بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
وَٱلضُّحَىٰ |
11 Beim hellen Morgen |
وَٱلَّيۡلِ إِذَا سَجَىٰ |
2 und bei der Nacht, wenn sie still ist! |
مَا وَدَّعَكَ رَبُّكَ وَمَا قَلَىٰ |
23 Dein Herr hat dich nicht verlassen und nicht verworfen; |
وَلَلۡٴَاخِرَةُ خَيۡرٌۭ لَّكَ مِنَ ٱلۡأُولَىٰ |
4 das Jenseits ist besser für dich als das Diesseits; |
وَلَسَوۡفَ يُعۡطِيكَ رَبُّكَ فَتَرۡضَىٰۤ |
5 dein Herr wird dir geben, dass du zufrieden sein wirst. |
أَلَمۡ يَجِدۡكَ يَتِيمًۭا فَـَٔاوَىٰ |
36 Fand er dich nicht als Waise und nahm dich auf? |
وَوَجَدَكَ ضَآلًّۭا فَهَدَىٰ |
7 Fand er dich nicht irrend und leitete dich? |
وَوَجَدَكَ عَآئِلًۭا فَأَغۡنَىٰ |
8 Fand er dich nicht bedürftig und machte dich reich? |
فَأَمَّا ٱلۡيَتِيمَ فَلَا تَقۡهَرۡ |
49 So tu der Waise nicht Unrecht, |
وَأَمَّا ٱلسَّآئِلَ فَلَا تَنۡهَرۡ |
10 weise den Bittenden nicht ab |
وَأَمَّا بِنِعۡمَةِ رَبِّكَ فَحَدِّثۡ |
11 und kündige von der Gnade deines Herrn! |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Die als „Basmala“ bezeichnete Formel bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm steht mit Ausnahme von Sure 9 jeder Koransure voran. Da ar-Raḥmān erst ab mittelmekkanischer Zeit zu einer häufig verwendeten Gottesbezeichnung avanciert, steht zu vermuten, dass die Basmala-Einleitungen der frühmekkanischen Suren nachträglich hinzugesetzt sind. Einen terminus ante quem hierfür stellt der mittelmekkanische Vers 27:30 dar, in dem ein durch die Basmala eingeleitetes Schreiben Salomos zitiert wird – zum Zeitpunkt der Verkündigung von 27:30 hatte die Basmala also bereits den Status einer selbstverständlichen Einleitungsformel erworben (vgl. GdQ, Bd. 1, 117 ).
Insofern die Basmala die Identität von Allāh und ar-Raḥmān festschreibt, liegt es nahe zu vermuten, eine solche Gleichsetzung könne nicht trivial gewesen sein. Tatsächlich scheinen die beiden Gottesnamen aus unterschiedlichen religiösen Kontexten zu stammen. Allāh wird auch von den Gegnern der koranischen Verkündigung als Schöpfer, als Nothelfer sowie als Gottheit des mekkanischen Heiligtums anerkannt, wobei ihm allerdings verschiedene Lokalgottheiten als Mittler und Fürsprecher untergeordnet werden (s. die Anmerkung zu 95:8 sowie Crone 2010 ). Der auf rabbinischen Sprachgebrauch zurückgehende Gottesname ar-Raḥmān (s. ausführlich die Anmerkung zu 55:1) hingegen dürfte über den jüdisch geprägten ḥimyaritischen Monotheismus in das koranische Milieu gelangt sein (ein ähnlicher Weg – nämlich die Vermittlung einer rabbinischen Begrifflichkeit über Südarabien –ist auch für den polemischen Begriff der „Beigesellung“,š-r-k, wahrscheinlich, vgl. die Anmerkung zu 68:41). Da er im Koran verschiedentlich auch in drohenden Zusammenhängen auftritt, hält Arne Ambros es für fraglich, dass der Ausdruck zum Zeitpunkt der Koranverkündigung in erster Linie mit Barmherzigkeit assoziiert worden ist ( Ambros, Dictionary, 305 ). Doch auch wenn die Assoziation der Wurzel r-ḥ-m mit Barmherzigkeit den koranischen Hörern auf latente Weise bewusst war, so dürfte der Ausdruck ar-Raḥmān doch primär den Charakter eines Eigennamens (‚der Raḥmān’) gehabt haben. Möglicherweise war er aufgrund seiner Herkunft enger als Allāh mit der biblischen Tradition verbunden, wiewohl Allāh auch von den koranischen Gegnern mit dem biblischen Gott identifiziert worden zu sein scheint (s. o.) und die traditionelle Annahme, der Ausdruck ar-Raḥmān sei ihnen unvertraut gewesen, durch Crone in Frage gestellt worden ist (s. Crone 2010, 166 ff. sowie die Anmerkung zu 55:1). Die erstmals gegen Ende der frühmekkanischen Periode – nämlich in 55:1 – dokumentierte Verwendung des Gottesnamens ar-Raḥmān könnte insofern der terminologischen Abgrenzung von den mušrikūn gedient haben, deren Anerkennung von engelartigen Mittlergottheiten in etwa zur selben Zeit zum Gegenstand heftiger koranischer Kritik wird (vgl. Q 53:19–22.24.25 und ähnlich 52:39 sowie die kategorischeren Feststellungen in 73:9 und 51:51). Geht man davon aus, dass ar-Raḥmān zunächst eher Namenscharakter hatte (‚der Raḥmān’), so wird auch verständlich, warum er in der Basmala durch das auf den ersten Blick redundant erscheinende Adjektiv raḥīm (das neben der Basmala noch in 2:163, 27:30, 41:2 und 59:22 auf raḥmān folgt; s. GdQ, Bd. 1, 112–114, Anm. 1, Abschn. IV ) erklärt wird; vgl. Ambros, Dictionary, 305 , wonach raḥīm „may be thought to explicate the meaning of ar-raḥmān“ (Nöldeke und Schwally vermuten in GdQ, Bd. 1, 112–114, Anm. 1, Abschn. III hingegen, raḥīm sei „behufs Steigerung des Begriffes zu dem Substantiv raḥmān gesetzt worden“, während Greenfield 2000, 390 die Verbindung ar-raḥmāni r-raḥīm mit dem biblischen raḥûm wǝ-ḥannûn aus Exodus 34:6 zusammenstellt, das eine wichtige Rolle in der jüdischen Liturgie spielt). In der Basmala werden die beiden unterschiedlichen Kontexten entstammenden Gottesbezeichnungen Allāh und ar-Raḥmān dann „amalgamiert“ ( Böwering, „God and his attributes“, EQ , mit Verweis auf van Ess, 1975 ): Der Ausdruck Raḥmān wird von einem eigenständigen Gottesnamen zu einem Epitheton Allāhs.
