بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
وَٱلَّيۡلِ إِذَا يَغۡشَىٰ |
11 Bei der Nacht, wenn sie bedeckt, |
وَٱلنَّهَارِ إِذَا تَجَلَّىٰ |
2 beim Tag, wenn er erglänzt, |
وَمَا خَلَقَ ٱلذَّكَرَ وَٱلۡأُنثَىٰۤ |
3 bei dem, was Männliches und Weibliches erschuf! |
إِنَّ سَعۡيَكُمۡ لَشَتَّىٰ |
4 Euer Mühen ist verschieden. |
فَأَمَّا مَنۡ أَعۡطَىٰ وَٱتَّقَىٰ |
25 Wer gibt, gottesfürchtig ist |
وَصَدَّقَ بِٱلۡحُسۡنَىٰ |
6 und an die gute Verheißung glaubt, |
فَسَنُيَسِّرُهُۥ لِلۡيُسۡرَىٰ |
7 dem werden wir es leicht machen, zum Leichten zu gelangen. |
وَأَمَّا مَنۢ بَخِلَ وَٱسۡتَغۡنَىٰ |
8 Wer aber geizt, an sich selbst genug hat |
وَكَذَّبَ بِٱلۡحُسۡنَىٰ |
9 und die gute Verheißung leugnet, |
فَسَنُيَسِّرُهُۥ لِلۡعُسۡرَىٰ |
10 dem werden wir es leicht machen, zum Schweren zu gelangen; |
وَمَا يُغۡنِی عَنۡهُ مَالُهُۥٓ إِذَا تَرَدَّىٰۤ |
11 sein Besitz hilft ihm nicht, wenn er zugrunde geht. |
إِنَّ عَلَيۡنَا لَلۡهُدَىٰ |
12 Uns obliegt die Rechtleitung, |
وَإِنَّ لَنَا لَلۡٴَاخِرَةَ وَٱلۡأُولَىٰ |
13 uns gehören Jenseits und Diesseits. |
فَأَنذَرۡتُكُمۡ نَارًۭا تَلَظَّىٰ |
314 So warne ich euch vor loderndem Feuer, |
لَا يَصۡلَىٰهَآ إِلَّا ٱلۡأَشۡقَى |
15 in dem allein der Unselige schmort, |
ٱلَّذِی كَذَّبَ وَتَوَلَّىٰ |
16 der leugnet und sich abwandt. |
وَسَيُجَنَّبُهَا ٱلۡأَتۡقَى |
17 Davon verschont wird der Gottesfürchtige, |
ٱلَّذِی يُؤۡتِی مَالَهُۥ يَتَزَكَّىٰ |
18 der seinen Besitz hingibt, um sich zu läutern, |
وَمَا لِأَحَدٍ عِندَهُۥ مِن نِّعۡمَةٍۢ تُجۡزَىٰۤ |
19 ohne dass jemand bei ihm Anrecht auf die Vergeltung einer Wohltat hätte, |
إِلَّا ٱبۡتِغَآءَ وَجۡهِ رَبِّهِ ٱلۡأَعۡلَىٰ |
20 sondern nur im Streben nach dem Angesicht seines höchsten Herrn; |
وَلَسَوۡفَ يَرۡضَىٰ |
21 er wird zufrieden sein. |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
Zu grundsätzlichen Hinweisen zu den koranischen Schwüren sowie ihrer wahrscheinlichen, aber bis dato noch nicht hinreichend untersuchten Anlehnung an ein charakteristisches Ausdrucksmittel altarabischer Seher (kuhhān) s. die Anmerkung zu 100:1–5; zu Aufbau und Funktion des hier vorliegenden Schwurtypus s. die Anmerkung zu 93:1.2 mit zahlreichen Parallelstellen.
wa-l-laili ʾiḏā yaġšā / wa-n-nahāri ʾiḏā taǧallā] Vgl. die übrigen frühmekkanischen Schwüre bei Tages- und Nachtzeiten 93:1.2, 91:1–4, 89:1.2.4, 84:17, 81:17.18, 74:33.34. Insbesondere zu 91:3.4 (wa-n-nahāri ʾiḏā ǧallāhā / wa-l-laili ʾiḏā yaġšāhā) besteht eine enge sprachliche Verwandtschaft (lail + yaġšā, nahār + taǧallā / ǧallā). Der in V. 2 genannte Augenblick des „erglänzenden“ Tages (ʾiḏā taǧallā), entspricht dem in 91:1 und 93:1 erwähnten Zeitpunkt des ḍuḥā ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 229 ).
