بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
إِذَا زُلۡزِلَتِ ٱلۡأَرۡضُ زِلۡزَالَهَا |
11 Wenn die Erde heftig bebt |
وَأَخۡرَجَتِ ٱلۡأَرۡضُ أَثۡقَالَهَا |
2 und die Erde ihre Lasten ausstößt |
وَقَالَ ٱلۡإِنسَٰنُ |
3 und der Mensch sagt: |
مَا لَهَا |
„Was ist mit ihr?“ – |
يَوۡمَئِذٍۢ تُحَدِّثُ أَخۡبَارَهَا |
24 an jenem Tag erzählt sie, was sie zu berichten hat, |
بِأَنَّ رَبَّكَ أَوۡحَىٰ لَهَا |
5 denn dein Herr hat es ihr eingegeben; |
يَوۡمَئِذٍۢ يَصۡدُرُ ٱلنَّاسُ أَشۡتَاتًۭا |
36 an jenem Tag kommen die Menschen verstreut heraus, |
لِّيُرَوۡا۟ أَعۡمَٰلَهُمۡ |
damit sie ihre Werke zu sehen bekommen: |
فَمَن يَعۡمَلۡ مِثۡقَالَ ذَرَّةٍ خَيۡرًۭا يَرَهُۥ |
7 Wer das Gewicht eines Staubkorns an Gutem getan hat, der sieht es, |
وَمَن يَعۡمَلۡ مِثۡقَالَ ذَرَّةٍۢ شَرًّۭا يَرَهُۥ |
8 und wer das Gewicht eines Staubkorns an Bösem getan hat, der sieht es. |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
ʾiḏā zulzilati l-ʾarḍu zilzālahā] Ein eschatologisches Beben erwähnen frühmekkanisch noch Q 79:6.7 (yauma tarǧufu r-rāǧifah / tatbaʿuhă r-rādifah), 73:14 (yauma tarǧufu l-ʾarḍu wa-l-ǧibālu wa-kānati l-ǧibālu kaṯīban mahīlā) und 56:4 (ʾiḏā ruǧǧati l-ʾarḍu raǧǧā). Die Vorstellung ist auch in der neutestamentlichen Johannesapokalypse prominent ( Brady 1978 ), s. 11:13: „In diesem Augenblick entstand ein gewaltiges Erdbeben. Ein Zehntel der Stadt stürzte ein und siebentausend Menschen kamen durch das Erdbeben um. Die Überlebenden wurden vom Entsetzen gepackt und gaben dem Gott des Himmels die Ehre.“ (vgl. TUK, Nr. 128) Dass derartige Vorstellungen noch im syrischen Christentum um 500 zirkulierten und den koranischen Hörern folglich durchaus vertraut gewesen sein könnten, belegt u. a. der folgende Passus bei Jakob von Sarūg: „Wundersam ist es zu sagen, wie durch eine Stimme die Erde bebt, die Steine zerspringen, die Berge fallen und die Welt sich neigt.“ ( Bedjan 1910, 853 f. , Übersetzung David Kiltz; zu diesen von Yousef Kouriyhe identifizierten Intertexten vgl. ausführlicher TUK, Nr. 533 und Nr. 534)
wa-ʾaḫraǧati l-ʾarḍu ʾaṯqālahā] Vgl. 82:4 (wa-ʾiḏă l-qubūru buʿṯirat) und 100:9 (ʾa-fa-lā yaʿlamu ʾiḏā buʿṯira mā fĭ l-qubūr); s. a. 84:4 (wa-ʾalqat mā fihā wa-taḫallat) und den mittelmekkanischen Vers 50:44 (yauma tašaqqaqu l-ʾarḍu ʿanhum sirāʿan). Zu einem ähnlichen Passus in den Homilien Jakobs von Sarūg s. die Anmerkung zu 100:9.
yaumaʾiḏin] Vgl. die Anmerkung zu 102:8.
