بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
إِنَّآ أَنزَلۡنَٰهُ فِی لَيۡلَةِ ٱلۡقَدۡرِ |
1 Wir sandten es herab in der Nacht der Vorherbestimmung. |
وَمَآ أَدۡرَىٰكَ مَا لَيۡلَةُ ٱلۡقَدۡرِ |
2 Was lässt dich wissen, was die Nacht der Vorherbestimmung ist? |
لَيۡلَةُ ٱلۡقَدۡرِ خَيۡرٌۭ مِّنۡ أَلۡفِ شَهۡرٍۢ |
3 Die Nacht der Vorherbestimmung ist besser als tausend Monate. |
تَنَزَّلُ ٱلۡمَلَٰٓئِكَةُ وَٱلرُّوحُ فِيهَا |
4 In ihr steigen die Engel und der Geist herab |
بِإِذۡنِ رَبِّهِم مِّن كُلِّ أَمۡرٍۢ |
mit der Erlaubnis ihres Herrn in jeder Sache. |
سَلَٰمٌ هِیَ حَتَّىٰ مَطۡلَعِ ٱلۡفَجۡرِ |
5 Friede ist sie bis zum Beginn der Morgenröte! |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
Vgl. 44:3–6: ʾinnā ʾanzalnāhu fī lailatin mubārakatin ʾinnā kunnā munḏirīn / fīhā yufraqu kullu ʾamrin ḥakīm / ʾamran min ʿindinā ʾinnā kunnā mursilīn / raḥmatan min rabbika ʾinnahū huwa s-samīʿu l-ʿalīm(„Wir haben ihn in einer gesegneten Nacht herabgesandt …, / in der lauter weise Verfügungen getroffen werden“). Die Verse lesen sich wie eine Paraphrase der einleitenden Offenbarungsbestätigung 97:1, welche den Terminus lailat al-qadr, „die Nacht der Bestimmung“ durch die Charakterisierung „eine gesegnete Nacht, in der lauter weise Verfügungen getroffen werden“ ersetzt. Q 44:3 hält wie 97:1 fest, dass „es“ (die koranischen Offenbarungen, s. Anm. zu V. 1) „in einer gesegneten Nacht herabgesandt“ worden sei; 44:4–6 schließen dann wie 97:3–5 eine nähere Bestimmung dieser Nacht an, wobei in beiden Passagen der Ausdruck ʾamr erscheint (in Q 44 sogar zweimal, nämlich in V. 4 und 5). – Zu phonologischen Aspekten der Sure vgl. Sells 1991 .
ʾinnā ʾanzalnāhu] Zum ʾinnā-Einsatz der Sure vgl. noch Q 108. Das Verb ʾanzala erscheint frühmekkanisch nur noch in 78:14 und 56:69 (Gruppe IIIa und IIIb), allerdings im Zusammenhang mit Gottes „Herabsendung“ von Wasser; 53:23 (mā ʾanzala llāhu bihā min sulṭānin), wo ʾanzala wie im vorliegenden Vers im Sinne von „offenbaren“ verwendet wird, ist ein späterer – wohl nicht mehr frühmekkanischer – Einschub. Zumindest die zugrunde liegende Wurzel n-z-l tritt jedoch in drei gegen Ende der frühmekkanischen Zeit zu verortenden Stellen (Gruppe IIIb) noch einmal in prophetologischem Zusammenhang auf: In 69:43 und 56:80 (tanzīlun min rabbi l-ʿālamīn) findet sich zum ersten Mal die später häufige Bezeichnung der Botschaftsübermittlung als tanzīl, und in 53:13 ist in einer Visionsbeschreibung von der „Herabkunft“ (nazla) Gottes die Rede. Die Verwendung von n-z-l für den Offenbarungsvorgang intensiviert sich im Folgenden deutlich, wobei jetzt auch wieder das Verb ʾanzala gebraucht wird: In mittel- und spätmekkanischer Zeit stehen ʾinnā-ʾanzalnā-Aussagen häufig in der Sureneinleitung (12:2, 39:2, 44:3), üblicherweise nach einer Bezeichnung des Vorgetragenen als tanzīl oder tanzīl al-kitāb (s. allg. Wild 1996). Obwohl 97:1 unter Voraussetzung der weiter oben vertretenen Datierung die erste koranische Verwendung von ʾanzala im Sinne von „offenbaren“ darstellen dürfte, avanciert das Verb also erst mit gewisser Verzögerung zu einem zentralen koranischen Terminus.
Über die Vorgeschichte dieser offenbarungstheologischen Verwendungsweise von n-z-l lassen sich vorerst nur Hypothesen anstellen. Die Entwicklung des Bildes von der göttlichen ‚Herabsendung’ der koranischen Offenbarungen mag zunächst eine Neubesetzung des älteren mythischen Paradigmas von den mit übernatürlicher Rede auf die Dichter ‚herabkommenden’ Ǧinnen gewesen sein, also keineswegs eine spontane theologische Begriffsschöpfung des Koran: Noch in 26:221 ff. ist – kontrastiv zum tanazzul der Engel in Q 97 – von einem tanazzul der šayāṭīn die Rede, womit wohl polemisch die Unterstellung einer Ǧinn-Inspiration des Propheten abgewehrt wird (vgl. a. 69:40 ff., wo dieselbe Vorstellung im Hintergrund des Vorwurfs, Muḥammad sei ein Dichter oder Wahrsager, steht). Dieser vor-islamische Kontext dürfte das frühe Verständnis des tanzīl-Begriffs zumindest mitgeprägt haben (vgl. Abū Zaid 1990, 38–40 ). Andererseits wird in Ephrems „Hymnen auf die Geburt des Herrn“ von den Engeln das dem arabischen ʾanzala entsprechende syrische Verb naḥḥet gebraucht: Die Engel „haben neue Lobgesänge herabkommen lassen“, heißt es dort ( Beck 1959a, 104 f., Nr. 21:3 ; Übersetzung nach Beck 1959b, 94 f. ; zu diesem von Yousef Kouriyhe identifizierten Intertext s. ausführlicher TUK, Nr. 147 ). Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass die Semantik von koran. ʾanzala bzw. tanazzala (V. 4) teilweise auch von solchen christlichen Referenzen bestimmt war.