Die Struktur der Basmala mit der Einleitung „im Namen ...“ und drei darauf folgenden Nomina legt darüberhinaus jedoch noch eine weitere Aussageabsicht nahe. Die Formel erinnert nämlich frappierend an das christliche „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (ich verdanke diese Beobachtung David Kiltz; als neutestamentliche Quelle der christlichen Formel vgl. Matthäus 28:19: πορευθέντες οὖν μαθητεύσατε πάντα τὰ ἔθνη, βαπτίζοντες αὐτοὺς εἰς τὸ ὄνομα τοῦ πατρὸς καὶ τοῦ υἱοῦ καὶ τοῦ ἁγίου πνεύματος ..., „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes ...“). Zugleich fällt jedoch ein wichtiger Unterschied in der theologischen Aussage ins Auge: Während die christliche Formel die drei Personen der Dreifaltigkeit nennt – Vater, Sohn, Heiliger Geist –, stehen in der Basmala zwei Gottesnamen und ein Attribut, die nach koranischem Verständnis allesamt auf ein und dieselbe göttliche Person Bezug nehmen. Offenbar fungiert also gerade die formale Analogie zur christlicher Taufformel als Hintergrund für eine um so nachdrücklichere inhaltliche Absetzung. – Daneben existiert auch eine mittelpersische Parallele zur Basmala, nämlich die zu Beginn der „Chronik des Ardaschir“ zu findende Formel Pat nām i dātār Ohurmazd i rāyōmand i xwarrahōmand, „Im Namen des Schöpfers Ohurmazd, des Glänzenden, des Lichtvollen“ (Hinweis von A. I. Mohr; vgl. TUK, Nr. 418). Sofern dieser Text wirklich aus vorkoranischer Zeit stammt (was keineswegs sicher ist), wäre er ein Indiz dafür, dass die Basmala einem im Nahen Osten des 6. und 7. Jh. verbreiteten Typus von Segensformeln entspricht.
Zur Übersetzung des Gottesnamensraḥmān: Die weitgehende semantische Äquivalenz von raḥmān und raḥīm ist im Deutschen nicht ganz einfach wiederzugeben. Obwohl in der gewählten Übersetzung von ar-raḥmān ar-raḥīm mit „der barmherzige Erbarmer“ dem Gottesnamen ar-raḥmān eigentlich das Substantiv „der Erbarmer“ entspricht, wird der Ausdruck ar-raḥmān dennoch in allen anderen Fällen, in denen er ohne das Attribut raḥīm erscheint, mit „der Barmherzige“ wiedergegeben. Das hat vor allem stilistische Gründe: „Im Namen Gottes, des erbarmenden Barmherzigen“ o. Ä. klingt sprachlich wenig glücklich.
wa-ḍ-ḍuḥā / wa-l-laili ʾiḏā saǧā] Zu V. 1 vgl. 91:1 (wa-š-šamsi wa-ḍuḥāhā), zu V. 2 vgl. 92:1 (wa-l-laili ʾiḏā yaġšā), 91:4 (wa-l-laili ʾiḏā yaġšāhā), 89:4 (wa-l-laili ʾiḏā yasr), 84:17 (wa-l-laili wa-mā wasaq), 81:17 (wa-l-laili ʾiḏā ʿasʿas), 74:33 (wa-l-laili ʾiḏ ʾadbar). Zu grundsätzlichen Hinweisen zu den koranischen Schwüren sowie ihrer wahrscheinlichen, aber bis dato noch nicht hinreichend untersuchten Anlehnung an ein charakteristisches Ausdrucksmittel altarabischer Seher (kuhhān) s. die Anmerkung zu 100:1–5. Einen ausführlichen Abriss sowohl der westlichen Forschungsgeschichte als auch islamischer Deutungsansätze bietet Kandil 1996, 16–158 .
Grundsätzliches zu ‚akkumulativen’ Schwurserien im Koran: Generell lassen sich im Koran zwei distinkte Typen von Schwüren unterscheiden: einerseits die erstmals in 100:1–5 (Gruppe I) belegten fāʿilāt-Serien, die metonymisch verschiedene Stadien eines dynamischen Bewegungsablaufs umschreiben, andererseits wie im vorliegenden Verspaar ‚akkumulative’ Schwurserien, die eine Reihe separater und (bis auf eine Ausnahme, vgl. 81:15.16) explizit benannter Einzelphänomene auflisten. Die frühesten Belege für diese zweite Kategorie sind das vorliegende Verspaar sowie der einzelne Schwur beim Nachmittag in 103:1 (s. die Anmerkung ebd.), die beide zu Gruppe I gehören. Fast alle in Gruppe II begegnenden Schwüre ähneln strukturell stark 93:1.2: Als Schwurgegenstände erscheinen gewöhnlich grundlegende kosmische Gegebenheiten wie Tageszeiten oder Gestirne, die – wie im vorliegenden Verspaar – fast immer zu antithetischen Paaren wie Sonne und Mond oder Nacht und Morgen kombiniert sind. Im Einzelnen handelt es sich um die folgenden Stellen:
Auch in den Gruppen IIIa und IIIb erscheinen noch ähnliche Schwüre bei Himmelsphänomenen, die z. T. auch Gegensatzpaare bilden, doch beschränken sich die fraglichen Stellen auf einzelne Verse und sind deshalb literarisch sehr viel weniger prominent als die für Gruppe II charakteristischen Serien (vgl. 70:40: „beim Herr des Ostens und des Westens“, 56:75: „bei den Orten, an denen die Sterne untergehen“, 53:1: „Beim Stern, wenn er untergeht!“, 51:7: „Beim Himmel mit seinen Bahnen!“, 51:23: „Beim Herrn des Himmels und der Erde!“; vgl. noch 69:38.39: „was ihr seht und was ihr nicht seht“, den man ebenfalls als Schwur bei einer grundlegenden kosmischen Opposition auffassen kann).