bi-ʾanna rabbaka ʾauḥā lahā] Auch wenn das von ʾauḥā abgeleitete Nomen waḥy bereits gegen Ende der frühmekkanischen Periode speziell prophetische Offenbarungen bezeichnet (vgl. 53:4.10 mit Anmerkung), so bedeutet der Ausdruck doch ursprünglich nur „eingeben“ bzw. „zu einer bestimmten Verhaltensweise motivieren“, vgl. etwa 19:11, wo der mit Stummheit geschlagene Zacharias dem vor dem Tempel wartenden Volk durch Gesten „bedeutet“, ʾauḥā, Gott zu preisen. In diesem Sinn wird ʾauḥā bereits in der vorkoranischen Dichtung gebraucht (s. den bei Izutsu 1964, 158 , zitierten Beleg, wo das Verb die Kommunikation zweier Strausse beschreibt). Im Koran findet sich die Vorstellung einer göttlichen „Eingebung“ an nichtmenschliche Lebewesen in dem spätmekkanischen Vers 16:68, wo von Bienen die Rede ist (wa-ʾauḥā rabbuka ʾilă n-naḥli ʾani ttaḫiḏī mina l-ǧibāli buyūtan wa-mina š-šaǧari wa-mimmā yaʿrišūn; Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 162 ). Zum koranischen Gebrauch von ʾauḥā vgl. allg. Bell 1934, 95 f. – Zum Gottestitel rabb s. die Anmerkung zu 95:8.
ʾaštātan] Paret weist auf Q 19:80.95 und Q 6:94 hin, wo es heißt, die Menschen würden am Jüngsten Tag einzeln (fardan) vor Gott treten ( Kommentar, ad loc. ). Das legt nahe, dass ʾaštātan eher im Sinne von „verstreut, einzeln“ als im Sinne von „in Grüppchen“ zu verstehen ist.
Verszählung: Baṣra, aš-Šām, Mekka und Medina II setzen nach ʾaštātan einen Verstrenner ( Spitaler, Verszählung, 72 ). Der so entstandene Versschluss reimt jedoch nicht mit der Umgebung. Zudem würde eine Satzperiode zerlegt und 6b (li-yurau ʾaʿmālahum) einen unverhältnismäßig kurzen Vers ergeben. Auch das längenmäßige Gleichmaß zwischen den letzten drei Versen, die ja inhaltlich zusammengehören, würde gestört. Es ist deshalb an der kufischen Zählung festzuhalten (so Neuwirth, Studien, 34 ).
li-yurau ʾaʿmālahum] Wie sich die Konfrontation der Auferweckten mit ihren Taten vollzieht, wird näher in der in etwa gleichzeitigen Antithese 101:6–9 ausgeführt, wo von einem Abwägen der Verdienste und Vergehen die Rede ist. – Reimlose Gesätzeinleitungen (vgl. Neuwirth, Studien, 31 ) finden sich auch anderswo, s. 82:6, 80:24.33 und 74:29.
fa-man yaʿmal miṯqāla ḏarratin ḫairan yarah / wa-man yaʿmal miṯqāla ḏarratin šarran yarah] Die Schlussverse setzen das in 101:6–9 ausgeführte Bild der Gerichtswaage voraus (fa-ʾammā man ṯaqulat mawāzīnuh / fa-huwa fī ʿīšatin rāḍiyah / wa-ʾammā man ḫaffat mawāzīnuh / fa-ʾummuhū hāwiyah).