Zum bezuglosen Suffix in ʾanzalnāhū vgl. die folgenden frühen koranischen Selbstbeschreibungen, die ebenfalls frei schwebende, d. h. nicht auf ein vorangehendes Bezugswort verweisende Suffixe oder Demonstrativa verwenden: 69:40–43 (ʾinnahū la-qaulu rasūlin karīm ...), 73:19 (ʾinna hāḏihī taḏkiratun), 74:54.55 (kallā ʾinnahū taḏkirah / fa-man šāʾa ḏakarah), 77:50 (fa-bi-ʾayyi ḥadīṯin baʿdahū yuʾminūn), 81:19.25 (ʾinnahū la-qaulu rasūlin karīm, wa-mā huwa bi-qauli šaiṭānin raǧīm), 86:13.14 (ʾinnahū la-qaulun faṣl / wa-mā huwa bi-l-hazl). In 44:3 (s. o., Anm. zu V. 1–5) verweist das Suffix von ʾanzalnāhu wohl auf das im vorangehenden Vers 2 als Schwurgegenstand genannte „klare Buch“. In der medinensischen Stelle 22:16 steht ʾanzalnāhu wie in Q 97 ohne vorangehendes Bezugswort, muss sich jedoch auf die koranischen Offenbarungen beziehen. Auch sonst treten als Objekt von ʾanzala üblicherweise göttliche Offenbarungen auf. Das Objektsuffix in Q 97 ist deshalb mit Sicherheit nicht auf den Erzengel Gabriel zu beziehen, wie manche islamischen Kommentatoren meinen (vgl. Sells 1991, 244, mit Anm. 15 ). Noch unwahrscheinlicher ist angesichts der generellen koranischen Verwendung von ʾanzala die von Luxenberg 2003 vorgeschlagene Beziehung des Suffixes auf das Jesuskind. In europäischen Übersetzungen wird das Pronomen üblicherweise mit „dem Koran“ identifiziert (vgl. etwa Parets Übersetzung des Verses). Nimmt man jedoch für Q 97 einen frühmekkanischen Entstehungszeitpunkt an (s. o.), so ist zweifelhaft, ob das Korpus der von Muḥammad verkündeten Offenbarungen bereits zu diesem Zeitpunkt als „der Koran“ bezeichnet wurde (Q 84:21 spricht zwar davon, dass „der qurʾān vorgetragen wird“, aber hier hat qurʾān wohl noch nicht den Status eines Eigennamens erlangt, sondern bedeutet lediglich „Lesung, Rezitation“; dasselbe gilt für 73:4, wa-rattili l-qurʾāna tartīlā). An Stellen wie 74:54 oder 86:13.14 lässt sich das frei schwebende Pronomen als metatextueller Verweis auf die jeweils vorliegende Einzelsure oder sogar nur auf das jeweils Vorhergehende lesen (so Sinai 2006, 110 ), doch ist eine solche Deutung in Q 97 kaum durchführbar, da das Pronomen hier nicht am Ende einer Sure oder zumindest eines Surenabschnitts begegnet, auf die oder den es sich beziehen könnte. Gemeint ist deshalb vermutlich in allen Fällen das koranische Offenbarungsgeschehen insgesamt bzw. die Gesamtmenge der von Muḥammad bis dato empfangenen Offenbarungen. Der ursprüngliche Grund für den Gebrauch solcher ‚schwebenden’ pronominalen Referenzen könnte gerade darin gelegen haben, dass zu Beginn der frühmekkanischen Zeit noch kein etablierter Eigenname für die von Muḥammad vorgetragenen Texte zur Verfügung stand. – Ob Q 97 sagen will, dass alle bis dato vorliegenden Korantexte in einer einzigen Nacht herabgesandt wurden, oder ob es lediglich um den Beginn des Herabsendungsprozesses geht, muss offen bleiben. Doch da die koranischen Texte einer späteren Aussage zufolge nicht „auf einmal“ (ǧumlatan wāḥidatan, 25:32), sondern ‚in Serie’ verkündet wurden, ist es prima facie wahrscheinlicher, dass der Beginn der „Herabsendung“ der Korantexte intendiert ist (vgl. Sells 1991, 244, Lohmann 1969, 277 f. ).
lailat al-qadr] Luxenberg 2003 fasst arab. qadr als Übersetzung von syr. ḥelqā („Los, Schicksal“) auf; da ḥelqā im Sinne von „Schicksal“ gelegentlich synonym mit der Wendung bēṯ yaldā („Geburt“ bzw. „Geburtshoroskop“) gebraucht wird, was wiederum die im Syrisch-Aramäischen übliche Bezeichnung für „Weihnachten“ ist, schließt er, mit der koranischen lailat al-qadr müsse die Weihnachtsnacht gemeint sein. Nun ist Bedeutungsgleichheit allerdings keine notwendigerweise transitive Relation, d. h. aus der Tatsache, dass A und B sowie B und C bedeutungsgleich sind, folgt nicht, dass auch A und C bedeutungsgleich sein müssen („Bauer“ ist sowohl synonym mit „Landwirt“ als auch mit „Vogelkäfig“, woraus jedoch nicht folgt, dass ein Landwirt ein Vogelkäfig ist). Eine ernst zu nehmende Hypothese wäre Luxenbergs Deutung also allenfalls dann, wenn er konkrete Belege dafür beibringen könnte, dass es eine syrische Wendung lelyā ḏ-ḥelqā gibt, die wie das geläufige bēṯ yaldā zur Bezeichnung der Weihnachtsnacht dient. Den Nachweis dafür bleibt Luxenberg, der sich auf eine Konsultation syrischer Wörterbücher beschränkt, jedoch schuldig.
