بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
ٱقۡرَأۡ بِٱسۡمِ رَبِّكَ ٱلَّذِی خَلَقَ |
11 Trag vor im Namen deines Herrn, der schafft, |
خَلَقَ ٱلۡإِنسَٰنَ مِنۡ عَلَقٍ |
2 der den Menschen aus etwas Klebrigem schafft! |
ٱقۡرَأۡ وَرَبُّكَ ٱلۡأَكۡرَمُ |
3 Trag vor! Dein Herr ist der Großmütige, |
ٱلَّذِی عَلَّمَ بِٱلۡقَلَمِ |
4 der mit dem Schreibrohr lehrt, |
عَلَّمَ ٱلۡإِنسَٰنَ مَا لَمۡ يَعۡلَمۡ |
5 den Menschen lehrt, was er nicht wusste! |
كَلَّآ إِنَّ ٱلۡإِنسَٰنَ لَيَطۡغَىٰۤ |
26 Doch nein! Der Mensch ist aufsässig, |
أَن رَّءَاهُ ٱسۡتَغۡنَىٰۤ |
7 weil er meint, sich selbst zu genügen! |
إِنَّ إِلَىٰ رَبِّكَ ٱلرُّجۡعَىٰۤ |
8 Doch zu deinem Herrn führt die Rückkehr! |
أَرَءَيۡتَ ٱلَّذِی يَنۡهَىٰ |
39 Was meinst du von dem, der hindert |
عَبۡدًا إِذَا صَلَّىٰۤ |
10 einen Diener, wenn er betet? |
أَرَءَيۡتَ إِن كَانَ عَلَى ٱلۡهُدَىٰۤ |
11 Was meinst du: Dass er rechtgeleitet ist |
أَوۡ أَمَرَ بِٱلتَّقۡوَىٰۤ |
12 oder Gottesfurcht gebietet? |
أَرَءَيۡتَ إِن كَذَّبَ وَتَوَلَّىٰۤ |
13 Was meinst du: Dass er leugnet und sich abwendet? |
أَلَمۡ يَعۡلَم بِأَنَّ ٱللَّهَ يَرَىٰ |
14 Weiß er denn nicht, dass Gott sieht? |
كَلَّا لَىِٕن لَّمۡ يَنتَهِ |
415 Doch nein! Wenn er nicht ablässt, |
لَنَسۡفَعًۢا بِٱلنَّاصِيَةِ |
so packen wir ihn am Schopf, |
نَاصِيَةٍۢ كَٰذِبَةٍ خَاطِئَةٍۢ |
16 einem lügnerischen und sündigen Schopf. |
فَلۡيَدۡعُ نَادِيَهُۥ |
17 Mag er doch seine Kumpane herbeirufen – |
سَنَدۡعُ ٱلزَّبَانِيَةَ |
18 wir werden die Höllendämonen rufen! |
كَلَّا لَا تُطِعۡهُ |
19 Nein, gehorche ihm nicht! |
وَٱسۡجُدۡ وَٱقۡتَرِبۡ |
Wirf dich nieder und nahe dich! |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
iqraʾ bi-smi rabbika] Zu dem von qaraʾa abgeleiteten Substantiv qurʾān vgl. die Anmerkung zu 75:16–19; zum Gottestitel rabb s. die Anmerkung zu 95:8. Die Wendung iqraʾ bi-smi rabbika entspricht, wie bereits Hirschfeld erkannt hat, dem hebräischenקרא בשם יהוה, qārāʾ be-šem YHWH ( 1902, 32 ). Problematisch ist allerdings Hirschfelds Folgerung, der Vers sei deshalb analog zu der biblischen Wendung mit „Verkünde den Namen deines Herrn“ („Proclaim the name of thy Lord“; ebd., 18 ) zu übersetzen. Dagegen machen Nöldeke und Schwally zu Recht geltend, dass qaraʾa überall sonst im Koran „vortragen“ (aus einem Schriftstück oder aus dem Gedächtnis) meint, so etwa in 16:98, 17:93, 69:19, 73:20, 87:6 ( GdQ, Bd. 1, 32 f., 82 ). An der gängigen Übersetzung „Trag vor (bzw. verlies) im Namen deines Herrn“ wird man folglich festzuhalten haben (s. a. Graham 1984, 367 f. ). Dennoch ist möglich, dass die Nähe zur hebräischen Wortverbindung – die im Syrischen ganz parallel lautet – auf die bewusste Nachbildung einer biblischen Sprachfigur zurückgeht, so wie etwa auch Q 112:1 klanglich Deuteronomium 6:4 imitiert (s. TUK, Nr. 6). Darüber hinaus ist noch ein weiterer biblischer Bezug bemerkenswert (vgl. GdQ, Bd. 1, 81 f. ): In Jesaja 40:5 redet eine Stimme den Propheten mit dem Imperativ qrā, „Verkünde!“, an, der arab. iqraʾ entspricht (auch in der Pschitta wird dieselbe Wurzel verwendet). 96:1 könnte sich damit an den auch liturgisch prominenten Jesaja-Passus anlehnen und den koranischen Verkünder implizit als zweiten Jesaja zeichnen.
Die Genitivverbindung ʾism rabbika, „der Name deines Herrn“, erscheint in ähnlichen Aufrufen noch in 87:1 (sabbiḥ sma rabbika l-ʾaʿlā), 87:15 (wa-ḏakara sma rabbihī fa-ṣallā), 73:8 (wa-ḏkuri sma rabbika wa-tabattal ʾilaihi tabtīlā), 69:52 (fa-sabbiḥ bi-smi rabbika l-ʿaẓīm), 56:74.96 (jeweils fa-sabbiḥ bi-smi rabbika l-ʿaẓīm) und 55:78 (tabāraka smu rabbika ḏĭ l-ǧalāli wa-l-ʾikrām); vgl. die ausführliche Anmerkung zu 87:1.