wa-mā ḫalaqa ḏ-ḏakara wa-l-ʾunṯā] Vgl. insbesondere 53:45 (wa-ʾannahū ḫalaqa z-zauǧaini ḏ-ḏakara wa-l-ʾunṯā), 75:39 (fa-ǧaʿala minhu z-zauǧaini ḏ-ḏakara wa-l-ʾunṯā) und 78:8 (wa-ḫalaqnākum ʾazwāǧā); die besondere Hervorhebung der Geschlechterdualität erinnert an Genesis 1:27, wo betont wird, dass Gott den Menschen „als Mann und Frau“ geschaffen hat ( Gibb 1962, 275 ). Zum Verb ḫalaqa vgl. die Anmerkung zu 96:1.2. Eine analoge Verwendung des sächlichen wa-mā, „bei dem, was“, statt des eigentlich zu erwartenden wa-man, „bei dem, der“, findet sich in Q 91:5–7 (wa-s-samāʾi wa-mā banāhā / wa-l-ʾarḍi wa-mā ṭaḥāhā / wa-nafsin wa-mā sawwāhā). Wie dort hat der Gebrauch des Neutrums wohl eine enigmatisierende Funktion: Die volle Identität Gottes wird zunächst nur teilweise enthüllt, bevor sich ab V. 4 Gott selbst (V. 7.10.12.13: Verwendung der 1. Person Plural) nicht nur als abstraktes Schöpfungsprinzip, sondern als personaler Richter zu erkennen gibt. – Neuwirth bezieht mā nicht auf den Schöpfer, sondern auf das Geschaffene und übersetzt: „Bei dem, was er schuf, Männliches und Weibliches“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 227 ). Angesichts der Parallele zu 91:5–7, wo eine solche Übersetzung von mā nicht in Frage kommt, ist jedoch die obige Übersetzung vorzuziehen.
Textkritik: Anstelle von mā sollen Masʿūd und al-Ḥasan al-Baṣrī allaḏī ḫalaqa gelesen haben; auch eine Lesung mit man wird erwähnt ( Muʿǧam, ad loc. ). Als lectio difficilior muss jedoch das Neutrum mā gelten.
ʾinna saʿyakum la-šattā] Zu s-ʿ-y vgl. 88:8 (li-saʿyihā rāḍiyah), 76:22 (ʾinna hāḏā kāna lakum ǧazāʾan wa-kāna saʿyukum maškūrah), 53:39 (wa-ʾan laisa li-l-ʾinsāni ʾillā mā saʿā / wa-ʾanna saʿyahū saufa yurā).
fa-ʾammā man ʾaʿṭā wa-ttaqā] Das Verb ittaqā, „sich hüten vor“ (s. noch 73:17: fa-kaifa tattaqūna ʾin kafartum yauman yaǧʿalu l-wildāna šībā, in Gruppe IIIb noch 53:32: huwa ʾaʿlamu bi-mani ttaqā) und das zugehörige Substantiv taqwā (96:12: ʾau ʾamara bi-t-taqwā, 91:8: fa-ʾalhamahā fuǧūrahā wa-taqwāhā, 73:56: wa-mā yaḏkurūna ʾillā ʾan yašāʾa llāhu huwa ʾahlu t-taqwā wa-ʾahlu l-maġfirah) fungieren im Koran, wie Scott C. Alexander unterstrichen hat, als Analoga zum biblischen Konzept der Gottesfurcht (yirʾat YHWH, phobos theou, vgl. etwa Psalm 19:10, Sprüche 7:1 oder Jesaiah 11:2.3; s. Alexander, „Fear“, EQ ). Andrae 1932, 68–76 , weist auf die zentrale Rolle der Gottesfurcht in der spätantiken christlichen Mönchsfrömmigkeit hin und betont deren Bedeutung für die frühmekkanischen Suren insgesamt. Vereinzelt könnten ittaqā und taqwā bereits in der altarabischen Dichtung in einem religiösen Sinne verwendet worden sein, doch überwiegt vorkoranisch ganz deutlich ein profaner Gebrauch von ittaqā + Akk. + bi- = „Schutz suchen vor ... bei ...“ (vgl. Izutsu 1964, 235 ). Obwohl ittaqā in 92:5 und 73:17 absolut verwendet wird, dürfte es sich dabei wohl um eine Abbreviatur für einen akkusativischen Gebrauch wie in 73:17 handeln, wo als Gegenstand der Furcht der Jüngste Tag steht (fa-kaifa tattaqūna ʾin kafartum yauman yaǧʿalu l-wildāna šībā). Zu dem an drei Stellen als negatives Pendant der Gottesfurcht gebrauchten Verb istaġnā s. die Anmerkung zu V. 8.