Die Deutung der Wendung hat deshalb sinnvollerweise bei einem Überblick über den koranischen Gebrauch der Wurzel q-d-r anzusetzen, wie ihn Ambros, Dictionary, 220 f. , bietet: Qadara bedeutet u. a. „einschätzen“ (etwa 6:91: mā qadarŭ llāha ḥaqqa qadrihī, „sie haben Gott nicht richtig eingeschätzt“), aber auch „begrenzen“ (vgl. die Wendung yabsuṭu r-rizqa li-man yašāʾu wa-yaqdiru, etwa in 13:26), „zuteilen“, „zumessen“ (so in 77:22.23), gelegentlich sogar „festlegen“ oder sogar „vorherbestimmen“ (54:12: ʿalā ʾamrin qad qudira, „wie es festgelegt bzw. vorherbestimmt war“). Letztere Bedeutung wird insbesondere von qaddara im zweiten Stamm transportiert (vgl. 15:60, wo es von Lots Frau heißt: ʾillă mraʾatahū qaddarnā ʾinnahā la-mina l-ġābirīn, „wir haben vorherbestimmt, dass ...“). Das Substantiv qadr, das als Verbalsubstantiv zu qadara prinzipiell alle Bedeutungen des Verbs besitzen kann, erscheint außer in Q 97 nur noch zweimal im Koran, einmal als inneres Objekt in der bereits erwähnten Stelle 6:91 (im Sinne von „Einschätzung“), das zweite Mal in 65:3 im Sinne von „Maß“ (qad ǧaʿala llāhu li-kulli šaiʾin qadrā, „Gott hat allem ein qadr gesetzt“). 97:1.2 ist wohl nicht mit diesen beiden Vorkommnissen von qadr zusammenzustellen, sondern eher mit qadar in Stellen wie 33:38 (wa-kāna ʾamru llāhi qadaran maqdūrā, „Gottes Befehl ist eine vorherbestimmte = ausgemachte Sache“), vgl. Ambros, Dictionary, 220 : „prob. qadr and qadar are to be considered merely as variants of one lexeme; the meanings listed for each word are somewhat artificially differentiated and tend to overlap.“ Lailat al-qadr ist also wohl die „Nacht der Vorherbestimmung“. Wagtendonk 1968, 83 ff. übersetzt „night of the measuring-out“, worunter er keine Schicksals-, sondern eine zyklisch wiederkehrende Gerichtsnacht verstehen will ( ebd., 85 ). Überzeugende Argumente hierfür vermag er jedoch nicht beizubringen, zumal die Sure keinerlei drohende Untertöne aufweist, sondern im Gegenteil den friedvollen Charakter der lailat al-qadr hervorhebt (was auch Wagtendonk selbst zugibt, vgl. ebd., 86 ). Die ebenfalls denkbare Übersetzungsalternative „Nacht der Macht“ kann sich zwar auf die Wendung qādir ʿalā (von Gott) = „imstande zu“ (etwa in 86:8) stützen, ist aber sachlich weniger wahrscheinlich. Gegen sie spricht vor allem 44:3–6, wo es heißt, in der „gesegneten Nacht“, in der „es“ herabgesandt wurde, würde „jegliche weise Angelegenheit entschieden“ (ʾinnā ʾanzalnāhu fī lailatin mubārakatin ʾinnā kunnā munḏirīn / fīhā yufraqu kullu ʾamrin ḥakīm). Hier ist also ganz deutlich von einer Schicksalsnacht die Rede. Zwar handelt es sich bei Q 44 um einen mittelmekkanischen, also späteren Text; doch gibt es zumindest prima facie keine Anhaltspunkte, dass dieser nicht einfach als Explikation von bereits in Q 97 vorausgesetzten Vorstellungen, sondern als regelrechte Umdeutung der früheren Sure aufzufassen ist. Für diesen Befund spricht einerseits die Bezeichnung lailat al-qadr selbst, die sich zwanglos im Sinne von 44:3–6 verstehen lässt. Eine Interpretation von 97:1 im Sinne von 44:3–6 wird darüberhinaus auch durch die Tatsache nahegelegt, dass Sure 97 in ihrer ursprünglichen Fassung (d. h. ohne V. 4) lediglich lehrt, in der offenbar bereits bekannten lailat al-qadr hätten die koranischen Offenbarungen eingesetzt; worauf sich der besondere Status dieser – anscheinend bereits vor ihrer Verknüpfung mit dem Koran sakral bedeutungsvollen – Nacht gründet, wird offengelassen und als den Hörern bekannt vorausgesetzt (so auch Wensinck 1925, 1 f. ). Erst die spätere Passage 44:3–6 nimmt dann nachträglich dieses Vorverständnis der Hörer in das koranische Korpus selbst auf.
Bei der lailat al-qadr dürfte es sich also um ein den Adressaten des Koran vertrautes, im altarabischen Kultus beheimatetes Fest handeln, dem vermutlich die in verschiedenen Kulturen anzutreffende Vorstellung zugrunde liegt, dass sich in einer bestimmten Nacht oder auch einer Periode von mehreren Tagen das Schicksal der Menschen im folgenden Jahr entscheidet, weil die betreffende Zeitspanne das gesamte folgende Jahr präfiguriert (vgl. Wensinck 1925 und die darauf bezügliche Zusammenfassung und Kritik bei Wagtendonk 1968, 98–105 ; s. a. Lohmann 1969 ). Obwohl Wagtendonks medinensische Datierung der Sure alles andere als belastbar ist (s. o.), so können seine Überlegungen zum ursprünglichen Datum der lailat al-qadr durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Ihm zufolge ist die altarabische lailat al-qadr nicht im Ramaḍān zu verorten, der erst in medinensischer Zeit sakralen Status erhält (vgl. 2:185) und innerhalb desselben unter islamischen Autoren überdies keine Einstimmigkeit über den genauen Zeitpunkt der fraglichen Nacht besteht, sondern im Raǧab, der in vorislamischer Zeit den heiligen Monat schlechthin darstellte ( Wellhausen 1897 , 98). Als Datum kommt seiner Meinung nach am ehesten der 27. Raǧab in Frage ( Wagtendonk 1968, 106–108 ), ein alter mekkanischer Festtag (vgl. Snouck Hurgronje 1889, 70 f. ), der im späteren islamischen Festkalender als die Nacht von Muḥammads Himmelfahrt (lailat al-miʿrāǧ) gefeiert wird. Die Tatsache, dass die lailat al-qadr später in den Ramaḍān verlegt wird, erklärt Wagtendonk als Resultat einer Harmonisierung von Sure 97 mit dem späteren Vers 2:185, demzufolge „der Koran“ im Ramaḍān herabgesandt worden sei.