Vom Aufbau her ist vor allem der Anfangsimperativ von Q 87 zu vergleichen, der wie in der vorliegenden Sure relativisch fortgeführt wird, sowie – jeweils mit einem vorangehenden Vokativ – 73:2–4 und 74:2–6 (an letzterer Stelle kombiniert mit weiteren ethischen und asketischen Aufrufen). Die Anrede iqraʾ zur Eröffnung des Hymnus entspricht – wie sabbiḥ in 81:1 – funktional dem häufig an Psalmenanfängen begegnenden halelū-yāh; angesichts von 73:1 ff. und 74:1 ff., die sicherlich den Verkünder und nicht einen beliebigen Gläubigen intendieren, dürften jedoch auch 96:1 und 87:1 analog zu deuten sein. Gleichwohl weisen derartige Imperative, wie auch die Schlussimperative in den Trostsuren 93, 94 und 108, eine implizite Allgemeingültigkeit auf: Der Verkünder erscheint gewissermaßen als exemplarischer Gläubiger, so dass die ihm aufgetragenen Handlungen analog auch für das Kollektiv seiner Hörer Gültigkeit haben. Prinzipiell dasselbe gilt für die Du-Anrede am Surenschluss.
allaḏī ḫalaq / ḫalaqa l-ʾinsāna min ʿalaq] Zu ʿalaq vgl. frühmekkanisch 75:37–39 (ʾa-lam yaku nuṭfatan min maniyyin yumnā / ṯumma kāna ʿalaqatan fa-ḫalaqa fa-sawā / fa-ǧaʿala minhu z-zauǧaini ḏ-ḏakara wa-l-ʾunṯā), in mittelmekkanischer Zeit vgl. 23:12–14 (wa-la-qad ḫalaqnă l-ʾinsāna min sulālatin min ṭīn / ṯumma ǧaʿalnāhu nuṭfatan fī qarārin makīn / ṯumma ḫalaqnă n-nuṭfata ʿalaqatan fa-ḫalaqnă l-ʿalaqata muḍġatan fa-ḫalaqnă l-muḍġata ʿiẓāman fa-kasaună l-ʿiẓāma laḥman ...). Paret, Kommentar, ad loc. führt noch die späteren Parallelstellen 40:67 und 22:5 an. In allen diesen Stellen wird das Nomen unitatis ʿalaqa, „etwas Anhaftendes bzw. Klebriges“ (in Q 96 steht das Kollektivum ʿalaq) in Verbindung mit der stufenweisen Entstehung des Kindes im Mutterleib verwendet und beschreibt das auf den „Samentropfen“ (nuṭfatan min maniyyin yumnā, 75:37; s. die Anmerkung ebd.) folgende embryonale Entwicklungsstadium. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass sich 96:2 auf die biblische Vorstellung einer Erschaffung Adams aus Erde oder Ton beziehen könnte, zumal die natürliche Entstehung des Kindes im Mutterleib auch in weiteren frühmekkanischen Texten als eine „Erschaffung“ (ḫalaqa) durch Gott beschrieben wird, s. 86:5–7 (fa-l-yanẓuri l-ʾinsānu mimma ḫuliq / ḫuliqa min māʾin dāfiq / yaḫruǧu min baini ṣ-ṣulbi wa-t-tarāʾib) mit Anmerkung, 80:18.19 (min ʾayyi šaiʾin ḫalaqah / min nuṭfatin ḫalaqahū fa-qaddarah), 75:38 (ṯumma kāna ʿalaqatan fa-ḫalaqa fa-sauwā), 77:20 (ʾa-lam naḫluqkum min māʾin mahīn) und 70:39 (kallā ʾinnā ḫalaqnāhum mimmā yaʿlamūn). Die Erschaffung des ersten Menschen aus Erde o. Ä. hingegen wird mit Ausnahme der am Ende der frühmekkanischen Periode stehenden Anspielung 55:14 („Er hat den Menschen aus Ton geschaffen wie ein Töpfer“; s. die Anmerkung ebd.) sonst erst in späteren mekkanischen und medinensischen Stellen wie 18:37, 22:5, 23:12–14, 32:7–9 und 40:67 erwähnt, wo sie der bereits als Topos etablierten Erschaffung aller übrigen Menschen aus einem Samentropfen als erstes Stadium des Schöpfungsvorgangs vorangestellt wird. Allgemeine Aussagen über die Erschaffung des Menschen wie 95:4 (la-qad ḫalaqnă l-ʾinsāna fī ʾaḥsani taqwīm), 90:4 (la-qad ḫalaqnă l-ʾinsāna fī kabad) und 70:19 (ʾinna l-ʾinsāna ḫuliqa halūʿā) sind in frühmekkanischer Zeit deshalb wohl zumindest in solchen Suren, die früher als Q 55 (Gruppe IIIb) anzusetzen sind, auf die Entstehung des Embryos und nicht auf die Erschaffung Adams zu beziehen. (Vgl. noch die weiteren frühmekkanischen Belege für ḫalaqa in 92:3, 89:8, 88:17, 87:2, 82:7, 78:8, 74:11, 56:57.59, 52:35.36 und 51:49.56.)
Auch die beiden Anfangsverse von Sure 96 handeln also von der Entstehung des Embryos im Mutterleib. Die 3. Sg. Perfekt ḫalaqa dürfte deshalb als „generelles Präsens“ zu werten sein, wie es im Arabischen auch sonst durch Perfektformen ausgedrückt werden kann ( Reuschel 1996, 93 ff. ; speziell zu ḫalaqaebd., 140 ). Mit Reuschel ist dieser besondere Gebrauch des Perfekts daraus zu erklären, dass das arabische Perfekt und Imperfekt primär aspektuelle Funktion besaßen („Aspekt“ soll hier im Sinne Reuschels die Opposition zwischen einer Vorstellung der Verbalhandlung „als im Verlauf befindlich“ oder aber „als Ganzes überschaubar“ bezeichnen; s. Reuschel 1996, 17 ); ihre Verwendung zur zeitlichen Verortung des Vorgangs in Vergangenheit (Perfekt) und Gegenwart (Imperfekt) ist, obzwar im klassischen und modernen Arabisch vorherrschend, sprachgeschichtlich sekundär ( Reuschel 1996, 95 ). Aspektuelle – also nicht bereits morphologisch auf eine Vergangenheitsbedeutung festgelegte – Perfektformen kommen insbesondere in koranischen Werkaffirmationen des öfteren vor; besonders offensichtliche Beispiele sind in frühmekkanischer Zeit 87:4.5 (wa-llaḏī ʾaḫraǧa l-marʿā / fa-ǧaʿalahū ġuṯāʾan ʾaḥwā, „der die Weide hervorbringt / und sie zu bräunlichem Treibgut macht!“) und 53:43.44 (wa-ʾinnahū huwa ʾaḍḥaka wa-ʾabkā / wa-ʾinnahū huwa ʾamāta wa-ʾaḥyā, „und dass er es ist, der zum Lachen und Weinen bringt / und dass er es ist, der sterben lässt und lebendig macht“; allerdings fehlen in hymnischen Kontexten auch Imperfektformen nicht gänzlich, vgl. 85:13: ʾinnahū huwa yubdiʾu wa-yuʿīd).