Eine zweite Art von akkumulativen Schwüren tritt mit 95:1–3 (Feigen- und Olivenbaum, Berg Sinai und „dieser sichere Ort“ = Mekka) ebenfalls bereits ab Gruppe I auf. Sie lassen sich am ehesten als ‚ikonische’ Schwüre beschreiben, die keine kosmischen, sondern sakral oder eschatologisch konnotierte Gegebenheiten benennen. In Gruppe II zählen dazu die beiden Passagen 85:1–3 (Himmel, Jüngster Tag, „Zeuge und Bezeugtes”) und 90:1–3 („dieser Ort“ = Mekka, Erzeuger und Gezeugtes), die in 85:1 und 90:3 allerdings auch kosmische Elemente enthalten. Weitere ikonische Schwüre begegnen dann auch in den Gruppen IIIa und IIIb (75:1.2: Tag der Auferstehung, Seele, 68:1: Schreibrohr und Geschriebenes).
Interpretative Probleme werfen nun vor allem die weiter oben aufgeführten kosmischen Schwurpassagen auf: Anders als bei religiösen oder eschatologischen Schwurgegenständen wie dem Jüngsten Tag (85:2, 75:1) oder dem Berg Sinai (95:2) liegt der inhaltliche Bezug zum Rest der Sure hier nicht immer ohne weiteres zutage. Grundsätzlich ist dabei in Rechnung zu stellen, dass gerade nicht eschatologisch konnotierte koranische Schwurgegenstände wie Tag und Nacht oder Sonne und Mond bereits aus altarabischen Orakelsprüchen vertraut gewesen sein dürften, ihre Nennung also auch den Konventionen der Redeform Schwur geschuldet sein könnte. So belegen die in der islamischen Tradition überlieferten Beispiele für kuhhān-Sprüche – deren Authentizität vorerst allerdings nicht sicher zu beurteilen ist (s. die Anmerkung zu 100:1–5) – die Nennung von grundlegenden kosmischen Gegensätzen wie Licht und Dunkelheit ( Ibn Ḥabīb 1964, 96, Z. 7 ; Übersetzung der Stelle in Serjeant 1983, 126 ; vgl. a. die bekannte Prophezeiung des Dammbruchs von Marib in Kandil 1996, 171 ) oder Tageszeiten ( Kandil 1996, 173 ), von Himmelsphänomenen wie Mond und Sternen ( Ibn Ḥabīb 1964, 99, Z. 13 f. , und ebd., 103, Z. 1 f. ; letzterer Passus übersetzt in Hoyland 2001, 220 f. ; vgl. erneut die Marib-Prophezeitung in Kandil 1996, 171 , wo Himmel und Erde genannt werden), aber auch der mekkanischen Kaʿba (s. ebenfalls Ibn Ḥabīb 1964, 96, Z. 7 ; s. a. Kandil 1996, 166–170 ). Die Wahl derartiger Schwurgegenstände ist letzten Endes kaum überraschend: Sie stellen Gegebenheiten von schlechthinniger Evidenz dar, die sich als solche zur Bekräftigung bedeutsamer Äußerungen anbieten (‚So wahr die Sonne aufgeht ...’).
Die Konstatierung einer wahrscheinlichen literargeschichtlichen Kontinuität zwischen koranischen und vorkoranischen Schwüren sollte allerdings nicht dazu verleiten, die koranischen Schwüre einfach nur als Relikte vorkoranischer Orakelsprüche zu betrachten. Insbesondere bei längeren koranischen Schwurserien wie 92:1–3, 91:1–8 oder 89:1–4 ist zu fragen, ob die Verwendung der Schwurform hier nicht mehr leistet als nur eine äußerliche Affirmation der folgenden Aussage bzw. ob die durch die Schwurgegenstände transportierten Bildsetzungen nicht selbst Teil der getroffenen Aussage sind. Den bisher einzigen systematischen Versuch einer solchen literarischen Deutung der koranischen Schwüre hat Angelika Neuwirth entwickelt ( Neuwirth, „Horizont“ ; zu den hier betrachteten ‚akkumulativen’ Schwurpassagen s. ebd., 18–28; zu ihrer Analyse der fāʿilāt-Serien s. die Anmerkungen zu 100:1 ff., 77:1 ff. und 51:1 ff.). Neuwirth weist u. a. darauf hin, dass die in 93:2 genannte Nacht anderswo (frühmekkanisch 73:1–9 und 52:49, mittelmekkanisch 50:40) ausdrücklich als Zeitpunkt von Andachtsübungen erwähnt wird, und dass auch der in 93:1 figurierende Tagesanbruch (aḍ-ḍuḥā) – wenn auch unter anderer Bezeichnung – in mittelmekkanischer Zeit als Gebetszeit belegt ist (17:78: qurʾān al-faǧr, die „Koranrezitation bei Sonnenaufgang“, und 50:39, wo der Lobpreis Gottes qabla ṭulūʿi š-šamsi gefordert wird; beide Stellen nennen neben Nacht und Tagesanbruch noch den Sonnenuntergang als zusätzliche Gebetszeit). Die islamische Tradition weiß überdies zu berichten, dass der Tagesanbruch bereits in vorislamischer Zeit für Dankgebete genutzt worden sei ( Rubin 1987 ). Vor diesem Hintergrund formuliert Neuwirth die Hypothese, die Zeitangaben in den weiter oben aufgeführten kosmischen Schwurpassagen würden auf Gebets- oder Andachtszeiten anspielen: Die durch sie eröffneten Suren seien „als Kompositionen zu begreifen, bei denen die einleitende Schwurserie die Funktion hat, die durch Nennung bestimmter Gottesdienstzeiten evozierbaren liturgischen Erfahrungen des Offenbarungs-Empfängers festzuhalten, sie durch Präsenthaltung bestimmter, die gottesdienstlichen Übungen begleitenden Licht-Dunkel-Wahrnehmungen ins Bewußtsein zu ‚bannen’ und damit der gesamten Sure einen hymnischen Grund-Tenor zu unterlegen“ ( Neuwirth, „Horizont“, 21 ).