lailatu l-qadri ḫairun min ʾalfi šahr] Vgl. im Koran 70:4 (taʿruǧu l-malāʾikatu wa-r-rūḥu ʾilaihi fī yaumin kāna miqdāruhū ḫamsīna ʾalfa sanah) und den Kommentar dazu; s. a. spätmekkanisch 32:5. Die Vorstellung von einer auch durch noch so umfangreiche profane Zeitabschnitte nicht in ihrer Wertigkeit zu überbietenden Gotteszeit ist, wie Neuwirth hervorhebt ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 99 f. ), bereits in biblischer Literatur nachweisbar, vgl. Psalm 84:11 („Denn ein Tag in den Vorhöfen deines Heiligtums ist besser als tausend“), und 90:4 („Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht“; vgl. Speyer, Biblische Erzählungen, 449 ). In Ephrems Hymnen auf die Geburt wird dieses Motiv speziell mit der Weihnachtsnacht in Verbindung gebracht ( Beck 1959a, 104 f., Nr. 21:2 ; Übersetzung in Beck 1959b, 94 f. ): „Wollen wir nicht unser (heutiges) Wachen für ein alltägliches Wachen halten! – Es ist ein Fest, dessen Lohn hundertmal größer ist ...“ (zu diesem von Yousef Kouriyhe identifizierten Intertext s. ausführlicher TUK, Nr. 147). Die Tatsache, dass im vorliegenden Vers von tausend Monaten die Rede ist, erklärt Wagtendonk 1968, 97 f. , damit, dass die lailat al-qadr mit einem spezifischen Monat, nämlich dem heiligen Monat Raǧab, assoziiert war (s. Anm. zu V. 1). – Angesichts der angeführten psalmischen Parallelen erübrigt sich Luxenbergs Konjunktur, šahr sei nicht im Sinne von „Monat“, sondern im Sinne von syr. šahrā („Vigilie“) zu lesen ( Luxenberg 2003 ), zumal sich diese Deutung für keine der übrigen koranischen Verwendungen von šahr plausibel machen lässt und insofern einen methodologisch problematischen ad-hoc-Charakter hat.
Versabteilung: Die damaszenische und mekkanische Tradition setzen nach qadr einen Versschluss an ( Spitaler, Verszählung, 71 ). Diese Versabteilung ist wohl darauf zurückzuführen, dass auch die beiden vorangegangenen Verse auf qadr enden. Allerdings ergeben sich dabei zwei unverhältnismäßig kurze Verse mit für den Koran untypischem Enjambement, weshalb die kufische Zählung vorzuziehen ist ( Neuwirth, Studien, 34 ).
tanazzalu l-malāʾikatu wa-r-rūḥu fīhā] Zu tanazzala vgl. die Hinweise zu V. 1 (ʾanzala). Das Bild von der Herabkunft der Engel geht letztlich auf die biblische Erzählung von der Jakobsleiter (Genesis 28:10–19) zurück, auf der die Engel auf- und absteigen: „Jakob zog aus Beerscheba weg und ging nach Haran. / Er kam an einen bestimmten Ort, wo er übernachtete, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. / Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. / Und siehe, der Herr stand oben und sprach: ...“ (s. schon Ahrens 1930 ; zu weiteren Literaturangaben vgl. TUK, Nr. 171). Es handelt sich dabei um ein einprägsames und vermutlich auch außerhalb jüdisch-christlicher Kreise bekanntes Motiv, das auch in 70:4 erscheint (s. die Anmerkung ebd.).
ar-rūḥ] Das Wort erscheint in der vorkoranischen Dichtung, jedoch nicht in der koranischen Bedeutung einer übernatürlichen, engelhaften Wesenheit (vgl. Sells, „Spirit“, EQ ). Die koranische Semantik des Wortes ist offensichtlich durch syrische Interferenzen bestimmt: syr. rūḥā d-qūdšā bzw. rūḥā qaddīšā ist der „Heilige Geist“ (vgl. Brockelmann 1928, 718 ), der dem nizänisch-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis zufolge „durch die Propheten spricht“ (vgl. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 101 ). Zum rūḥ existiert eine ganze Reihe koranischer Aussagen, von denen hier nur die wichtigsten kurz aufgeführt werden sollen (da V. 4 ein späterer Einschub sein dürfte, erscheint dabei eine Beschränkung auf frühmekkanische Parallelstellen nicht sinnvoll):
Daneben existieren Stellen wie 21:91, die den rūḥ nicht als selbstständig agierendes Wesen aufzufassen scheinen (über Maria: fa-nafaḫnā fīhā min rūḥinā).
min kulli ʾamrin] Überliefert wird auch die Lesung min kulli mriʾin ( Muʿǧam, ad loc. ), „über jeden Mann“, wobei es sich aber wohl um einen nachträglichen Vereinfachungsversuch handelt. Paret versteht min kulli ʾamrin als partitive Apposition zu „die Engel und der Geist“ und übersetzt „lauter Logoswesen“. Um seine Deutung zu beurteilen, ist ein kurzer Überblick über den koranischen Gebrauch von ʾamr erforderlich (vgl. Ambros, Dictionary, 27 f. ; vgl. allg. Baljon 1959). Das Wort bedeutet zunächst „Angelegenheit, Sache“ (u. a. in Verbindung mit qaḍā, vgl. 2:210, 6:8.85, 40:68) oder „Befehl“ (insb. in der Wendung bi-ʾamrihī, „auf seinen Befehl“). In verschiedenen spätmekkanischen Koranstellen wird der Ausdruck jedoch in Verbindung mit dem Verb dabbara auf eine Weise gebraucht, die an die targumische Vorstellung von einem als Mittler zwischen Gott und Schöpfung fungierenden göttlichen „Wort“ (מאמרא, mit derselben Wurzel wie ʾamr; vgl. Speyer, Biblische Erzählungen, 24 f. ) erinnert: In 10:3.31, 13:2 und 32:4.5 ist die Rede davon, dass Gott, nachdem er sich im Anschluss an sein Schöpfungswerk auf dem „Thron“ niedergelassen hat (10:3, 13:2, 32:4) „den ʾamr führt“, yudabbiru l-ʾamra, und zwar, wie 32:5 hinzufügt, „vom Himmel zur Erde, worauf er (der ʾamr) wieder zu ihm hinaufsteigt an einem Tag, dessen Länge nach eurer Rechnung tausend Jahre beträgt“, yudabbiru l-ʾamra mina s-samāʾi ʾilă l-ʾarḍi ṯumma yaʿruǧu ʾilaihi fī yaumin kāna miqdāruhū ʾalfa sanatin mimmā taʿuddūn (dabbara hat in diesen Kontexten dieselbe Bedeutung wie syr. dabbar = „führen“, „leiten“, welche sich von arab. dubur = „Rücken, Hinterteil“ – so in 12:25.27.28, 45:54 u. a. – und ʾadbara, „den Rücken kehren“ – so in 70:17, 74:23.33 etc. – nicht gut ableiten lässt). Hier ist der ʾamr offenbar ein dem targumischen memrā verwandtes hypostaseähnliches Wesen, welches sich räumlich verorten lässt. Dabei ist der koranische ʾamr jedoch nicht ohne weiteres mit griech. logos gleichzusetzen: Logos als christologischer Hoheitstitel, wie er auf die Eröffnungspassage des Johannes-Evangeliums zurückgeht, wird im Koran, wie Hubert Grimme bemerkt hat, nicht mit ʾamr, sondern mit kalimat Allāh wiedergegeben ( Speyer, Biblische Erzählungen, 24 f. ), sodass die beiden lexikalisch und auch in ihrer theologischen Funktion verwandten Ausdrücke מאמרא / logos in koranischer Terminologie auseinanderfallen; Parets Übersetzung von yudabbiru l-ʾamra mit „den Logos dirigieren“ verdeckt dies.