Etwas später als ittaqā und taqwā, die ab Gruppe II belegt sind, erscheint (in den Gruppen IIIa und b) die Kollektivbezeichnung al-muttaqūn, „die Gottesfürchtigen“ (78:31, 77:41, 69:48, 68:34, 52:17, 51:15). Zeitlich koinzidiert dies mit der Tatsache, dass auch Erwähnungen des negativen Pendants der „Gottesfürchtigen“, nämlich der kāfirūn, in den Gruppen IIIa und b quantitativ deutlich zunehmen (vgl. die Anmerkung zu 84:22). Außerdem tritt in Gruppe IIIb zusätzlich der Positivbegriff „die Gläubigen“ (ʾallaḏīna ʾāmanū) auf (s. die Anmerkung zu 69:33).
al-ḥusnā] Wörtlich: „das Beste“, „das Schönste“.
fa-sa-nuyassiruhū li-l-yusrā / ... / fa-sa-nuyassiruhū li-l-ʿusrā] Vgl. die Entgegensetzung von ʿusr und yusr in 94:5.6 sowie die wie 94:5.6 an den Verkünder gerichtete Verheißung 87:8 (wa-nuyassiruka li-l-yusrā).
istaġnā] Das Verb wird hier offensichtlich als Antonym zu ittaqā (V. 5) gebraucht; auch in 96:7 steht istaġnā in der Nähe von taqwā (V. 7.12); vgl. noch 80:5 (ʾammā mani staġnā), wo kurz darauf als positives Pendant ebenfalls die Gottesfurcht erscheint (80:9: wa-huwa yaḫšā); vgl. a. die Anmerkung zu V. 5 weiter oben. Die Übersetzung „an sich selbst genug haben“ anstelle von „selbstherrlich auftreten“ (so Paret) empfiehlt sich, um alle drei Vorkommnisse konkordant übersetzen zu können (vgl. die Anmerkung zu 96:7).
wa-kaḏḏaba bi-l-ḥusnā] Zu den verschiedenen Gebrauchsweisen von kaḏḏaba s. u. die Anmerkungen zu V. 16 sowie die Anmerkungen zu 95:7 und 73:11. Zu al-ḥusnā s. die Anmerkung zu V. 6.
wa-mā yuġnī ʿanhu māluhū] Mā kann sowohl Fragepronomen („Was hilft ihm sein Besitz?“) wie auch Verneinungspartikel („Sein Besitz hilft ihm nicht“) sein ( Bergsträßer 1914, 29 ); wahrscheinlicher ist hier letzteres. S. die Anmerkung zu 111:2 mit zwei biblischen Intertexten.
ʾinna ʿalainā la-l-hudā] Zu hadā bzw. hudā vgl. die Anmerkung zu 93:7.
wa-ʾinnā lanā la-l-ʾāḫirata wa-l-ʾūlā] Vgl. die Anmerkung zu 93:4.
fa-ʾanḏartukum nāran talaẓẓā] Vgl. 70:15 (kallā ʾinnahā laẓā). Zu nār vgl. die Anmerkung zu 111:3. Der Vers ist der wohl früheste koranische Beleg für das Verb ʾanḏara und allgemein für die Wurzel n-ḏ-r; s. die Anmerkung zu 74:36 mit weiteren frühmekkanischen Stellenangaben.