Literaturliste
Die grundlegende szenische Konstellation der Sure wird schon in der streng parallel gestalteten ʾiḏā-Einleitung entworfen: Der Einzelne steht Angesicht zu Angesicht mit den zerstörerischen Geschehnissen des Jüngsten Tages und seiner nun klar zutage tretenden moralischen Leistungsbilanz. Die ersten beiden Verse kündigen an, wie die durch ein Beben erschütterte Erde ihre „Lasten“ (ʾaṯqāl), nämlich die in ihr ruhenden und nun zum Gericht auferweckten Toten, freigibt. V. 2 ist in doppelter Hinsicht von Interesse. Einerseits lässt die Wurzel ṯ-q-l bereits das am Surenende (V. 7.8) erscheinende Motiv des Wiegens bzw. der Klassifizierbarkeit aller diesseitigen Dinge und Taten unter dem Aspekt ihrer Schwere anklingen. Andererseits erinnert das eschatologische „Auswerfen“ von „Lasten“ an eine Geburtsszene ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 162 : „Die durch ein Beben erschütterte Erde gibt in einer Art Geburtsvorgang ihre Lasten frei“). Tatsächlich wird das Weltende in einem syrischen Gedicht Jakobs von Sarūg (450–523) explizit mit einer Geburt verglichen (der von Yousef Kouriyhe identifizierte Text ist ediert in Bedjan 1906, 849 ; Übersetzung David Kiltz; s. Nr. 539): „Dann, aus der Stille, treffen die Erde Wehen, so dass sie niederkniet und verborgene Missetäter gebiert, mit denen sie schwanger war. Die gesamte Erde wimmert vor Schmerzen wie eine Gebärende in ihren Wehen, da sie ununterbrochen in ihr Begrabene hervorbringt. Gräber speien ihre Toten hervor wie Quellen. Die Felsen zersplittern, um Platz für die Mächte zu machen.“ Von einer derartigen eschatologischen Entleerung der Erde ist frühkoranisch noch in 100:9 die Rede. Während sie dort allerdings unmittelbar mit einer korrespondierenden Entleerung der „Brust“ der Menschen – also einer Offenlegung seiner geheimsten Bewusstseinsregungen – verknüpft wird (100:10), rückt Q 99 die Konfrontation des Menschen mit seinen Taten erst einige Verse später, ab V. 6, ins Bild und fokussiert zunächst auf das ungläubige Staunen des Menschen, der angesichts des Aufbrechens der Erde fragt: „Was ist mit ihr?“
V. 4.5 sind nicht nur grammatisch der Nachsatz des mehrgliedrigen ʾiḏā-Satzes V. 1–3, sie lassen sich auch als Antwort auf die in V. 3 wiedergegebene Frage des Menschen „Was ist mit ihr?“ verstehen. Die bereits in V. 1.2 als grammatisches Subjekt figurierende Erde erscheint in V. 4 personifiziert: Sie erstattet „Bericht“ über das, was auf ihr vorgefallen ist. Die in V. 1–4 beschriebene, scheinbar eigenständige Aktivität der Erde wird jedoch gleich im nächsten Vers wieder auf eine entsprechende „Eingebung“ Gottes zurückgeführt; insbesondere V. 2, der zunächst als mythischer Geburtsakt erscheinen konnte, wird so nachträglich auf einen Gehorsamsakt der Erde gegenüber ihrem „Herrn“ reduziert ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 165 ). V. 5 enthält die einzige Erwähnung Gottes in der gesamten Sure.
Wie bereits V. 1–3 verwendet auch der Schlusspassus das Stilmittel des Parallelismus: V. 6 ist parallel zu V. 4 gebaut, und die benachbarten Verse 7 und 8 sind (abgesehen von der einleitenden Konjunktion) bis auf das jeweils vorletzte Wort identisch. Erneut wird die sensorische Evidenz des eschaton betont: Hatte diese in V. 4 einen auditiven Charakter (die Erde erstattet Bericht), so handelt es sich in V. 6–8 um eine visuelle Evidenz: Die Auferstandenen werden das von ihnen vollbrachte Gute und Böse „erblicken“ – alle drei Verse verwenden Formen des Verbs raʾā). Die Schlussverse setzen die in 101:6 ff. Vorstellung einer Gerichtswaage voraus ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 163 , die eine aufs Körnchen genaue Abmessung von guten und bösen Taten erlaubt. Entsprechend wird die Sure von Gewichtsbezeichnungen durchzogen: ʾaṯqāl (V. 2), miṯqāl (V. 7.8), ḏarra (V. 7.8) (auf die Wurzelidentität von ʾaṯqāl in V. 2 und miṯqāl in V. 7.8, welche das erste und letzte Gesätz terminologisch verknüpft, weist auch Cuypers 1999, 35 hin). Die Einsicht der Gerichteten in ihre Tatenbilanz bildet den Schlusspunkt der Sure, eine nähere Bestimmung der sich anschließenden Bestrafung und Belohnung bleibt wie in Q 100 – jedoch anders als in Q 101 – ausgespart. Da das Höllenfeuer jedoch schon in den früheren Suren 102 (V. 6) und 104 (V. 6–9) erwähnt wird, hat diese Aussparung wohl keine chronologische Relevanz (gegen Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 164 ). Sie ist vielmehr in erster Linie als literarisches Mittel zu verstehen. Sowohl die Sure 99 und 100 gemeinsame Abblendung im Moment des Gerichts als auch die nur spärlichen Schlaglichter, die Q 102:6, 104:6–9 oder 101:6–11 auf die jenseitige Vergeltung werfen, heben sich auffällig von den detaillierten Jenseitsschilderungen mittel- und spätmekkanischer Suren ab: Offenbar hat das Jenseits in diesen frühen Korantexten noch den Charakter eines menschliche Rede prinzipiell übersteigenden und deshalb nur mit poetischen Mitteln anzudeutenden Geheimnisses, noch nicht denjenigen deskriptiv auslotbarer Gegenständlichkeit.