Versbau: Stilistisch auffällig ist die Verschränkung der beiden Verse durch Wiederaufnahme des V. 1 abschließenden Worts zu Beginn des Folgeverses. Die Konstruktion findet sich in Q 96 noch zweite weitere Male, in V. 4.5 und V. 15.16; vgl. sonst noch 87:18.19, 106:1.2 (Mekka I), 26:132.133 (Mekka II) und 40:36.37 (Mekka III) (vgl. Neuwirth, Studien, 225 , und Paret, Kommentar, zu 106:1 ). Dabei lassen sich in allen Fällen außer 26:132.133 die beiden Verse zu einer einheitlichen Satzperiode kombinieren; es steht deshalb zu vermuten, dass solche Wiederaufnahmen in den frühen Koransuren mit ihren kurzen Versen als Mittel dienen, einen syntaktischen Zusammenhang, der die Länge eines einzigen Verses übersteigen würde, zu zwei Einzelversen auseinanderzuziehen (so wird etwa in 106:1.2li-ʾīlāfi quraiš riḥlata š-šitāʾi wa-ṣ-ṣaif zu li-ʾīlāfi quraiš / ʾīlāfihim riḥlata š-šitāʾi wa-ṣ-ṣaif auseinandergezogen, und in 96:1.2iqraʾ bi-smi rabbika llaḏī ḫalaqa l-ʾinsāna min ʿalaq zu iqraʾ bi-smi rabbika llaḏī ḫalaq / ḫalaqa l-ʾinsāna min ʿalaq). Ein ähnlicher ‚Übertrag’ findet sich gelegentlich auch in der altarabischen Dichtung, vgl. Jones 1992, Bd. 1, 98 f. : ... ʾiḏā ṭaraqat ʾiḥdă l-layālī bi-dāhiyah / bi-dāhiyatin yuḍġĭ l-kilāba ḥasīsuhā ...
iqraʾ wa-rabbuka l-ʾakram] Zum Imperativ iqraʾ s. die Anmerkung zu V. 1. Zu ʾakram vgl. 89:15 (fa-ʾammă l-ʾinsānu ʾiḏā mă btalāhu rabbuhū fa-ʾakramahū wa-naʿʿamahū fa-yaqūlu rabbī ʾakramā), 82:6 (yā-ʾayyuhă l-ʾinsānu mā ġarraka bi-rabbika l-karīm) und 55:27 (wa-yabqā waǧhu rabbika ḏŭ l-ǧalāli wa-l-ʾikrām). Der Ausdruck al-ʾakram lässt sich sowohl als Prädikat zu rabbuka, „dein Herr“, auffassen („Dein Herr ist der Großmütige, / der mit dem Schreibrohr lehrt“), als auch als Attribut dazu, wobei der folgende Relativsatz dann als Prädikat zu verstehen wäre („Dein großmütiger Herr / ist der, der mit dem Schreibrohr lehrt“). Obwohl Paret sich für die zweite Alternative entscheidet, führt er als Argument für die erste Q 6:133 (wa-rabbuka al-ġanīyu) und 18:58 (wa-rabbuka l-ġafūru) an, wo ebenfalls determinierte Elative als Prädikat fungieren ( Paret, Kommentar ).
allaḏī ʿallama bi-l-qalam / ʿallama l-ʾinsāna mā lam yaʿlam] Qalam ist aus dem Äthiopischen entlehnt und geht letztlich auf gr. kalamos zurück ( Jeffery, Foreign Vocabulary, 242 f. ). Zur Wiederholung von ʿallama vgl. die ähnliche Struktur in 106:1 f. (li-ʾīlāfi quraiš / ʾīlāfihim riḥlata š-šiṭāʾi wa-ṣ-ṣaif). Wie in V. 1.2 dürfte es sich bei ʿallama um ein aspektuelles Perfekt handeln, da Offenbarung im Koran kein geschichtlich einmaliger Akt ist, sondern Gott immer wieder Warner auftreten lässt, die ihr jeweiliges Volk zur Umkehr rufen sollen. ʿAllama bi-l-qalam kann entweder „mit dem Schreibrohr belehren“ oder „das Schreibrohr (= das Schreiben) lehren“ bedeuten; vgl. im zweiten Sinne die Lesart allaḏī ʿallama l-ḫaṭṭa bi-l-qalam ( Muʿǧam, ad loc. ), die aber sicherlich eine nachträgliche Vereindeutigung darstellt. Während Paret (Kommentar, ad loc.) zur zweiten Alternative tendiert, optiert Bell angesichts des folgenden Verses („er lehrt den Menschen, was er nicht weiß“) für die erste: „It is a distinct reference to the written revelation, which was regarded as dealing with things which did not come within the range of man’s natural knowledge“ ( Bell, Commentary, ad loc. ). Für Bells Deutung spricht darüberhinaus, dass die beiden Themenkomplexe Schöpfung und Offenbarung auch anderswo explizit miteinander verknüpft werden (55:2.3: ʿallama l-qurʾān / ḫalaqa l-ʾinsān; s. a. 87:1–8). Überdies beschreibt die – allerdings erst spätmekkanische – Stelle 6:91 das Phänomen göttlicher Offenbarung mit einem an 96:5 angelehnten Wortlaut (wa-ʿullimtum mā lam taʿlamū ʾantum wa-lā ʾābāʾukum; weitere Verweise auf spätere Koranstellen bei Paret, Kommentar, ad loc. ); daraus ergibt sich zumindest ein Indiz, dass bereits 96:4.5 im selben Sinne zu verstehen ist. Dass Gott „mit dem Schreibrohr lehrt“, ist dabei wohl in dem Sinne zu verstehen, dass das, was er offenbart, von seinen menschlichen Adressaten schriftlich niedergelegt wird (zu der für die koranischen Ersthörer vorauszusetzenden Assoziation von Offenbarung und Verschriftlichung s. ausführlicher Sinai 2006:112–116 ). Vielleicht meint das frühmekkanisch sonst nur noch in einem Schwur (68:1) begegnende Wort qalam aber auch ein himmlisches Schreibrohr, mit dem Gott die „wohlverwahrte Tafel“ aus 85:22 beschreibt bzw. welches von den anderswo erwähnten himmlischen Schreiber (80:13–16, 82:10–12) verwendet wird. Neuwirth vertritt sehr dezidiert diese Interpretation ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 270 ) und verweist als Beleg auf den Schwur Q 68:1 (wa-l-qalami wa-mā yasṭurūn), den sie als Referenz auf die himmlischen Schreiberengel versteht. Doch ließe sich der Schwur vielleicht genauso gut auf menschliche Schreibkunst als Garant zuverlässiger Bewahrung und Weitergabe göttlicher Offenbarungen beziehen, was ein entsprechendes Verständnis auch des vorliegenden Verses 96:4 stützen würde. Für diese Position spricht, dass alle übrigen (allerdings deutlich späteren) Verwendungen des Wortes qalam, die im Plural ʾaqlām stehen (in 31:27 und 3:44), irdische Schreibrohre bzw. Losstäbchen (3:44) bezeichnen.