al-ʾašqā] Vgl. 91:12 und 87:11 (beides Suren, die wie Q 92 zu Gruppe II der frühmekkanischen Verkündigungen gehören; s. u., Anm. zu V. 18) sowie die Anmerkung zu 87:11.
allaḏī kaḏḏaba wa-tawallā] Die Vorwürfe des „Leugnens“ (des Jüngsten Gerichts) und „Abwendens“ werden auch in 96:13 (ʾa-raʾaita ʾin kaḏḏaba wa-tawallā), 79:21.22 (fa-kaḏḏaba wa-ʿaṣā / ṯumma ʾadbara yasʿā) und 75:32 (wa-lākin kaḏḏaba wa-tawallā) miteinander kombiniert. Vgl. a. noch 88:23 (ʾillā man tawallā wa-kafar), wo kafara anstatt kaḏḏaba steht.
Allgemeines zum koranischen Gebrauch von kaḏḏaba: Das Verb kaḏḏaba stellt eine der zentralen Begrifflichkeiten der frühmekkanischen Verkündigungen dar. Es erscheint in Straflegenden, insbesondere in formularischen Einleitungen oder Zusammenfassungen (s. 91:11.14, 79:21, 69:4 und mittelmekkanisch 54:9.18.23.33; s. Horovitz, Koranische Untersuchungen, 11 ), sowie in paränetischen Passagen, vor allem Drohworten, Lasterkatalogen und Anreden der Verdammten am Jüngsten Tag (52:14, 68:8.44, 73:11, 74:46, 75:32, 77:29, 78:28, 82:9, 83:11.12.17, 84:22, 92:9.16, 95:7, 96:13, 107:1 sowie als Refrain in 55:13.16.18 etc.). Früheste Vorkommnisse sind wohl 107:1 und 95:7, wo das Verb bereits phraseologisch mit ad-dīn („das Gericht“) als präpositionalem Objekt verbunden ist. Später steht dann sehr häufig nur kaḏḏaba, wobei als Objekt jeweils bi-d-dīn mitzuverstehen ist. Angesichts dieses Befundes ist es wahrscheinlich, dass die Begrifflichkeit des „Leugnens“ (vgl. die Verwendung des Verbalsubstantivs takḏīb in 85:15: bali llaḏīna kafarū fī takḏīb) keine koranische Neuprägung ist, sondern bereits zuvor geläufig war. Herkunft und frühere Verwendungsweise des Begriffs wären allerdings noch zu eruieren. „Lügen“ sind ein häufiger Gegenstand psalmistischer Anklagen, s. z. B. Psalm 5:7: „Du lässt die zugrunde gehen, die Lügen (kāzāb) reden“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 221 ). Als unmittelbarer Hintergrund des koranischen kaḏḏaba kommt jedoch am ehesten syr. kaddeb (wie im Arabischen mit der Präposition b-) in Frage; kaddeb kann „lügen“, „täuschen“, „treulos handeln gegen“ bedeuten, ist aber auch in dem eine propositional fixierte religiöse Wahrheit voraussetzenden Sinn von „leugnen“ bezeugt ( Payne Smith, 1879–1901, Bd. 1, 1678 ). Zu den verschiedenen Gebrauchsweisen von kaḏḏaba vgl. a. die Anmerkungen zu 95:7 und 73:11, zu tawallā s. die Anmerkung zu 88:23.
yuǧannabuhā al-ʾatqā] Vgl. 87:11 (wa-yataǧannabuhă l-ʾašqā). Atqā ist abgeleitet von taqwā bzw. ittaqā, s. die Anmerkung zu V. 5.
tazakkā] Zu den Verben zakkā bzw. tazakkā vgl. die Anmerkung zu 91:9. Q 91 hat mit dem vorliegenden Text auch den Begriff al-ʾašqā gemeinsam.