Zumindest in 10:3, 13:2, 32:4.5 weist der koranische Gebrauch von ʾamr also durchaus Konnotationen des targumischen מאמרא auf. Damit ist allerdings noch nicht ausgemacht, dass dies auch für 97:4 gilt und Parets Übersetzung von min kulli ʾamrin mit „lauter Logoswesen“ korrekt ist. Tatsächlich ist im vorliegenden Vers weder die Rede davon, dass Gott sich nach der Weltschöpfung auf dem Thron niederlässt, noch wird ʾamr hier mit dem Verb dabbara kombiniert. Viel eher ist 97:4 vom Sprachgebrauch her mit 44:4 zusammenzustellen, wo ebenfalls im Zusammenhang mit der lailat al-qadr (dort: eine „gesegnete Nacht“) die Worte kull + ʾamr auftauchen: 44:4 zufolge wird in dieser Nacht „jede weise Angelegenheit [kullu ʾamrin ḥakīm, Paret: jede Angelegenheit, die Weisheit erfordert] entschieden“. Min kulli amrin ist deshalb wohl im Sinne von „in jeglicher Angelegenheit, Sache“ zu verstehen bzw. „in jedwedem Auftrag (Gottes)“, wobei min für das geläufigere fī stünde ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 102 ): Alles, was die Engel und der Geist tun, untersteht einer vorgängigen Erlaubnis Gottes, sie sind nicht eigenmächtig aktiv. ʾAmr in Verbindung mit der Präposition min erscheint noch in der Wendung min ʾamrihī aus 16:2 und 40:15, die gleichfalls in Verbindung mit den Engeln und dem „Geist“ verwendet wird (16:2: yunazzilu l-malāʾikata bi-r-rūḥi min ʾamrihī ʿalā man yašāʾu min ʿibādihī, 40:15: yulqĭ r-rūḥa min ʾamrihī ʿalā man yašāʾu min ʿibādihī). In diesen beiden Stellen ist min vielleicht kausal zu verstehen (vgl. Wright, Bd. 2, 131 ) und min ʾamrihī im Sinne von „aufgrund seiner Verfügung“: „Er sendet die Engel mit dem Geist aufgrund seiner Verfügung, min ʾamrihī, herab, auf wen unter seinen Dienern er will“ (16:2). Für 97:4 ergäbe sich analog dazu eine Deutung von min kulli ʾamrin im Sinne von „aufgrund von lauter (göttlichen) Verfügungen, Aufträgen“ (vgl. die von Baljon 1959, 11 f. vorgeschlagene Übersetzung „by virtue of every decree“): „In ihr steigen herab die Engel und der Geist mit der Erlaubnis ihres Herrn aufgrund von / wegen lauter Verfügungen“ (zu kull + indeterminiertes Substantiv im Singular = „lauter“ vgl. Wright, Bd. 2, 205, Anm. ). Sachlich wäre dasselbe wie in der vorigen Übersetzungsalternative gemeint: Die Engel und der Geist steigen nicht eigenmächtig herab, sondern aufgrund vorgängiger göttlicher Verfügungen.
Einen Bezug zwischen ʾamr und aramäisch memrā stellt übrigens auch Luxenberg 2003 her, der ʾamr dabei jedoch im Sinne der syrischen Bedeutung von memrā („Hymnus“) verstehen will – ein durch keinerlei innerkoranische Belege gedecktes ad-hoc-Postulat, das vor allem dazu dient, seine Umdeutung von Sure 97 zu einem arabischen Weihnachtshymnus zu stützen (vgl. a. die Anm. zu V. 1 und 3 mit weiteren kritischen Kommentaren zu Luxenbergs Interpretation des Textes).
salāmun hiya ḥattā maṭlaʿi l-faǧr] „The idea of the night being ‚peace’ recalls descriptions of the Eve of the Nativity“ ( Bell, Commentary, ad loc. ). Vermutlich denkt Bell dabei vor allem an den Hymnus der Engel aus Lukas 2:14: „Lob sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade“ (vgl. auch Luxenberg 2003 , allerdings ohne Verweis auf Bell). Der friedvolle Charakter der Weihnachtsnacht wird auch in Ephrems „Hymnen auf die Geburt des Herrn“ hervorgehoben ( Beck 1959a, 11, 1:88.91 ; Übersetzung in Beck 1959b, 10 ; zu diesem von Yousef Kouriyhe identifizierten Intertext vgl. ausführlicher TUK, Nr. 150): „Dies ist die Nacht der Versöhnung; in ihr finde sich keiner (mit) erzürntem und finsterem (Blick). – In dieser alles befriedenden Nacht finde sich keiner, der droht und lärmt! / [...] An diesem milden Tag lasst uns nicht heftig sein! – An diesem friedlichen Tag lasst uns nicht zornig sein!“
Literaturliste
Die Sure setzt wie Sure 108 „mit einer für den Verkünder persönlich relevanten innā-Aussage ein“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 102 ), also in dem die Sure insgesamt autorisierenden Register göttlicher Wir-Rede. Während die Trostsuren Q 93, 94 und 108 jedoch der Person Muḥammads zuteil gewordene Gnadenerweise rekapitulieren, geht es hier um die durch ihn vorgetragenen Offenbarungen, deren Empfang als in der lailat al-qadr beginnend vorgestellt wird (vgl. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 102 ). In diesem Zusammenhang gebraucht die Sure erstmals das ab mittelmekkanischer Zeit so häufige Verb ʾanzala, „herabsenden“, das sowohl altarabische als auch christliche Konnotationen transportiert haben könnte (s. o., Anmerkungen).