Neuwirths liturgischer Deutungsversuch ist allerdings zwei Einwänden ausgesetzt. Erstens sind alle koranischen Belege für zu bestimmten Tageszeiten abgehaltene Andachts- oder Gebetsübungen später als Gruppe II der frühmekkanischen Suren, zu der die fraglichen Schwurserien ja allesamt gehören. Dies gilt sogar für 73:1 ff., den einzigen frühmekkanischen Beleg, der wohl Gruppe IIIb zuzuordnen ist (zur Frage der Datierung s. den Kommentar zu Q 73). Es ist insofern mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die in Q 73 dokumentierten Vigilien erst gegen Ende der frühmekkanischen Zeit mit dem allmählichen Anwachsen von Muḥammads Anhängerschaft und der beginnenden Herausbildung einer koranischen Urgemeinde aufgekommen sind. Zweitens legen die auf die betreffenden Schwüre folgenden Schwuraussagen sowie die jeweils im weiteren Textverlauf angesprochenen Themen häufig keineswegs eine liturgische Interpretation nahe. In der Regel schließen sich nämlich Aussagen an, welche die Überwachung und endzeitliche Rechenschaftsablegung der menschlichen Seele festhalten, vgl. 92:4: „Euer Mühen ist verschieden“, 91:9.10: „Es gedeiht, wer sie (die Seele) läutert; / zuschande wird, wer sie zugrunde richtet“, 86:4: „Es gibt keine Seele, über der nicht ein Hüter ist“, 84:19: „Ihr werdet in Notlage um Notlage geraten“. Auch wenn an einer Stelle eine Offenbarungsbestätigung folgt, welche die göttliche Herkunft der koranischen Verkündigungen bekräftigt (81:19 ff.), und in der vorliegenden Sure 93 als Schwuraussage ein Zuspruch an den Verkünder steht, so sind kosmische Schwurserien doch zumindest in der Mehrzahl der Fälle mit ausdrücklichen Verweisen auf die eschatologische Kernbotschaft der frühmekkanischen Texte assoziiert und münden in eine warnende oder drohende Pointe. Neuwirths Feststellung, dass sich „in den mit Schwüren bei Tag- und Nachtzeiten eingeleiteten Suren“ generell eine „enge Annäherung von Gott und Mensch“ mitteilt ( „Horizont“, 20 ), scheint mir insofern weiterer Überprüfung bedürftig (vgl. aber die Anmerkung zu 89:1.2, wo eine kultische Deutung der dort genannten „zehn Nächte“ weiterhin diskutabel bleibt; auch in der gegen Ende der frühmekkanischen Zeit und in etwa gleichzeitig mit Q 73 anzusetzenden Stelle 53:1 könnte vielleicht eine Anspielung auf Vigilien vorliegen).
Welchen Sinn haben die fraglichen Schwüre aber dann? Zu den für die Gruppen IIIa und IIIb typischen kürzeren Schwüre (vgl. 56:75: „bei den Orten, an denen die Sterne untergehen“, 53:1: „Beim Stern, wenn er untergeht!“, 51:7: „Beim Himmel mit seinen Bahnen!“) ist vielleicht nicht mehr zu sagen, als dass es sich um rhetorische Mittel zur Erzeugung von Emphase und zur Markierung von Textzäsuren handelt. Anders verhält es sich mit den für Gruppe II charakteristischen Schwurserien. Einen exegetischen Anhaltspunkt bietet die Beobachtung, dass kosmische Schwurgegenstände in Gruppe II zumindest gelegentlich mit Verweisen auf ihren göttlichen Schöpfer verbunden sind (92:3: „Bei dem, was Männliches und Weibliches erschuf!“; vgl. ausführlicher 91:5–8) und Gottes Herrschaft über entsprechende Phänomene in Gruppe IIIb sogar ganz explizit formuliert wird (51:23: „Beim Herrn des Himmels und der Erde!“). Die grundlegende Aussage solcher kosmischen Schwurpassagen ist deshalb wohl darin zu erblicken, dass die sich in der Schöpfung erweisende göttliche Allmacht als Argument für die grundsätzliche Möglichkeit einer Auferweckung und Aburteilung der Toten dienen soll. In späteren Texten mit ihren viel argumentativeren Ausdrucksmöglichkeiten wird der zugrundeliegende Gedankengang dann explizit formuliert, vgl. etwa den zu Gruppe IIIb zählenden Passus 75:37–40: „War er (der Mensch) nicht ein Tropfen von ausgestoßenem Samen, / und darauf etwas Klebriges? Dann schafft und formt er ihn / und macht daraus die beiden Geschlechter, Mann und Frau. / Ist der nicht imstande, die Toten zu beleben?“ Schwüre bei Tag und Nacht oder Sonne und Mond sind deshalb nicht in erster Linie als Anspielungen auf liturgische Übungen zu interpretieren, sondern – analog zu den ebenfalls bereits in Gruppe I belegten Werkaffirmationen – als Verweise auf die monumentalen Ausmaße des von Gott geschaffenen und am Ende der Welt wieder abgetragenen Kosmos. Bereits in altarabischen Orakelsprüchen auftretende Schwurgegenstände wie Himmelskörper oder grundlegende kosmische Gegensätze erhalten so eine neuartige theologische Signifikanz – eine für den Koran auch sonst charakteristische Indienstnahme älterer literarischer Formen und Topoi.
Der allgemeine Zusammenhang von kosmischen Schwurserien und eschatologischer Pointe ist also einigermaßen einsichtig. Auch das in den meisten längeren Schwurpassagen besonders prominente Motiv binärer Kontraste (Sonne und Mond, Nacht und Tag, männlich und weiblich etc.) passt in die gerade entwickelte Deutung hinein. Besonders deutlich wird dies in Q 91 und 92, wo jeweils auf eine Schwurserie eine auf der Grundlage von Verheißung und Drohwort gebildete Antithese folgt (91:9.10, 92:5–11) – das den gesamten natürlichen Kosmos durchziehende Phänomen der Dualität erscheint hier als makrokosmisches Gegenstück des moralischen Kontrasts von gut und böse und der diesen beiden moralischen Valenzen entsprechenden Jenseitsschicksale (Seligkeit und Verdammnis), wie Neuwirth dies exemplarisch für Q 92 feststellt: „Die beiden elementaren Gegensatzpaare der Schwurserie Tag/Nacht, männlich/weiblich bilden die strukturelle Matrix für die Gegensätzlichkeit der Bestrebungen der angesprochenen Menschen, die wiederum gegensätzliche Arten der Vergeltung nach sich ziehen.“ ( Neuwirth, „Horizont“, 24 ).