kallā ʾinna l-ʾinsāna la-yaṭġā] Ṭaġā bedeutet eigentlich „ansteigen, aufwallen, über die Ufer treten“ o. ä. (vgl. Lane, Bd. 5, 1856b–c ). Diese Grundbedeutung ist auch im Koran reflektiert: So steht in 69:11 in einer Anspielung auf die Sintflut ṭaġă l-māʾ, „das Wasser schwoll an“, in 69:5 wird die die Ṯamūd heimsuchende Katastrophe als ṭāġiyya umschrieben, und in 53:17 heißt es im Kontext einer Visionsbeschreibung: mā zāġă l-baṣaru wa-mā ṭaġā, „Der Blick wich nicht ab noch übertrat er das rechte Maß“. Ansonsten charakterisiert das Verb bereits in frühmekkanischer Zeit den menschlichen Ungehorsam gegenüber Gott und wird dann üblicherweise mit „aufsässig sein, anmaßend sein“ etc. übersetzt (vgl. im Einzelnen 96:6, 91:11, 89:11, 79:17.27, 68:31, 55:8, 53:52, 52:32, 51:53). Zumeist wird dieser moralische Gebrauch als natürliche Weiterentwicklung der ursprünglichen Bedeutung „aufwallen, über die Ufer treten“ verstanden, was durchaus möglich ist. Mit Luxenberg ( Luxenberg 2000, 318 f. ) wäre allerdings zu erwägen, ob die zweite, moralische Verwendungsweise des Verbs nicht auch den Gebrauch von aram. ṭʿā reflektieren könnte (vgl. in diesem Sinne schon Jeffery, Foreign Vocabulary, 202 f. , mit weiteren Literaturangaben). Im Gegensatz zu Luxenberg wäre dabei jedoch nicht primär an die Bedeutung „vergessen“, sondern an „irren, (vom rechten Glauben) abirren, fehlgehen“ zu denken ( Payne Smith 1879–1901, Bd. 1, 1492 ). Diese Hypothese wäre überdies von Luxenbergs wenig wahrscheinlicher Behauptung zu lösen, bei ṭaġā handele es sich gar nicht um eine genuin arabische Wurzel und das Wort sei nur durch die Fehllesung eines von ihm postulierten ursprünglichen Wortlautes ṭaʿā zu erklären. Plausibler ist vielmehr die Vermutung, dass ein vorhandenes arabisches Verb ṭaġā (dessen ursprünglicher Sinn koranisch in 69:5.11 belegt ist) unter dem Einfluss des etymologisch verwandten aramäischen Verbs eine zusätzliche moralische Bedeutungskomponente angenommen hat, die aus der arabischen Innenperspektive wiederum aus der arabischen Grundbedeutung von ṭaġā herleitbar war (diese Deutung verdankt sich Diskussionen mit David Kiltz). Auch unter der Annahme einer möglichen syrischen Interferenz wäre also die traditionelle Übersetzung „aufsässig sein“ durchaus sinnvoll; denn bereits in koranischer Zeit könnten Sprecher des Arabischen beide Gebrauchsweisen von ṭaġā („ansteigen, aufwallen“ einerseits, „aufsässig sein“ andererseits) als Ausprägungen einer gemeinsamen Grundbedeutung „das rechte Maß überschreiten“ interpretiert haben.
ʾan] Wird hier – wie z. B. auch in dem mittelmekkanischen Vers 43:5 (ʾa-fa-naḍribu ʿankumu ḏ-ḏikra ṣafḥan ʾan kuntum qauman musrifīn) – kausal als „erklärendes an“ (ʾan al-mufassira) gebraucht, ist also mit „weil“ zu übersetzen (vgl. Reckendorf 1921, §193.2.b ).
rāʾahū] Wie allgemein nach den verba sentiendi steht hier kein Reflexivpronomen, sondern ein einfaches Akkusativsuffix in reflexiver Bedeutung (vgl. Reckendorf 1921, §51.6, §189.6 ; s. auch das von aṭ-Ṭabarī, ad loc. , angeführte Beispiel matā taḥsabuka sāʾiran, „Wann rechnest du damit, dass du abreist?“, statt matā taḥsabu nafsaka sāʾiran).
istaġnā] Das Wort erscheint frühmekkanisch noch als Teil eines Lasterkatalogs in 92:8.9 (wa-ʾammā man baḫila wa-staġnā / wa-kaḏḏaba bi-l-ḥusnā) und in 80:5 (ʾammā mani staġnā); vgl. auch die spätere medinensische Neuaufnahme des Ausdrucks in 64:6. Alle drei frühmekkanischen Verwendungen des Verbs stehen in implizitem Gegensatz zu taqwā, „Gottesfurcht“ (96:12) oder ittaqā (92:5: fa-ʾammā man ʾaʿṭā wa-ttaqā) bzw. ḫašiya (80:9: wa-huwa yaḫšā), „gottesfürchtig sein“. Auf die zentrale Bedeutung der Gottesfurcht in der spätantiken christlichen Mönchsfrömmigkeit weist Andrae 1932, 68–76 hin (vgl. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 271 ). Die Übersetzung von istaġnā mit „an sich selbst genug haben“ anstelle von „selbstherrlich auftreten“ (so Paret) empfiehlt sich, um alle drei Vorkommnisse konkordant übersetzen zu können. Denn in der Wendung ʾan raʾāhu staġnā im vorliegenden Vers ergibt „selbstherrlich auftreten“ (Paret: „daß er sich für selbstherrlich hält“) wenig Sinn: Gemeint ist nicht, dass der hier porträtierte Böse sein eigenes Auftreten in selbstkritischer Weise für selbstherrlich hält, sondern dass er meint, ‚an sich selbst genug zu haben’ und sich deshalb ein selbstherrliches Auftreten gestatten zu können.