Was es mit der lailat al-qadr selbst auf sich hat, wird offenbar als den Hörern bekannt vorausgesetzt: Neben der Aussage, dass in ihr die koranischen Offenbarungen „herabgesandt“ worden seien, enthält die Sure in ihrer ursprünglichen Gestalt nur zwei hymnische Qualifikationen dieser Nacht, welche ihre besondere Wertigkeit gegenüber profanen Zeiträumen und den in ihr herrschenden Frieden evozieren (V. 3.5); der eigentliche Grund für den herausgehobenen Status der Nacht wird nicht genannt. Eine mittelmekkanische Sure (44:3–6) beschreibt die Nacht der Koranoffenbarung – also die lailat al-qadr – als eine Schicksalsnacht, in der Gott das Ergehen der Geschöpfe im nächsten Jahr entscheidet. Ähnliche Vorstellungen sind wohl bereits in altarabischer Zeit vorauszusetzen und dürften deshalb im Hintergrund von Q 97 stehen, sie stellen das Thema dar, welches mit dem Rhema ‚lailat al-qadr als Offenbarungszeitpunkt’ verknüpft wird (dies passt im Übrigen dazu, dass der koranische Offenbarungsvorgang sich auch anderswo nachts zu vollziehen scheint, vgl. Q 73). Die lailat al-qadr wird so offenbarungstheologisch neu gefüllt – eine „Umwertung“ altarabischer Überlieferungen, welche der „theologischen Neudeutung mekkanischer Lokaltraditionen bzw. lokalen Institutionen“ in Q 105 und 106 analog ist ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 105 ).
Damit thematisieren die koranischen Verkündigungen zum ersten Mal selbstreferentiell ihre eigene Herkunft. Sure 97 stellt insofern den Vorläufer von koranischen Selbstbeschreibungen wie 81:26–28, 84:20.21 und 86:13.14 (Gruppe II) und 74:54 und 75:16–19 (Gruppe IIIa) dar; diese entwickeln sich dann zur Binnenform der koranischen Offenbarungsbestätigung weiter, wie sie später häufig am Ende mehrteiliger Suren zum Einsatz kommt. (Eine analoge Entwicklung, bei der sich eine zunächst selbstständige auftretende literarische Form zu einer Teilform innerhalb eines umfassenderen Kompositionszusammenhanges entwickelt, lässt sich auch im Bereich des Narrativen beobachten: Die Strafzyklen im Mittelteil von Suren wie Q 37, 51 und 54 dürften letzten Endes auf eine Verkettung von nach dem Vorbild von Q 105 gestalteten Einzelerzählungen zurückgehen, wobei die Aneinanderreihung von Einzelstoffen zu Erzählzyklen wohl Straflisten wie in Q 85:17.18 und Q 89:6–10 zu verdanken ist.)
Die in der Anfangsaussage genannte lailat al-qadr wird im zweiten Vers Anknüpfungspunkt einer Lehrfrage, auf die in der ursprünglichen Fassung ein biblisch geprägter Vergleich der betreffenden Nacht mit profanen Zeitabschnitten (V. 3) und ein Schlussruf (V. 5) folgt. Der Schlussvers könnte christliche Assoziationen erweckt haben; die lailat al-qadr wäre dann hier auf eine Weise charakterisiert, die sie in bewusste Konkurrenz zum Weihnachtsfest setzen würde.
Möglicherweise wurde die Beantwortung der Lehrfrage nach der lailat al-qadr durch zwei hymnische Qualifikationen in V. 3.5 nicht als befriedigende Auflösung der durch V. 2 aufgebauten Spannung empfunden ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 103 ). Der später eingeschobene Vers 4 liefert weitere Angaben über die besondere Beschaffenheit der lailat al-qadr und erfüllt so die „im ursprünglichen Text offengebliebene Hörererwartung nach dem konkreten Szenario der in V. 1 angesprochenen Botschaftsvermittlung“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 105 ). Die lailat al-qadr zeichnet sich durch eine besondere „kosmische Öffnung“ aus, eine Durchlässigkeit, die es den Engeln und „dem Geist“ (ar-rūḥ) gestattet, vom Himmel auf die Erde hinabzusteigen ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 104 ). Es ist diese Möglichkeit eines ungehinderten Kommunikationsflusses, welche die lailat al-qadr zur Übermittlung von Offenbarungsbotschaften prädestiniert. Dabei trägt die Erwähnung des rūḥ der Tatsache Rechnung, dass dieser in mittel- und spätmekkanischer Zeit explizit als Offenbarungsmittler genannt wird (16:2.102, 26:193 und 40:15) ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 105 ). Zumindest das Herabsteigen des „Geistes“, und damit wohl auch das der in Konjunktion mit ihm erscheinenden Engel, dient also speziell der Übermittlung der von Muḥammad empfangenen Offenbarungen.