Das Motiv der Dualität ist es auch, welches die ansonsten eher ungewöhnliche Kombination von kosmischem Schwur und Zuspruch an den Verkünder in der vorliegenden Sure 93 verständlich macht. Denn der Surenfortgang ist maßgeblich durch Kontrastierungen geprägt: Dies gilt bereits für V. 4 mit seiner Entgegensetzung von Jenseits und Diesseits, insbesondere aber für die Rückblicke auf dem Verkünder in der Vergangenheit erwiesene Wohltaten in V. 5–8, die jeweils Zustände des Mangels und der gottgewirkten Erfüllung gegenüberstellen (s. u.). Auch hier präludiert der Schwur also einer zentralen Aussage der Sure bzw. unterlegt ihr eine „Bildmatrix“ (Neuwirth). Ob der Gegensatz von Tagesanbruch und Nacht allerdings bereits in der neben 103:1 frühesten akkumulativen Schwurfolge 93:1.2 schöpfungstheologisch zu verstehen ist, wie dies in Q 91 und 92 der Fall ist, lässt sich nicht sicher feststellen. Gleichwohl erscheint in Ermangelung von mit Q 93 kontemporären koranischen Zeugnissen für die in Q 73 reflektierten Vigilien auch für 93:1.2 eine spezifisch liturgische Deutung des Gegensatzes von Morgen und Nacht problematisch.
mā waddaʿaka rabbuka wa-mā qalā] Vgl. dazu Psalm 22:25: כִּ֤י לֹֽא־בָזָ֙ה וְלֹ֪א שִׁקַּ֡ץ עֱנ֬וּת עָנִ֗י וְלֹא־הִסְתִּ֣יר פָּנָ֣יו מִמֶּ֑נּוּ, „Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 79 ). – Andrew Rippin hat zu bedenken gegeben, dass das „Du“ der Sure nicht notwendigerweise auf Muḥammad oder irgendeine andere singuläre historische Persönlichkeit bezogen werden muss, sondern dass es sich auch um das generischen „Du“ handeln könnte, das etwa in den Zehn Geboten auftritt (Rippin 2004, 299). Da sich die zweite Person Singular aber zumindest in späteren Texten ganz offensichtlich an ein konkretes und mit der Verlautbarung der koranischen Verkündigungen beauftragtes Individuum richtet, erscheint es allerdings prima facie keineswegs unwahrscheinlich, dass auch das „Du“ der Trostsuren 93, 94 und 108 Muḥammad intendiert. Doch auch wenn man aus gutem Grund bei der üblichen Identifikation des „Du“ mit dem koranischen Verkünder bleibt, so kommt diesem doch zugleich eine exemplarische Stellung zu: Indem die Sure an seinem Lebenslauf Gottes Zuwendung und Obhut demonstriert, lädt sie ihre Hörerschaft zugleich dazu ein, in ihrer eigenen Biographie ähnliche Spuren göttlicher Involviertheit aufzufinden. Diese über die Person Muḥammads hinausgreifende Intention des Textes zeigt sich deutlich am allgemeinen Anspruch der abschließenden Verhaltensnormen, die ja keinesfalls den Status von nur für den prophetischen Verkünder geltenden Privatinstruktionen haben. Rippin hat insofern Recht damt, dass eine Sure wie Q 93 nicht lediglich in ihrer Bezogenheit auf das (sowieso nur hypothetisch zu erschließende) Seelenleben Muḥammads, etwa als Ermunterung nach einer nicht näher beschriebenen Enttäuschung o. Ä., interpretiert werden sollte. Die angesprochenen persönlichen Erfahrungen könnten deswegen auch als textreferentielle Topoi zu verstehen sein, die sich nicht notwendigerweise auf spezifische biographische Geschehnisse projizieren lassen. S. a. die Anmerkungen zu 108:3 und 111:2. – Zum Gottestitel rabb vgl. die Anmerkung zu 95:8.
wa-la-l-ʾāḫiratu ḫairun laka mina l-ʾūlā] Vgl. insbesondere 87:17 (wa-l-ʾāḫiratu ḫairun wa-ʾabqā). Als Gegenbegriff zu al-ʾāḫira findet sich in frühmekkanischer Zeit entweder wie hier al-ʾūlā, „das Diesseits“ (vgl. noch 92:13, 79:25 und 53:25), oder aber das räumlich konnotierte al-ḥayāt ad-dunyā („das Leben hienieden“, „das Leben auf der niedersten Sphäre“; vgl. 87:16.17, 79:38, 53:29; s. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 80 ). In der jüdisch-christlichen Tradition liegt ein analoges Begriffspaar insbesondere mit dem rabbinischen Kontrast von ha-ʿolam ha-ze („diese Welt“) und ha-ʿolam ha-ba („die kommende Welt“) vor; vgl. exemplarisch die in der Mischna, Sanhedrin, Kap. 10, erörterte Frage, wer „keinen Anteil an der kommenden Welt hat“, und die sich im babylonischen Talmud daran anknüpfenden Debatten (insb. fol. 90b unten, wo beide Begriffe kontrastierend verwendet werden). Zumindest ad-dunyā ist bereits in der vorkoranischen Dichtung geläufig ( Izutsu 1964, 86–88 ) und setzt implizit die Vorstellung von einem ‚Jenseits’ (al-ʾāḫira) voraus, auch wenn der Dichter dessen reale Existenz ausdrücklich bestreiten mag. Möglicherweise setzt sich der poetische dunyā-Diskurs also bewusst und terminologisch pointiert von jüdisch-christlichen Jenseitsvorstellungen ab, während das koranische Insistieren auf der Höherwertigkeit des Jenseits (93:4, 87:17 etc.) wiederum Stellung gegen die Dichtung bezieht.