ʾillā btiġāʾa waǧhi rabbihi l-ʾaʿlā] Frühmekkanisch vgl. noch 76:9 (spätere Parallelen bei Paret, Kommentar, zu 13:22 ). Die Wendung ist, wie Baljon 1953 gezeigt hat, ein biblischer Topos, s. etwa Psalm 27:8: אֶת־פָּנֶ֖יךָ יְהוָ֣ה אֲבַקֵּֽשׁ, „Dein Gesicht, Herr, will ich suchen” (vgl. a. Psalm 105:4, 2 Samuel 21:1, Hosea 5:15); s. a. Rippin 2000 . Zu al-ʾaʿlā s. die Anmerkung zu 87:1.
wa-la-saufa yarḍā] Zur Wurzel r-ḍ-y s. die Anmerkung zu 101:7.
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Der einleitende Schwurabschnitt nennt zwei umfassende kosmische Gegensatzpaare (s. die Anmerkung zu 93:1.2): Das Paar Nacht und anbrechender Tag wird fortgeführt durch einen elementaren Gegensatz der tierischen und menschlichen Sphäre, männlich und weiblich; dabei verweist das zweite Paar (V. 3) mit dem enigmatisierenden „und bei dem, was ... erschuf“ bereits auf Gott, den V. 7.10 durch ihre Verwendung der ersten Person Plural dann als Sprecher der Sure einführen. Die beiden Oppositionen Nacht – Tag und männlich – weiblich präludieren dem im weiteren Verlauf der Sure im Mittelpunkt stehenden moralischen Gegensatz von gut und böse: „Die beiden elementaren Gegensatzpaare der Schwurserie Tag/Nacht, männlich/weiblich bilden die strukturelle Matrix für die Gegensätzlichkeit der Bestrebungen der angesprochenen Menschen, die wiederum gegensätzliche Arten der Vergeltung nach sich ziehen.“ ( Neuwirth, „Horizont“, 24 ) Die Schwuraussage in V. 4 nimmt exposéartig die moralische Verschiedenheit der Menschen vorweg, die der Rest der Sure dann detailliert entfaltet. Wie noch ausführlicher in 91:1–8 stellt die einleitende Schwurpassage damit Symmetrie und Dualität als ein nicht nur die moralische Existenz des Menschen, sondern die gesamte Schöpfung strukturierendes Prinzip dar. Außerordentliche Prominenz erlangt dasselbe Motiv später noch in der gegen Ende der frühmekkanischen Zeit (Gruppe IIIb) anzusetzenden Sure 55 (s. ebd., Analyse).
Es folgen zwei Antithesen (V. 5–13 und V. 14–21), welche die Verhaltensweisen und Jenseitsschicksale von Seligen und Verdammten miteinander kontrastieren. Die erste besteht aus zwei relativischen Tugend- bzw. Lasterkatalogen (V. 5.6 und V. 8.9), denen jeweils eine Verheißung der dem Guten und dem Bösen zuteil werdenden eschatologischen Vergeltung (V. 7 und V. 10.11) folgt. Diese Ankündigungen stehen in der ersten Person Plural, sind also eindeutig als Gottesrede markiert – ein Mittel literarischer Autorisierung, welches hier neben das dem altarabischen Orakelwesen entnommene Autorisierungsmedium der Schwurserie tritt (vgl. auch den Kommentar zu Q 93 und 94). Paradies und Hölle werden dabei vorerst nicht explizit benannt, sondern durch ein – bereits in 94:5.6 begegnendes – Wortspiel mit den nur in einem einzigen Konsonanten unterschiedenen, dabei jedoch semantisch konträren Wurzeln y-s-r und ʿ-s-r enigmatisiert, wobei beide hier jeweils noch mit dem von der ersten Wurzel abgeleiteten Verbum yassara kombiniert werden (V. 7.10: fa-sa-nuyassiruhū li-l-yusrā / li-l-ʿusrā). Der auf die Verdammnis des Sünders anspielende Vers 10 gewinnt so eine paradoxe, rhetorische Spannung aufbauende Qualität. Die symmetrische Binnengliederung des Gesätzes in eine zweimalige Durchführung des Schemas ‚diesseitiges Verhalten – jenseitige Konsequenz’ unterstreicht ein durch Vokalvariation erzielter Kreuzreimeffekt: V. 5: a(K)Kā, V. 6.7: uKKā, V. 8: a(K)Kā, V. 9.10: uKKā ( Neuwirth, Studien, 35 ). Überdies sind die beiden Hälften der Antithese terminologisch miteinander koordiniert: V. 6 und 9 (wa-ṣaddaqa / kaḏḏaba bi-l-ḥusnā) sowie V. 7 und 10 (fa-sa-nuyassiruhū li-l-yusrā / li-l-ʿusrā) stehen in offensichtlicher Korrespondenz, aber auch V. 5 und 8 sind durch die Verwendung von Antonymen aufeinander bezogen: ʾaʿtā, „geben“ vs. baḫila, „geizen“, ittaqā, „gottesfürchtig sein“ vs. istaġnā, „an sich selbst genug haben“. Der Gebrauch von Antonymen ist auch sonst ein wichtiges Stilmerkmal der Sure, etwa im einleitenden Schwur (Tag vs. Nacht, männlich vs. weiblich) sowie in der die erste Antithese abschließenden theologischen Prädikation (V. 13: Diesseits vs. Jenseits).