Der Einschub klärt also die durch die Aussage des Eingangsverses aufgeworfene Frage nach der Modalität der Offenbarungsübermittlung. Er tut dies, indem er die lailat al-qadr mit dem biblischen Motiv der auf der Jakobsleiter auf- und absteigenden Engel verknüpft, wie es – wohl zu einem früheren Zeitpunkt – auch nachträglich in Sure 70 eingeschaltet wurde (V. 4). Zumal in Verbindung mit dem an Lukas 2:14 anklingenden V. 5 dürfte der Einschub jedoch auch eine neutestamentlich-christliche Assonanz besessen haben, insofern die Geburt Christi in der lukanischen Weihnachtsgeschichte (2:9 ff.) durch die Geburt von Engeln begleitet wird. Die koranische lailat al-qadr ist also nicht einfach mit Weihnachten zu identifizieren (so Luxenberg 2003 ), sondern die Sure setzt dem christlichen Gründungsereignis par exellence ein spezifisch koranisches Gründungsgeschehen entgegen; das christliche Weihnachtsfest wird durch ein neues koranisches Offenbarungsfest gleichsam überschrieben. Der Einschub verstärkt insofern das bereits im Schlussvers der ursprünglichen Fassung erkennbare Bestreben, christliche Motive zu adaptieren und als Mittel einer Autorisierung der koranischen Verkündigungen zu nutzen.
Literaturliste
Während Nöldeke (GdQ, Bd. 1, 93 f.) eine Verkündigung des Textes noch in Mekka annimmt, argumentiert Wagtendonk auf der Grundlage der prophetenbiographischen Tradition für einen medinensischen Entstehungszeitpunkt zwischen der Hiǧra und der Schlacht von Badr ( Wagtendonk 1968, 88 ff. und insb. 95 f. ). Gegen eine mekkanische Datierung der Sure führt er dabei insbesondere seine Deutung der altarabischen lailat al-qadr als alljährlich wiederkehrender Gerichtsnacht an, die er aufgrund ihres zyklischen Charakters für inkompatibel mit der eschatologischen Kernbotschaft der mekkanischen Texte hält ( ebd., 95 ). Wagtendonks Verständnis der lailat al-qadr als Gerichts- und nicht als Schicksalsnacht ist jedoch durchaus nicht zwingend (s. Anm. zu V. 1), so dass eine frühmekkanische Datierung keinesfalls von vornherein ausscheidet. Tatsächlich weist die Sure in stilistischer Hinsicht eine Reihe von charakteristischen Merkmalen früher mekkanischer Texte auf: den ʾinnā-Einsatz (vgl. Q 108 und die von Nöldeke an der Schwelle zur mittelmekkanischen Periode angesetzte Sure 71; mit Q 48 existiert allerdings auch ein medinensischer Text mit ʾinnā-Einsatz), die Kürze der Verse (zum deutlich längeren V. 4s. u.), die mit mā ʾadrāka mā ... beginnende Lehrfrage in V. 2 (s. Q 74:27, 82:17.18, 83:8.19, 86:2, 90:12, 104:5; vgl. ähnlich Q 101:2; paraphrasierte Fragen der Zuhörer wie yasʾalūnaka ʿan, „sie fragen dich nach ...“, finden sich dagegen nicht nur in relativ frühen Texten wie Q 79:42 und Q 51:12, sondern auch noch in medinensischen Suren wie Q 7:187 und Q 33:63). Darüber hinaus manifestiert die Sure keine der terminologischen und stilistischen Besonderheiten, die für medinensische Texte charakteristisch sind. Würde man die Sure nach Medina setzen, so müsste man deshalb mit einer absichtsvollen Nachgestaltung älterer Formen rechnen, die bewusst hinter die literarischen Konventionen der medinensischen Zeit zurückgeht. Schließlich ist auch das Verhältnis zwischen Q 97 und dem Eröffnungsabschnitt der mittelmekkanischen Sure 44 (V. 1–8) zu bedenken. Insbesondere V. 3.4 (ʾinnā ʾanzalnāhu fī lailatin mubārakatin ʾinnā kunnā munḏirīn / fīhā yufraqu kullu ʾamrin ḥakīm, „Wir haben ihn in einer gesegneten Nacht herabgesandt …, / in der lauter weise Verfügungen getroffen werden“) lesen sich wie eine Paraphrase der einleitenden Offenbarungsbestätigung 97:1, welche den Terminus lailat al-qadr, „die Nacht der Bestimmung“, durch „eine gesegnete Nacht, in der lauter weise Verfügungen getroffen werden“ ersetzt. Diese „gesegnete Nacht, in der lauter weise Verfügungen getroffen werden“, umschreibt offenbar eine ganz bestimmte, den Hörern bereits vertraute Nacht, so dass die mittelmekkanische Sure 44 als terminus ad quem für die Verkündigung von Q 97 gelten kann.
Verschiedene Erwägungen weisen folglich eher auf einen frühmekkanischen als auf einen medinensischen Entstehungszeitpunkt. Q 97 würde damit der Bildung einer genuinen koranischen Gemeinde vorangehen, so dass die Aussage des Textes nicht in der Instituierung eines kollektiv zu begehenden Gedenkfestes bestehen dürfte, wie es bei Wagtendonks medinensischer Datierung naheläge. Am ehesten scheint die Verkündigung der Sure nach den in Text- und Verslänge vergleichbaren Droh- und Scheltworten Q 95, 102, 103, 104 und 107 und den Danksuren 105 und 106 denkbar (ohne den problematischen Vers 4 hat Q 97 eine durchschnittliche Verslänge von 10,8 Silben). Sie lässt sich lesen als nachträgliche Autorisierung und Herkunftsbestimmung dieser frühesten Korantexte, welche die – zwar als Gottesrede markierten, ihre göttliche Provenienz aber ansonsten nicht thematisierenden – Droh- und Scheltsuren auf ein Offenbarungserlebnis in der lailat al-qadr zurückführt. In mancher Hinsicht scheint der Text mit dem Trostsuren-Cluster 93, 94 und 108 verwandt: Denn durch ihre Fokussierung auf die Gestalt des Botschaftsüberbringers leisten diese ebenfalls eine Autorisierung der bis dato verkündeten Korantexte, und zumindest eine von ihnen, Sure 108, setzt wie die vorliegende Sure mit einer ʾinnā-Aussage ein. Zwar wird der Verkünder in Q 97, anders als in den drei Trostsuren, nicht direkt angesprochen, doch geht es in Q 97 immerhin um den „Mittelpunkt seines Wirkens“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 103 ), die koranischen Verkündigungen.