wa-la-saufa yuʿṭīka rabbuka fa-tarḍā] Zu der durchgängig eschatologisch konnotierten Wurzel r-ḍ-y s. die Anmerkung zu 101:7. Zum gesamten Vers vgl. die allerdings nicht eschatologisch zu deutende Verheißung in Psalm 20:5: יִֽתֶּן־לְךָ֥ כִלְבָבֶ֑ךָ וְֽכָל־עֲצָתְךָ֥ יְמַלֵּֽא, „Er gebe dir, was dein Herz begehrt, und erfülle alles, was du vorhast!“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 80 )
wa-waǧadaka ḍāllan fa-hadā] Formen von hadā bzw. das Verbalsubstantiv hudā erscheinen in frühmekkanischer Zeit noch in 96:11 (ʾa-raʾaita ʾin kāna ʿală l-hudā), 92:12 (ʾinna ʿalainā la-l-hudā), 90:10 (wa-hadaināhu n-naǧdain), 87:3 (wa-llaḏī qaddara fa-hadā) und 79:18.19 (fa-qul hal laka ʾilā ʾan tazakkā / wa-ʾahdiyaka ʾilā rabbika fa-taḫšā; Verkündigungsauftrag an Mose gegenüber Pharao); 74:31 (ka-ḏālika yuḍillu llāhu man yašāʾu wa-yahdī man yašāʾu) und 53:23 (wa-la-qad ǧāʾahum min rabbihimu l-hudā) gehören zu späteren Einschüben, sind also keine genuin frühmekkanischen Belege. Da neben 93:7 keiner dieser Belege zu Gruppe I zu rechnen ist, dürfte es sich beim vorliegenden Vers um das früheste koranische Vorkommnis von hadā handeln. Die durch das Verb ausgedrückte Vorstellung einer persönlichen göttlichen Wegeleitung, die allein ein gelingendes menschliches Leben verbürgt, ist biblisch und besonders im Psalter prominent, vgl. nur Psalm 23:2.3, 25:4.5.8.9, 27:11 etc., aber auch Genesis 24:48. Im Hebräischen stehen hier zumeist hidrīk oder auch hinḥâ, im Griechischen hodēgeō bzw. euodoō; am einheitlichsten ist die Diktion im Syrischen, wo dbar bzw. dabbar die Regel ist und insofern genau wie hadā den Status eines theologischen terminus technicus hat. Für einen psalmischen Hintergrund von koranisch hadā spricht auch die Tatsache, dass Sure 93 – also derjenige Korantext, in dem hadā erstmals im Koran erscheint – weitere motivische und strukturelle Bezüge zu psalmischen Klagegebeten aufweist (s. die übrigen Anmerkungen sowie die Gegenüberstellung von Q 93 und Psalm 13 weiter unten).
fa-ʾammă l-yatīma fa-lā taqhar] Die Forderung, Waisen – die paradigmatischen Schwächsten der Gesellschaft – nicht ungerecht zu behandeln, gehört „zum allgemeinen Themenkreis prophetischer Rede“ ( Bobzin 2005, 65 , der auf Sacharja 7:10, Exodus 22:21.22, Jesaja 1:17 und Jeremia 7:5.6 verweist). Vgl. auch die Anmerkungen zu 107:2.3 und 90:11–16 mit weiteren Bibelstellen und frühmekkanischen Parallelen.
Ibn Masʿūd liest takhar, „schelten“, statt taqhar, „unterdrücken, Unrecht tun“ ( Muʿǧam, ad loc. ; vgl. Birkeland 1956, 34 ). Die Variante ist offenkundig aus mündlicher Textweitergabe zu erklären. Welche Lesart ursprünglicher ist, lässt sich kaum entscheiden. Allerdings entspricht taqhar eher dem prophetischen Topos der Unterdrückung von Witwen und Waisen (s. den Kommentar zu Q 107).
wa-ʾammă bi-niʿmati rabbika fa-ḥaddiṯ] Die Gedankenfigur der aus der erfahrenen Wohltat erwachsenden Verpflichtung formuliert auch Psalm 9:14.15: חָֽנְנֵ֬נִי יְהוָ֗ה רְאֵ֣ה עָ֭נְיִי מִשֹּׂנְאָ֑י מְ֜רוֹמְמִ֗י מִשַּׁ֥עֲרֵי מָֽוֶת׃ לְמַ֥עַן אֲסַפְּרָ֗ה כָּֽל־תְּהִלָּ֫תֶ֥יךָ, „YHWH sei mir gnädig, sieh mein Elend an, hebe mich empor aus des Todes Toren, / damit ich all deine Ruhmestaten erzähle ...“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 85 ).
Zur Wurzel ḥ-d-ṯ s. die Anmerkung zu 77:50. – Der Vers wandelt den Reim 3(K)K3r aus V. 9.10 zu 3KK3ṯ ab. Auch angesichts des inhaltlichen Zusammenhangs ist dies nicht als genuiner Reimwechsel, sondern eher als Reimvariation zu verstehen.
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Anders als die verwandten Suren 94 und 108, die ihren Offenbarungsanspruch durch einen unvermittelten Einsatz im Register göttlicher Wir-Rede deutlich machen, bedient der vorliegende Text sich hierzu der für die altarabische Seherpraxis charakteristischen Textsorte der Schwurserie. Wenn im Folgenden von Gott durchgängig in der 3. Person Singular (anstatt wie in Q 94 und 108 in der 1. Person Plural) die Rede ist, so hat dies wohl auch den Grund, dass die Sure durch ihre Schwureinleitung bereits mit hinreichender Deutlichkeit als ‚mantische’ bzw. übernatürlich inspirierte Rede gekennzeichnet ist. Als Schwurgegenstände erscheinen wie in einer Reihe anderer frühmekkanischer Suren Tageszeiten, genauer: Tagesanbruch und Nacht. Der Kontrast zwischen diesen beiden gegensätzlichen Zeitangaben präfiguriert den im weiteren Textverlauf erscheinenden Gegensatzpaaren: Bereits in V. 4 werden Jenseits in Diesseits genannt, und die Rückblenden in V. 6–8 stellen jeweils einem vorgängigen Zustand des Mangels einen anschließenden Zustand gottgewirkter Fülle entgegen ( Neuwirth, „Horizont“, 22 ; vgl. ähnlich die gnomische Entgegensetzung von ʿusr und yusr, „Schwere“ und „Leichtigkeit“, in 94:5.6).
