Skjærvø 2011), der in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts zu höchster Machtfülle im Sāsānidenreich aufstieg, rühmt sich, eine Jenseitsreise unternommen zu haben, wie aus seinen Inschriften in Naqš-e Raǧab (Skjaervø 1983 u. TUK_1323) deutlich wird. Im Gegensatz zu den Inschriften Kartīrs, die eine physische Jenseitsreise des Hohepriesters beschreiben, findet sich im Ardā Wīrāz Nāmag eine Akzentverschiebung hin zu einer spirituellen Reise der Seele, während der Körper im Diesseits verharrt, statt.
1 pas ān činwad-puhl noh nēzag pahnāy abāz būd
2 man pad abāgīh ī srōš-ahlaw ud ādur-yazad ud pērōzgārīhā be widard ham
3 was pānāgīh ī mihr yazad ud Rašn ī razistag ud wāy (ī) weh ud wahrām yazad (ī) amāwand ud aštād yazad (ī) fret-dādār (ī) gēhān ud xwarrah ī dēn (ī) weh (ī) māzdēsnān ud frawahr ī ahlawān ud abārīg mēnōgān ō man ardā wīrāz naxust namāz burd hēnd u-m dīd man ardā wīrāz Rašn ī rāst kē tarāzūg ī zard ī zarrēn pad dast dāšt ud ahlawān ud druwandān handāzīd.