V. 11 dürfte noch dem vorangehenden Abschnitt über den Bösen und nicht der theologischen Prädikation V. 12.13 zuzurechnen sein (anders Neuwirth, Studien, 229 und Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 228 ): Der Vers bezieht sich pronominal auf den Bösen zurück und ist lexikalisch mit V. 8 verknüpft (mā yuġnī ʿanhū, „ihm hilft nicht ...“, enthält dieselbe Wurzel ġ-n-y wie istaġnā aus V. 8); überdies markiert das ʾinna in V. 12 einen deutlichen Neueinsatz. V. 11 verursacht damit eine leichte Asymmetrie, insofern er anders als V. 8–10, die streng parallel zu V. 5–7 gebaut sind, im vorangehenden Abschnitt über den Guten keine Entsprechung hat. Die göttliche Selbstprädikation V. 12.13 setzt das zweite und dritte Gesätz voneinander ab: Sie fungiert als eine kompositorische Fuge, die Gottes Macht über Diesseits und Jenseits aussagt und so die Realität der zuvor (und im Folgenden) ausgesprochenen Drohungen und Verheißungen stützt (vgl. a. Cuypers 2000, 98 , der V. 12.13 als Zentrum der gesamten Sure ansieht).
Das dritte Gesätz verhält sich in zweierlei Hinsicht chiastisch zum zweiten: Zum einen wird die Reihenfolge Seliger – Verdammter (V. 5–7 und V. 8–11) jetzt invertiert (V. 14–16 Verdammter, V. 17–20 Seliger); dabei werden die beiden auf den Seligen bezogenen Außenkomponenten dieses Chiasmus, V. 5–7 und V. 17–20, durch den Gebrauch von ittaqā und ʾatqā (V. 5 und 17) miteinander in Bezug gesetzt. Andererseits sind auch die einzelnen Hälften der Antithese jeweils spiegelbildlich aufgebaut: In V. 5–7 und V. 8–11 ging zunächst ein Tugend- bzw. Lasterkatalog voraus, auf den dann jeweils ein Drohwort bzw. eine Verheißung folgten, während in V. 14–16 und V. 17–20 Drohung und Verheißung an erster Stelle und die für den Seligen und den Verdammten charakteristischen diesseitigen Handlungsweisen an zweiter Stelle stehen.
Beide Gesätze sind auch noch insofern aufeinander bezogen, als sich die zweite Antithese (V. 14 ff.) insgesamt als eine Entfaltung und Konkretisierung des ersten (V. 5 ff.) verstehen lässt. Das Jenseitsschicksal von Seligen und Verdammten wird im zweiten Gesätz zunächst noch durch ein Wortspiel (V. 7.10) umschrieben; erst der Anfangsvers des dritten Gesätzes (V. 14) vereindeutigt die recht unbestimmte Drohung aus V. 10 („dem werden wir es leicht machen, zum Schweren zu gelangen“) zum Bild des lodernden Höllenfeuers. Die daraus resultierende dramaturgische Sequenz von rätselhafter Anspielung und schockierender Entschlüsselung erinnert an die in anderen frühen Suren auftretenden Lehrfragen, bei denen eine Gerichtsdrohung durch die Verwendung eines ungewöhnlichen Begriffs zunächst mit einer kalkulierten Unverständlichkeit operiert, die dann durch ein lexikalisch geradlinigeres Höllenszenario aufgelöst wird (vgl. Q 104:4 ff.: „Nein! Gewiss wird er in den Trümmerer (al-ḥuṭama) geworfen, / Was lehrt dich, was der Trümmerer ist? / Das entfachte Feuer Gottes, / welches die Herzen verschlingt!“). Eine analoge Sequenz aus Enigma und eschatologischer Auflösung liegt Q 102:3–8 zu Grunde.