Dem einleitenden Verspaar folgt als Schwuraussage die Zusicherung, dass Gott den Verkünder „nicht verlassen und nicht verworfen“ hat, an die sich eine Verheißung jenseitiger (V. 4) Erfüllung (V. 5 spricht von „Zufriedenheit“, r-ḍ-y) anschließt. Diese eschatologische Verheißung wird dann durch einen wie in 94:1–4 in Frageform gehaltenen Rückblick auf bereits vorausgegangene Überführungen von Zuständen des Mangels in solche der Erfüllung untermauert; die entsprechenden Verse sind allesamt antithetisch gebaut (yatīm vs. ʾawā, ḍāll vs. hadā, ʿāʾil vs. ʾaġnā). Lehnte sich das einleitende Schwurpaar noch an eine altarabische Redeform an, so weist der Text in V. 3, 5 und 7 nun deutliche Bezüge zu den biblischen Psalmen auf.
Ein Psalmenbezug zeigt sich auch in der Gedankenfigur der sich aus den erfahrenen göttlichen Zuwendungen ergebenden ethisch-religiösen Verpflichtungen, wie sie die drei letzten Verse der Sure aufzählen. Obwohl die Sure sich primär an den koranischen Verkünder richten dürfte, sind gerade die Schlussimperative in ihrer Anwendbarkeit offensichtlich nicht auf diesen begrenzt und gelten auch für den gewöhnlichen Gläubigen (vgl. Bobzin 2005, 65 ). Die ersten beiden, die Behandlung von Waisen und Bettlern betreffenden Anweisungen verweisen auf einen bereits zuvor in 107:2.3 aufgegriffenen biblischen Topos zurück. Zugleich sind die beiden Verse jedoch auch ‚intratextuell’ mit dem Rückblick V. 6–8 verknüpft, die Forderung nach gerechter Behandlung von Waisen und Armen wird organisch aus dem Textzusammenhang entwickelt (zur Korrespondenz von V. 6–8 und V. 9–11 s. a. Cuypers 2000, 104 f. ). Insbesondere V. 9 („So tu der Waise nicht Unrecht“) verweist in seiner Wortwahl auf V. 6 („Fand er dich nicht als Waise und nahm dich auf?“) zurück und macht so terminologisch den allgemeineren Sachzusammenhang von V. 6–8 und V. 9.10 deutlich: Dem Angesprochenen werden den von ihm erfahrenen Gnadenerweisen entsprechende Wohltaten gegenüber anderen, gleichfalls Mangel leidenden Mitmenschen abgefordert. Ist damit bereits ein Brückenschlag von der individuellen Rettungserfahrung zur Öffentlichkeit gesellschaftlicher Interaktion vollzogen, so steigert der Schlussvers diese Dimension der Öffentlichkeit noch einmal: Die Imperativserie kulminiert in dem Auftrag, von der persönlich erfahrenen Zuwendung Gottes zu „erzählen“ und hebt so hervor, auf welchem Weg göttliche Rechtleitung (V. 7: hadā) weitergegeben wird: nicht nur durch Wohltaten an anderen, sondern insbesondere auch durch Verkündigung.
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Q 93 bildet mit Q 94 und Q 108 eine Gruppe kurzer, an den Verkünder gerichteter Trostsuren (durchschnittliche Verslänge von Q 94: 8,1 Silben, Q 93: 10,4 Silben, Q 108: 9 Silben), die wie die Droh- und Scheltworte Q 95, 102, 103, 104 und 107 (vielleicht auch Q 111) lediglich aus kleineren Versgruppen bestehen und insofern zu Gruppe I der frühmekkanischen Texte gehören. Birkeland will diese drei Texte zusammen mit Q 105 und 106 an den Anfang der koranischen Textgenese stellen, da er in allen fünf Suren ein gemeinsames theologisches Profil zu erkennen glaubt: „The experience which became decisive for Muhammed’s whole future activity must have been the recognition of God’s merciful guidance in the life of himself and his people, that means in history. Before God could appear as a judge he had to be a reality, and the Surahs treated in this paper reveal a stage in which Muhammed had not yet severed from Arab paganism, but had only experienced the divine power as a historic force, which meant a force active in the historic life of Quraiš and the personal life of Muhammed himself.“ ( Birkeland 1956, 5 ; vgl. a. die Einleitung zu Q 105) Allerdings erweist sich die Gruppe der von Birkeland behandelten fünf Kurzsuren bei näherer Betrachtung als recht heterogen. Während Q 105 und 106 das Kollektiv der Quraiš in den Mittelpunkt rücken, steht in Q 93, 94, 108 der individuelle Zuspruch an die Person des Verkünders im Vordergrund: Gott erscheint hier nicht als Schirmherr des mekkanischen Gemeinwesens, sondern als eine in die Biographie des Einzelnen eingreifende Macht. Tatsächlich stehen die drei Trostsuren in erheblich größerer Kontinuität zu anderen frühmekkanischen Texten: 93:4 spielt auf das Jenseits und damit mittelbar auch auf das Jüngste Gericht an, und Anreden des Verkünders am Surenanfang finden sich auch in Q 73, 74, 87 und 96 (wobei es sich dort allerdings nicht um Trostreden, sondern um hymnische Aufrufe zum Gottesdienst o. ä. handelt). Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, Birkelands Vermutung einer chronologischen Vorgängigkeit der von ihm untersuchten fünf Suren auf Q 105 und 106 einzuschränken und die drei Trostsuren in ein späteres Stadium von Gruppe I zu setzen. Am ehesten wäre ihre Verkündigung im Anschluss an die kurzen Droh- und Scheltworte Q 95, 102, 103, 104 und 107 (vielleicht auch Q 111) denkbar, also gegen Ende von Gruppe I (vgl. ausführlicher Sinai 2010 ).