ʾa-raʾaita llaḏī yanhā / ʿabdan ʾiḏā ṣallā] Zu ṣallā vgl. die Anmerkung zu 108:2. Gebetssituationen werden auch in anderen frühmekkanischen Suren thematisiert (107:4.5, 70:23.34, 108:2, 75:31, 87:15); vgl. Neuwirth „Vom Rezitationstext“, 85 f. , die auf „eine zunächst bestehende Kultgemeinschaft zwischen dem Verkünder und seinen mekkanischen Landsleuten an der Kaʿba“ schließt und in diesem altarabischen Kaʿba-Kult den Rahmen für die Verkündigung der frühen Korantexte sieht. Neuwirth plädoyiert nachdrücklich dafür, die hier geschilderte Situation als reales Vorkommnis zu verstehen und betont, dass V. 9 die sozial privilegierte Stellung des Gegners impliziert ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 271 und 277 ). – Der Ausdruck ʿabd ist zweideutig und könnte sowohl allgemein einen „Diener“ Gottes meinen als auch den gesellschaftlichen Status des „Sklaven“. Nöldeke und Schwally vertreten mit aller Entschiedenheit die erste Alternative ( GdQ, Bd. 1, 83 ; s. ebd., Anm. 1: „Ich brauche kaum zu bemerken, daß die Erklärung des عبد (V. 7) durch ‚Mensch‘ überhaupt ... gänzlich verfehlt ist“). Obwohl sie ihre Deutung auf außerkoranische Überlieferungen gründen, lassen sich auch gute innertextliche Indizien finden: Nicht nur die in V. 9 vorausgesetzte Befugnis des Gescholtenen zum Aussprechen von Verboten, sondern auch seine aus V. 17 zu erschließende Verfügungsgewalt über eine Anhängerschar vermitteln recht deutlich den Eindruck einer gesellschaftlichen Statusdifferenz zwischen ihm und dem ʿabd, was für die Deutung von Nöldeke und Schwally spricht (gegen das eher skeptische Votum in Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 271 ). Andererseits spricht jedoch nichts gegen die Annahme, dass der Ausdruck ʿabd zugleich mit der religiösen Bedeutung des „Gottesdieners“ spielt. Wie sich insbesondere im Schlussgesätz (V. 9) zeigt, besteht die zentrale Aussage der Sure ja gerade darin, dass der eigentliche Souverän des Geschehens nicht der in prototypische Selbstherrliche aus V. 9 ist, sondern vielmehr Gott. Die Doppelbedeutung des Wortes ʿabd bringt den damit eingeforderten Perspektivwechsel gleichsam auf den Punkt: Wo jemand, der ausschließlich innerweltlichen Sozialkonventionen verhaftet ist, nur einen ʿabdqua Sklaven erblickt, sieht der Gläubige in erster Linie einen ʿabdqua Gottesdiener, der im Zweifelsfalls seinem himmlischen Herrn mehr zu gehorchen hat als seinem irdischen (vgl. die ausdrückliche göttliche Gehorsamsforderung in V. 19). – Neuwirth mutmaßt, der Ausdruck ʿabd könne auch den Verkünder selbst meinen ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 271 ). Zum Begriff ʿabd vgl. auch die Anmerkung zu 53:10.
Versabteilung: Die Damaszener Zähltradition zieht V. 9 und V. 10 zusammen ( Spitaler, Verszählung, 70 ), wahrscheinlich um ein Enjambement zu vermeiden. Syntagmenverse, die lediglich aus dem Objekt eines vorhergehenden Verses bestehen, sind jedoch in frühmekkanischer Zeit nicht ungewöhnlich ( Neuwirth, Studien, 34 ).
ʾa-raʾaita ʾin kāna ʿală l-hudā] Zu hadā bzw. hudā vgl. die Anmerkung zu 93:7.
ʾau ʾamara bi-t-taqwā] Zum Verb ittaqā und dem zugehörigen Substantiv taqwā s. die Anmerkung zu 92:5; vgl. a. die Anmerkung zu V. 7 der vorliegenden Sure (istaġnā).
ʾa-raʾaita ʾin kaḏḏaba wa-tawallā] Die Vorwürfe des „Leugnens“ (des Jüngsten Gerichts) und „Abwendens“ werden auch in 92:16 (allaḏī kaḏḏaba wa-tawallā), 79:21.22 (fa-kaḏḏaba wa-ʿaṣā / ṯumma ʾadbara yasʿā) und 75:32 (wa-lākin kaḏḏaba wa-tawallā) miteinander kombiniert. Zu den verschiedenen Gebrauchsweisen von kaḏḏaba vgl. a. die Anmerkungen zu 95:7 und 73:11, zu tawallā s. die Anmerkung zu 88:23.
ʾa-lam yaʿlam bi-ʾanna llāha yarā] Zum Gottesnamen Allāh vgl. die Anmerkung zu 95:8.
Versabteilung: Mekka und Medina setzen nach lam yantahi einen Versschluss ( Spitaler, Verszählung, 71 ). Dieses Versende fügt sich jedoch nicht in das Reimschema der Umgebung und würde zudem Protasis und Apodosis isolieren ( Neuwirth, Studien, 34 ).
kallā la-ʾin lam yantahi la-naṣfaʿan bi-n-nāṣiyah / nāṣiyatin kāḏibatin ḫāṭiʾah] Vgl. 55:41 (yuʿrafu l-muǧrimūna bi-sīmāhum fa-yuʾḫaḏu bi-n-nawāṣī wa-l-ʾaqdām); s. auch die spätmekkanische Verwendung von nāṣiya in 11:56 (mā min dābbatin ʾillā huwa ʾāḫiḏun bi-nāṣiyatihā). Zur Stilfigur der Konkatenation vgl. die Anmerkung zu V. 1.2. Von Ibn Masʿūd wird die Variante fāǧira statt ḫāṭiʾa überliefert ( Muʿǧam, ad loc. ). Angesichts der in anderen frühen Koransuren feststellbaren psalmischen Bezüge (vgl. die Kommentare zu Q 93 und 94) läßt sich die Passage vielleicht mit dem ebenfalls am Textende stehenden, jedoch nicht eschatologisch zu deutenden Drohwort aus Psalm 21:9–13 vergleichen ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 272 ).