Literaturliste
Der von Nöldeke als frühmekkanisch klassifizierte Text berührt sich strukturell und inhaltlich eng mit Sure 101, die ebenfalls eine Antithese als Kulminationspunkt eines vorangehenden eschatologischen Temporalsatzes (mit Nachsatz) enthält, wobei beide Elemente dort noch durch zwei Lehrfragen (V. 1–3 und V. 10.11) gerahmt sind. Inhaltlich variiert Q 99 das auch in Q 101 zentrale Motiv einer endzeitlichen Auflösung der bestehenden Weltordnung, der eine konsequent am moralischen Verdienst ausgerichtete jenseitige Ordnung folgt. Auch zu Q 100 weist die Sure Parallelen auf (vgl. die eschatologische Entleerung der Erde von den in ihr ruhenden Toten in 99:2.6 und 100:9). Bei allen drei Texten handelt es sich um kurze eschatologische Schilderungen (vgl. im Unterschied dazu etwa die ausführlicheren Suren 81 und 82), die sich als Entfaltungen der schon in den kurzen Droh- und Scheltworten Q 95, 102, 103, 104, 107 und 111 angerissenen Thematik des Jüngsten Gerichts verstehen lassen und auch aufgrund ihrer Länge von nur ca. 10 Versen zu Gruppe I zu zählen sind. Interessanterweise lassen sich Q 99 bis 101 im Gegensatz zu den zuletzt angeführten Suren bereits in sehr kurze Gesätze gliedern (vgl. den Kommentar zu Q 101), weisen also bereits auf die dann in Gruppe II eintretende Weiterentwicklung von Aufbau und struktureller Komplexität der Koransuren voraus. Zu den für Gruppe I relativ langen Versen von Q 99 (durchschnittlich 12,6 Silben) im Vergleich mit Q 100 und 101 vgl. den Abschnitt zur Datierung von Q 101.
Die Sure weist keine Indizien sekundärer Zusätze auf und ist folglich als Einheit zu behandeln.
V. 1–6 bilden einen eschatologischen Temporalsatz (V. 1–3 Vordersatz, V. 4–6 zwei Nachsätze), der dann in V. 7.8 in einer Antithese kulminiert. Strukturell und auch reimlich scheint die primäre Zäsur der Sure insofern zwischen V. 6 und 7 zu liegen. Andererseits werden V. 6–8 durch die in allen drei Versen erscheinende Wurzel ʿ-m-l unübersehbar miteinander verknüpft; ein Gesätzauftakt mit reimlosem Anfangsvers begegnet auch sonst gelegentlich (vgl. 82:6 und 80:24.33). Vor diesem Hintergrund ist der Text wohl doch eher 3+2+3 zu gliedern. Michel Cuypers erkennt in der Sure einen konzentrischen Aufbau um V. 5 herum und gliedert den Text in vier einander spiegelbildlich entsprechende Segmente A (V. 1.2), B (V. 3.4), B’ (V. 6), A’ (V. 7.8) ( Cuypers 1999, 35–38 ). Er missachtet damit die eindeutige syntaktisch-formale Zäsur zwischen V. 3.4 (durch yaumaʾiḏin akzentuierter Übergang vom eschatologischen Temporalsatz zum Nachsatz), deren Signifikanz sich leicht anhand anderer eschatologischer Vorgänge verifizieren lässt; überdies erscheint fraglich, ob V. 5 wirklich als das zentrale Element des gesamten Textes – und nicht lediglich als kausale Erweiterung des ersten eschatologischen Nachsatzes V. 4 – anzusehen ist.