Die Sure bietet keine Handhabe für literarkritische Scheidungen. Zu der jüngst von Michel Cuypers aufgegriffenen Überlieferung, Sure 93 und 94 hätten ursprünglich eine literarische Einheit dargestellt, s. den Abschnitt Literarkritik im Kommentar zu Q 94.
Bis auf den einleitenden Schwur haben fast alle übrigen Elemente der Sure Entsprechungen in den beiden verwandten Texten Q 94 und 108: Zu V. 3–5 vgl. das Drohwort gegen Gegner des Verkünders in 108:3, gleichsam eine invertierte Verheißung; zu dem Rückblick auf frühere göttliche Gnadenerweise vgl. 94:1–4 (ebenfalls in Frageform) und 108:1; und mit den abschließenden Aufrufen korrespondieren 94:7.8 und 108:2 (einen ähnlichen Übergang vom Faktischen zum Normativen, allerdings an das Kollektiv der Quraiš gerichtet, stellt 106:3 dar). Formal hebt sich Q 93 von Q 94 und 108 durch eine Schwureinleitung (V. 1.2) ab sowie dadurch, dass Gott durchgängig in der dritten Person Singular figuriert. – Zur Gliederung der Sure vgl. auch Cuypers 2000, 102–106 .
Die theologische Grundaussage der drei Trostsuren 93, 94 und 108 ist ähnlich: Sie deuten in Form einer direkten Anrede bestimmte Ereignisse im Leben Muḥammads als Resultate einer gnadenvollen Fürsorge Gottes und weisen so – wohl nicht nur für den angesprochenen Verkünder, sondern durchaus auch für eine über ihn hinausgehende Öffentlichkeit von Adressaten – nach, dass Gott in den Lebenslauf Einzelner eingreift und „Schweres“ zu „Leichtem“ wendet bzw. (so Q 93:6–8) Mangel in Fülle verwandelt. Aus dieser gnadenvollen Involviertheit Gottes in menschliche Schicksale wird dann eine ethische und religiöse Verpflichtung des Menschen begründet, wie sie ähnlich auch Q 106 aus Gottes Begünstigung der Quraiš folgert. Wie in Q 93 wird der Übergang von der Aufzählung göttlicher Gnadenerweise zu den daraus zu ziehenden normativen Konsequenzen durch einen Reimwechsel markiert. Die Trostsuren individualisieren damit die Aussage von Q 105 und Q 106: Gott wacht in seiner gütigen Zuwendung nicht nur über das Wohlergehen des mekkanischen Kollektivs, sondern seine Gnade (niʿma, vgl. 93:11) manifestiert sich auch im Lebenslauf Einzelner. Dabei ist die in vielen übrigen frühmekkanischen Suren so prominente Thematik des Jüngsten Gerichts wie in den ḥaram-Suren 105 und 106 weitgehend abwesend, wird jedoch an zumindest einer Stelle (93:4) kursorisch vorausgesetzt.
Die drei Trostsuren leisten überdies (wie die wohl in etwa zeitgleich anzusetzende Sure 97) einen wesentlichen Beitrag zur Autorisierung des Koranverkündigers: Muḥammad wird mit Zügen des bedrängten psalmischen Beters ausgestattet, erhält jedoch im Unterschied zu diesem eine direkte göttliche Antwort und wird so mit beträchtlichem religiösen Prestige versehen. Ein Psalmenbezug lässt sich einerseits in einzelnen Topoi der drei Texte ausmachen (vgl. die Anmerkungen). Er liegt jedoch auch auf struktureller Ebene vor, insofern sich so gut wie alle in Q 93, 94 und 108 verwendeten Bauelemente als Inversionen typischer Bestandteile der psalmischen Gattung des sog. ‚Klagelieds des Einzelnen’ verstehen lassen: Während im psalmischen Klagelied der individuelle Beter zu Gott klagt, nimmt in Sure 93 Gott eine etwaige Klage des koranischen Verkündigers vorweg; während der psalmische Beter Gott um Rettung aus der Not bittet, blickt die Koransure auf dem Verkünder bereits gewährte göttliche Wohltaten zurück. Das psalmische Genre, einzelnen Mitgliedern der koranischen Gemeinde aus seiner liturgischen Verwendung im Judentum und Christentum sicherlich wohlbekannt, wird so gewissermaßen strukturell überboten. Die angesprochenen Korrespondenzen lassen sich anhand einer Gegenüberstellung von Q 93 und Psalm 13 illustrieren:
Q 93 | Ps 13 |
Schwureinleitung | [Überschrift |
1 Beim Morgen | 1 Für den Chormeister. Ein Psalm Davids.] |
2 und bei der Nacht, wenn sie still ist! | |
Zuspruch und Verheißung | ∼ Klage |
3 Dein Herr hat dich nicht verlassen und nicht verworfen; 4 das Jenseits ist besser für dich als das Diesseits; 5 dein Herr wird dir geben, dass du zufrieden sein wirst. | 2 Wie lange noch, Herr, vergisst du mich ganz? / Wie lange noch verbirgst du dein Gesicht vor mir? 3 Wie lange noch muss ich Schmerzen ertragen in meiner Seele, / in meinem Herzen Kummer Tag für Tag? / Wie lange noch darf mein Feind über mich triumphieren? |
Rückblick auf erwiesene Wohltaten | ∼ Bitte |
6 Fand er dich nicht als Waise und nahm dich auf? 7 Fand er dich nicht irrend und leitete dich? 8 Fand er dich nicht bedürftig und machte dich reich? | 4 Blick doch her, erhöre mich, Herr, mein Gott, / erleuchte meine Augen, damit ich nicht entschlafe und sterbe, 5 damit mein Feind nicht sagen kann: / «Ich habe ihn überwältigt», damit meine Gegner nicht jubeln, / weil ich ihnen erlegen bin. |
Aufrufe an den Verkünder (inkl. Aufruf zum Gotteslob) | ∼ Lobgelübde (mit Vertrauensbekenntnis in V. 6a) |
6 Ich aber baue auf deine Huld, / mein Herz soll über deine Hilfe frohlocken. | |
9 So tu der Waise nicht Unrecht, | |
10weise nicht den Bittenden ab | |
11 und kündige von der Gnade deines Herrn! | Singen will ich dem Herrn, / weil er mir Gutes getan hat. |