az-zabāniya] Wird traditionell auf die Wärter der Hölle gedeutet; die Bedeutung ist jedoch unsicher. Jeffery will den Ausdruck mit syr. dāborē, den „Führern“, die Ephrem zufolge die Verstorbenen zum Gericht führen, in Verbindung bringen, evtl. auch mit Pers. zabān, „Flamme“ ( Jeffery, Foreign Vocabulary, 148 ). Eilers schlägt eine Ableitung aus Mittelpers. zen(dān)bān, „Gefängniswärter“, vor ( Eilers, „Zabāniya“, EI2 ; s. a. Ambros, Dictionary, s. v. z-b-n ). Triftiger als etymologische Rekonstruktionsversuche dürfte jedoch der Hinweis sein, dass der Ausdruck zabāniya auch in der altarabischen Dichtung auftritt und dort dämonenartige Wesen bezeichnet: wa-qawwāda ḫailin naḥwa ʾuḫrā ka-ʾannahā / saʿālin wa-ʿiqbānun ʿalaihā zabāniyah, „[He was] the leader of horses against others [of the enemy]; it was as though they were she-ghūls and swift bringers of destruction, with attendant jinn [= zabāniya, N. S.] riding them“ ( Jones 1992, 100 ). Zu einer überzeugenden inhaltlichen Parallele s. Andrae 1926, 72 f., 145 f. und 153 f. (Ephrem über die Strafengel, die den Verdammten in die Hölle schleppen).
wa-sǧud wa-qtarib] Der erste Imperativ ruft zur Niederwerfung auf, die Neuwirth im Rekurs auf Uri Rubin für einen Teil bereits des vorislamischen Gebetsrituals hält ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 273 ). Der zweite Imperativ ist weniger konkret und wohl allgemein auf die Teilnahme an gottesdienstlichen Übungen zu beziehen. Vgl. die ebenfalls am Surenschluss stehenden Aufrufe zu Gottesdienst und Gotteslob in 108:2, 93:11, 52:48.49, 56:74 (ursprünglicher Surenschluss?) und 56:96, 69:52, 108:2. Anderswo, etwa in 93:11, stehen am Surenende Aufrufe zur Verkündigungstätigkeit. In funktionaler Hinsicht ist, wie Neuwirth hervorhebt, der psalmische Schlussruf הַֽלְלוּ־יָֽהּ (“Lobet den Herrn”) zu vergleichen, s. etwa Psalm 149:9 ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 273 ).
Literaturliste
Der Anfangsteil setzt mit einer Aufforderung zum Gottesdienst ein, wie sie sich auch in den verwandten Suren 73, 74 und 87 findet. Fortgeführt wird dieser Eingangsimperativ wie in Q 87 durch einen Hymnus, der Gottes Schöpferkraft und seine Belehrung des Menschen in der Offenbarung preist. Er ist besonders kunstvoll konstruiert und betont die beiden zentralen Gedanken des Erschaffens (ḫalaqa) und der göttlichen Lehre (ʿallama) durch die stilistisch auffällige Figur der Konkatenation (V. 1.2 und V. 4.5). Beide Komponenten, Schöpfung (V. 1.2) und Belehrung durch Offenbarung (V. 4.5), werden durch eine anaphorische Wiederholung des Eingangsimperativs in V. 3 voneinander abgesetzt. V. 1–5 stellen so zwei grundsätzliche Weisen göttlicher Zuwendung, Schöpfung und Offenbarung, durch eine mit gleichen Mitteln geleistete stilistische Hervorhebung in einen auch sonst im Koran zu beobachtenden Zusammenhang (s. 87:1–8, 86:11–14 und 55:1–4 mit Anmerkungen bzw. Kommentar; zur Durchführung derselben Thematik in Q 95 und 90 s. Neuwirth, „Horizont“, 14–16 ). Dabei ist Schöpfung hier wie auch sonst im Koran nicht vorrangig als einmaliger, primordialer göttlicher Akt zu verstehen, sondern als die sich im geregelten Naturablauf – etwa der Entstehung menschlicher Wesen im Mutterleib – fortwährend manifestierende Zuwendung Gottes.
Worin Funktion und Gehalt göttlicher Offenbarung, die im Einleitungsgesätz vorerst offenblieben, bestehen, macht die ʾinsān-Rüge des zweiten Gesätzes deutlich: Dem – bereits am Ende des vorausgehenden Gesätzes (V. 5) als Gegenstand göttlicher Belehrung eingeführten – Menschen eignet eine offenbar konstitutiv in ihm angelegte Verkennung (V. 7: istaġnā) seiner eigenen Begrenztheit, er hält sich für der zuvor evozierten göttlichen „Großmut“ (V. 3: wa-rabbuka l-ʾakram) unbedürftig. Der Mensch, dessen Hochmut mit seiner gerade thematisierten niedrigen Herkunft aus einem „Klumpen“ (ʿalaq) kontrastiert ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 277 ), bedarf deshalb göttlicher Verwarnungen, die ihm das Faktum einer unausweichlichen eschatologischen Rechenschaftsablegung immer wieder ins Bewusstsein rufen: ʾinna ʾilā rabbika r-ruǧʿā, „Zu deinem Herrn führt die Rückkehr!“ (V. 8). Er ist also nicht nur in seiner Existenz von Gottes Schöpfermacht abhängig, sondern bedarf auch zu seiner konkreten Lebensführung göttlicher Weisung. Das eingangs evozierte Offenbarungswissen meint also im frühkoranischen Kontext vor allem die – von an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten auftretenden Gesandten vermittelte – Belehrung über das Jüngste Gericht, auf welches das Leben des Einzelnen hin orientiert sein soll – ʾinna ʾilā rabbika r-ruǧʿā.
Das dritte Gesätz gibt eine Veranschaulichung der zuvor thematisierten „Aufsässigkeit“, die reale Erfahrungen des Verkünders oder seiner Anhänger spiegeln könnte: Ein Gläubiger wird durch einen anscheinend höhergestellten Mitbürger vom Gebet abgehalten (V. 9.10). Die in Frageform skizzierte Szene wird sogleich von zwei weiteren Fragen kommentiert, die zur Wertung des präsentierten Verhaltens unter religiösem Vorzeichen – anstatt etwa im Rekurs auf soziale Konventionen – auffordern: Gründet ein solches Verhalten auf „Rechtleitung“ (hudā, V. 11) und „Gottesfurcht“ (taqwā) oder manifestiert es vielmehr „Leugnen“ und „Abwenden“ (V. 13)? Eine weitere und letzte Frage wirft dem Gescholtenen vor, die eigentlich wissbare Tatsache zu verkennen, dass „Gott sieht“ (V. 14). Das dritte Gesätz lässt sich damit als exemplarische Veranschaulichung und Überführung der zuvor konstatierten Selbstherrlichkeit (istaġnā, V. 7) des Menschen verstehen. Stilistisch wird der Passus durch die anaphorische Wiederaufnahme der Frageeinleitung ʾa-raʾaita in V.9.11.13 geprägt, die eine Stellungnahme des Hörers einfordert. Literarisch effektvoll ist zudem die Doppelbdeutung des dem bedrängten Gläubigen beigelegten Titels ʿabd, der sowohl „Sklave“ als auch „Gottesdiener“ bedeuten kann; der Ausdruck ist damit aus jeder der beiden in der Sure aufeinanderprallenden Perspektiven – derjenigen verblendeter menschlicher Selbstherrlichkeit und derjenigen einer gläubigen Anerkennung der realen Souveräntität Gottes – deutbar.