Eine leicht abweichende Datierung vertritt Neuwirth: Sie stellt die Sure zusammen mit den Trostsuren Sure 93, 94 und 108 sowie den Gottes Begünstigung Mekkas und der Quraiš thematisierenden Suren 105 und 106 an den Anfang der koranischen Textgenese ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 44 f. ). Neuwirth geht dabei von dem Gedanken aus, dass die „noch exklusiv an ein ‚Du‘ gerichteten Suren“ 93, 94, 97, 107 und 108 zu einem „vor-kerygmatischen“ Stadium der Korangenese gehören, auf welches erst in einem zweiten Schritt eschatologisch geprägte Mahn- und Drohworte wie etwa Q 102 und 107 gefolgt seien. Zur Kritik an dieser Konstruktion vgl. den Abschnitt “Datierung“ im Kommentar zu Q 108.
Nöldeke und Schwally erwägen für die Sure (wie auch für die anderen mit ʾinnā beginnenden Suren 48, 71, 97 und 108), sie könnte „ihren ursprünglichen Anfang verloren haben“ ( GdQ, Bd. 1, 92 f. ). Die Existenz von immerhin vier mit ʾinnā einsetzenden Suren macht den Wegfall einer Einleitung in allen Fällen jedoch recht unwahrscheinlich. Die Unmittelbarkeit des Einsatzes wird man deshalb innerhalb der koranischen Formensprache durchaus als literarische Möglichkeit akzeptieren müssen. Die Vermutung, dass es sich bei Q 97 um ein isoliertes, aus einem ursprünglich sehr viel umfangreicheren Textzusammenhang herausgefallenes Schlussgesätz handelt, hat prima facie wenig für sich, da vergleichbare Fälle im koranischen Korpus nicht nachweisbar sind.
Aus den weitgehend eingliedrigen Versen fällt nur der überlange V. 4 heraus (24 Silben gegenüber 10 oder 11 Silben in V. 1–3.5). Auch inhaltlich und terminologisch sticht der Vers hervor. Vor allem die das selbstständige Agieren der Engel einschränkende Wendung bi-ʾiḏni rabbihim („mit der Erlaubnis ihres Herrn“) deutet auf ein Stadium theologischer Reflexion, welches zu Beginn der Korangenese noch nicht vorauszusetzen ist: Insofern sie die Subordination von Engeln und Geist unter den Befehl Gottes verdeutlicht und so dem Anschein einer allzu großen Selbstständigkeit derselben vorbeugt, wie ihn der grammatische Subjektstatus von Engeln und Geist nahegelegt haben könnte (in V. 4 steht tanazzala, „herabsteigen“, im Gegensatz zu ʾanzala, „herabsenden“, in V. 1), ist die Wendung vergleichbar mit den ebenfalls theologische Reflexion spiegelnden Zusätzen Q 74:56, 76:30 und 81:29, welche die vom jeweils vorhergehenden Vers implizierte menschliche Willensfreiheit unter den Vorbehalt eines entsprechenden göttlichen Wollens stellen. Bestätigt wird diese Vermutung dadurch, dass bi-ʾiḏni-Einschränkungen sonst in frühen Texten nicht belegt sind – so fehlt eine ähnliche Qualifikation etwa in dem sprachlich und inhaltlich eng mit 97:4 verwandten Vers 78:38 (yauma yaqūmu r-rūḥu wa-l-malāʾikatu ṣaffan), der gleichfalls ein eigenständiges Handeln von „Geist und Engeln“ suggeriert. Die Einschränkung wird selbst in dem nicht mehr frühmekkanischen Einschub 70:4 (taʿruǧu l-mālāʾikatu wa-r-rūḥu ʾilaihi fī yaumin kāna miqdāruhū ḫamsīna ʾalfa sanah) noch nicht verwendet, sondern erst in spätmekkanischen oder medinensischen Suren, etwa Q 2:97, wo Gabriels Rolle im Offenbarungsprozess mittels derselben Formulierung von der Erlaubnis Gottes abhängig gemacht wird (zum selben Ergebnis kommt – mit ähnlichen Argumenten – Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 96 f. ).
Auffällig ist daneben die Erwähnung des „Geistes“ (rūḥ), dessen Rolle im Offenbarungsprozess in Q 16:2.102, 26:193 und 40:15 hervorgehoben wird (in 17:25 wird eine Nachfrage nach dem „Geist“ abgewehrt) und den ein medinensischer Vers (2:97) schließlich mit dem Erzengel Gabriel identifiziert. Daneben existiert allerdings auch eine frühmekkanische Stelle, in denen der rūḥ zusammen mit den Engeln genannt wird, nämlich Q 78:38 (yauma yaqūmu r-rūḥu wa-l-malāʾikatu ṣaffan); Q 70:4 (taʿruǧu l-mālāʾikatu wa-r-rūḥu ʾilaihi fī yaumin kāna miqdāruhū ḫamsīna ʾalfa sanah) ist ein späterer Einschub (s. den Kommentar zu Q 70). Doch auch in 78:38 erscheint der „Geist“ nicht wie in 97:4 oder 26:193 als Offenbarungsmittler; der Kontext ist dort ein eschatologischer. Sehr wahrscheinlich ist deshalb der gesamte Vers 97:4 (und nicht etwa nur die Wendung bi-ʾiḏni rabbihim) als nachträgliches, den besonderen Charakter der lailat al-qadr näher ausführendes „Interpretament“ anzusehen ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 96 ). Aufgrund des Fehlens der Einschränkung bi-ʾiḏni rabbihim in dem ebenfalls nachträglich eingefügten Vers 70:4 dürfte 97:4 der spätere Einschub von beiden sein.
Gegen diese Hypothese könnte eingewandt werden, dass das in V. 3 enthaltene Werturteil über die lailat al-qadr, ihr hyperbolisch ausgedrückter Ausnahmecharakter („ist besser als tausend Monate“), erst in V. 4 begründet bzw. ‚ausgeredet’ wird, so dass der Text bei Ausscheidung des gesamten Verses lückenhaft wirke (vgl. schon Neuwirth, Studien, 231 , die sich hier noch gegen die Hypothese wendet, der vierte Vers sei ein Einschub). Dieser Eindruck mag jedoch subjektiv sein: Setzt man voraus, dass die lailat al-qadr den Hörern bereits vertraut war (s. den Stellenkommentar zu V. 1), so war eine Motivierung ihres in V. 3 und 5 formulierten Ausnahmecharakters möglicherweise nicht unbedingt nötig.