Das vierte Gesätz zeigt eine doppelte rhetorische Steigerung: Der Text geht aus dem Register der Frage wieder in das kategorischer Behauptungen über, und er gebraucht jetzt erstmals die 1. Person Plural, die erstmals in der Sure unmissverständlich Gott als eigentlichen Sprecher identifiziert: „Wenn er nicht ablässt, so packen wir ihn am Schopf ...“ Der Abschnitt setzt mit der Interjektion kallā ein, welche auch die ʾinsān-Rüge in V. 6–8 sowie den Schlussruf V. 19 einleitet. Die im Diesseits angesiedelte Szene der vorangehenden Verse schlägt hier offenbar in eine Vorausblende des Jüngsten Tages um, an dem der Übeltäter gepackt und dem Höllenfeuer übergeben wird. V. 17.18 fordern den Verdammten auf, sein irdisches Sozialprestige gegen die ihm drohende jenseitige Strafe aufzubieten. Die von dem Getadelten zur Hilfe gerufene Anhängerschaft (nādiyahū) wird jedoch gleich darauf durch die von Gott herbeizitierten zabāniya überboten.
Die Sure endet mit Imperativen, die wie V. 6 und V. 15 von der jeden Widerstand rhetorisch abschneidenden Interjektion kallā eingeleitet werden. Die Rede über den Angeschuldigten springt hier in eine Anrede an den Verkünder über, die in gewisser Hinsicht noch einmal die ganze Sure zusammenfasst: Der innerweltlichen Autorität des Bösen, der die Gebetsteilnahme untersagt, setzt sich die die absolute Autorität des göttlichen Sprechers entgegen, der unbedingten Gehorsam einfordert („Gehorche ihm nicht!“) und allen Widerständen zum Trotz zur Verrichtung des Gebets anhält („Knie nieder und nahe dich!“). Die abschließende Aufforderung zum Gottesdienst führt dabei zugleich zu der am Surenanfang stehenden Anweisung zur Rezitation (iqraʾ, V. 1 und 3) zurück ( Neuwirth, Studien, 231 ; Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 273 und 278 ).
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Die Sure gehört sicherlich in die frühmekkanische Periode: Mit durchschnittlich 9,3 Silben pro Vers weist sie die für frühmekkanische Texte charakteristische Verskürze auf, und wie in anderen frühmekkanischen Suren überwiegt als Gottesbezeichnung rabbuka, „dein Herr“. Insofern die Sure mit 19 Versen bereits deutlich länger ist als die Texte aus Gruppe I und sich auch schon in vier regelrechte Gesätze gliedert – wobei die letzten inhaltlich zusammengehören und insofern die Hauptteile späterer Korantexte antizipieren –, ist sie unter textimmanentem Gesichtspunkt Gruppe II zuzuordnen. Dies ist auch deshalb wahrscheinlich, weil die abschließende Anrede des Verkünders (V. 19) auf die erstmals in dem Trostsuren-Cluster 93, 94 und 108 (Gruppe I) etablierte diskursive Konstellation des Zwiegesprächs zwischen Gott und Verkünder zurückgreift, Q 96 also später als die – überdies kürzeren und strukturell weniger komplexen – Trostsuren sein dürfte. Diese Einordnung in Gruppe II wird überdies bestätigt durch die formale und inhaltliche Verwandtschaft des Textes mit der ebenfalls mit Aufrufen an den Verkünder beginnenden Sure 87, die ebenfalls zu Gruppe II gehört; Q 87 bietet sogar wie Q 96 eine hymnische Fortführung des einleitenden Aufrufs. Ein weiterer verwandter Text ist Q 74, der jedoch aufgrund seiner beträchtlichen Länge und höheren strukturellen Komplexität etwas später anzusetzen sein dürfte und zu Gruppe IIIa gehört.
Die verbreitete islamische Tradition, der zufolge 96:1–5 die ersten von Muḥammad verkündeten Koranverse waren, ist insofern aller Wahrscheinlichkeit nach eine spätere prophetologische Konstruktion, auch wenn sie bereits relativ früh in Umlauf gewesen zu sein scheint (s. die ausführliche traditionskritische Untersuchung in Schoeler 1996, 59–117 ; vgl. Rubin 1995, 103–124 ): Die Erzählung, die von Muḥammads Initiation durch den Erzengel Gabriel auf dem Berg Ḥirāʾ berichtet, verarbeitet biblische Topoi (vgl. dazu neben Rubin 1995 noch Mirmehdi 1998, 28–35 und Ǧuʿayyiṭ 1999, 36, 39) und kann schon aufgrund ihres hagiographischen Charakters kaum als historische Quelle gelten (vgl. Ǧuʿayyiṭ 1999, 33–46 mit weiteren Gegenargumenten; optimistischer: GdQ, Bd. 1, 78–83 ; s. die Kritik in Sinai 2008, 150–152 ). Überdies setzt eine Frühdatierung – die ja in den islamischen Quellen nicht für die gesamte Sure, sondern nur für V. 1–5 vertreten wird – voraus, dass V. 6–19 als spätere Erweiterung zu verstehen sind, denn zumindest dass dritte Gesätz unterstellt, dass die koranischen Verkündigungen ihre Hörerschaft bereits in Anhänger und Gegner gespalten haben, kann also unmöglich zur allerfrühesten Schicht der Koranverkündigungen gehören. Dafür, dass V. 6–19 ein späterer Zusatz sind, gibt es textimmanent jedoch keinerlei Indizien (s. u.). Der Text gehört damit zu jenem Surentypus, der bereits eine Interaktion zwischen Sprecher und Hörern reflektiert, er kann folglich nicht die erste koranische Verkündigung gewesen sein, wie die Tradition – sicher auch aufgrund der Wurzelidentität des im Anfangsverses stehenden Verbs iqraʾ mit dem späteren ‚Buchtitel’ qurʾān – annimmt. Überhaupt ist fraglich, ob der einleitende Imperativ auf eine spezifische, in der Biographie des Verkünders präzise verortbare Situation zu beziehen ist: Die Aufforderung gilt allgemein und bezieht neben dem unmittelbar angesprochenen Verkünder wohl auch gewöhnliche Gläubige mit ein. Hier wie in anderen Suren sind aus dem Korantext prophetenbiographische Daten deduziert worden, die dann in einem gedanklichen Zirkel wieder zur Erklärung des Koran eingesetzt werden.
Die traditionelle Frühdatierung des Textes wäre nur haltbar, wenn man V. 6–19 – die vorauszusetzen scheinen, dass Muḥammads Verkündigung bereits Anhänger und Widersacher gefunden hat – als eine spätere Erweiterung des ursprünglichen Nukleus V. 1–5 wertet. Gegen GdQ, Bd. 1, 84 , ist in Abwesenheit schlüssiger Indizien, die auf eine Interpolation deuten, jedoch von der genetischen Einheitlichkeit der Sure auszugehen – zur Begründung literarkritischer Scheidungen reichen außerkoranische Erzählungen, die immer auch hagiographisch motivierte Ausschmückungen sein können, prinzipiell nicht aus, das Postulat einer sekundären Zusammenstellung der Sure müsste auch durch textimmanente Beobachtungen belegt werden. Für eine enge und damit zumindest prima facie auch ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Anfang und Ende des Textes spricht auch die von Neuwirth hervorgehobene Wiederaufnahme der für den ersten Teil charakteristischen rhetorischen Figur der Konkatenation (V. 1.2 sowie V. 4.5) gegen Ende (V. 15.16) ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 273 und 278 ).
Die Sure könnte als eine Vorform der später üblich werdenden dreiteiligen Sure mit Schlussteil Prophetenzuspruch gelten, wobei der Schlussteil allerdings nur aus einem einzigen Vers (V. 19) bestünde; den Mittelteil würden V. 6–18 bilden (so ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 266 ). Betrachtet man den Text jedoch für sich, liegt es näher, V. 19 als Abschluss des vierten Gesätzes aufzufassen, da die Annahme von nur aus einem einzigen Vers bestehenden Gesätzen prinzipiell nicht überzeugend erscheint. Insgesamt ist die Sure deshalb wohl aus vier Gesätzen aufgebaut, von denen das erste hymnisch geprägt ist und Einleitungscharakter hat. Die folgenden drei polemischen Gesätze gehören thematisch eng zusammen, das dritte und das vierte sind sogar pronominal verknüpft („er“). Die Sure beginnt und schließt mit einem Aufruf an den Verkünder. Inhaltlich weist sie eine transparente Gedankenführung auf, die gegen den Versuch einer literarkritischen Zerlegung spricht: Sie setzt ein mit einer Vergegenwärtigung von Gottes gnadenvoller Zuwendung in Schöpfung und Offenbarung, kontrastiert diese mit der Undankbarkeit des Menschen, illustriert letztere mit dem Charakterbild eines exemplarischen Bösen, dem dann die von ihm zu gewärtigende Höllenstrafe angekündigt wird. Dabei findet sich die Sequenz Anklage – Strafansage bereits in früheren Texten wie Q 102 und entspricht der Grundform alttestamentlicher Unheilsprophezeiungen (s. den Kommentar zu Q 102).
Michel Cuypers will in der Sure wie auch in zahlreichen anderen Korantexten konzentrische Strukturen ausmachen: Den Abschnitt V. 6–19 gliedert er in vier chiastisch miteinander korrespondierende Segmente A (V. 6–8), B (V. 9–13), B’ (V. 15–18), A’ (V. 19), in deren Mitte V. 14 als „membre central“ stehe ( Cuypers 2000, 118 ff. ). Bei näherer Betrachtung erweisen sich die von ihm statuierten Korrespondenzbeziehungen zwischen den einander paarweise zugeordneten Textstücken A und A’ sowie B und B’ jedoch als wenig tragfähig: Zwar beginnen Cuypers Segmente A und A’ beide mit der Interjektion kallā, doch findet sich diese auch zu Beginn von Textstück B’ in V. 15. Auch die von ihm postulierte Synomie zwischen V. 8 (ʾinna ʾilā rabbika r-ruǧʿā) und dem zweiten Teil von V. 19 (wa-sǧud wa-qtarib) (ebd., 121) ist außerordentlich zweifelhaft: Während V. 8 mit großer Sicherheit auf das Jüngste Gericht anspielt, in erster Linie also die unfreiwillige „Rückkehr“ des in V. 6.7 gescholtenen Frevlers zu seinem göttlichen Schöpfer und Richter meint, geht es in V. 19 um die freiwillige Annäherung an Gott im Gebet; auch terminologisch und syntaktisch weisen die beiden Verse keinerlei Bezüge auf. Angesichts dieses Befundes dürfte die zweifellos bestehende Antonymie zwischen den Verben ṭaġā (zu Beginn von Segment A in V. 6) und ʾaṭāʿa (am Ende von Segment A’ in V. 19) kaum ausreichen, um das von Cuypers unterstellte Korrespondenzverhältnis zwischen den Abschnitten V. 6–8 (A) und V. 19 (A’) zu etablieren, die zudem eine ganz ungleiche Länge aufweisen. Zwischen den beiden Textteilen B (V. 9–13) und B’ (V. 15–18) schließlich scheint Cuypers gar keine Parallelen auszumachen, die seine These von einer spiegelbildlichen Entsprechung stützen würde. Die angebliche Mittelstellung von V. 14 beruht damit ganz offensichtlich darauf, dass dem Text ein vorgefasstes Schema aufoktroyiert wird.
Überblick
1.2 3K3q | 1 1.2 liturgischer Aufruf mit relativisch angeschlossenen Werkaffirmationen |
3–5 3(K)K3m | 3–5 liturgischer Aufruf mit relativisch angeschlossenen Werkaffirmationen (V. 4.5) |
6–14 3(K)Kā | 2 6.7 ʾinsān-Spruch (rügend) |
8 theologische Prädikation (warnend) | |
3 9–14 polemische Schilderung des Bösen (drei Verspaare, jeweils durch a-raʾaita eingeleitete Fragen) | |
15–18 āKiyah | 4 15–18 Drohwort (Forts. von V. 9–14) |
19 arib | 19 liturgischer Aufruf |
Proportionen: 5+[3+6+5].