Das dritte Gesätz stellt noch unter zwei weiteren Gesichtspunkten eine Entfaltung des zweiten dar: Erstens wird der Gegensatz zwischen Gutem und Bösem jetzt terminologisch auf den Punkt gebracht, insofern beide nicht nur durch Relativsätze (man ...) qualifiziert, sondern mit prägnanten Bezeichnungen (V. 15: al-ʾašqā, V. 17: al-ʾatqā) belegt werden. Zweitens geht die Charakterisierung des „Gottesfürchtigen“ in V. 17–20 (die um zwei Verse länger als der vorangehende Negativteil ist und insofern im Zentrum des dritten Gesätzes steht) näher auf Motive und Umstände der bereits in V. 5 angesprochenen Mildtätigkeit der Seligen ein: Der Gottesfürchtige gibt um seiner ethischen Reinheit willen (V. 18) und nicht aufgrund weltlicher Beweggründe wie der Rückerstattung empfangener Wohltaten (V. 19); er gibt, wie der vorletzte Vers mit dem Zitat einer ursprünglich biblischen Metapher verdichtend festhält, „im Streben nach dem Angesicht seines Herrn“.
Der Text schließt mit einer erneuten Verheißung. Wie in allen anderen frühmekkanischen Suren ist die dem Seligen angekündigte „Zufriedenheit“ (vgl. insb. 93:5) auch hier eschatologisch (und nicht im Sinne einer „spirituellen Ausgeglichenheit“, so Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 234 ) zu verstehen.
Literaturliste
Die Sure ist zweifellos frühmekkanisch, wofür ceteris paribus bereits die Schwureinleitung spricht. Inhaltlich kreist sie um das Verhältnis von diesseitigem Tun und jenseitiger Belohnung und Strafe; anders als die kurzen Droh- und Scheltworte Q 95, 102, 103, 104, 107 und 111, die ausschließlich auf die Sünder fokussieren, führt Q 92 dieses Thema in Form zweier in sich komplexer (und einander chiastisch entsprechender) Gegenüberstellungen von Guten und Bösen aus. Q 92 besteht damit bereits aus drei längeren Gesätzen. Vor allem der erste Teil des Textes ähnelt der ebenfalls bereits in Gesätze gegliederten Sure 91 (vgl. Cuypers 2000, 99 ff. ). Unter den Gesichtspunkten Verslänge (bei Sure 92 durchschnittlich 9,8 Silben), Textlänge sowie strukturelle Komplexität sind beide Texte (die überdies das Schlüsselwort ʾašqā gemeinsam haben, vgl. 92:15 und 91:12) Gruppe II der frühmekkanischen Suren zuzuordnen.
Die Sure bietet keinen Anlass für literarkritische Scheidungen.
Die Sure setzt sich aus einer Schwurpassage (V. 1–4) und zwei sie entfaltenden Gegenüberstellungen von Guten und Bösen (V. 5–11, V. 14–21) zusammen, die sich chiastisch entsprechen (vgl. Cuypers 2000, 97 ): In der ersten Antithese werden zunächst der Gute (V. 5–7) und dann der Böse (V. 8–11) charakterisiert, während die zweite erst auf den Bösen (V. 14–16) und dann auf den Guten (V. 17–21) eingeht. Zwei chiastisch gebaute Antithesen enthält auch 87:10–15; strukturell vergleichbar sind weiterhin Q 91 (s. o., Datierung) sowie die frühere Sure 102, die mit einem wie die Schwuraussage in 92:4 die Hörer direkt anredenden Scheltwort einsetzt und hieran zwei jeweils dreiversige Drohworte anschließt, die den beiden Antithesen V. 5–13 und V. 14–21 korrespondieren. Anders als in dem früheren Text bezieht Q 92 dabei jedoch auch das positive Jenseitsschicksal der Seligen mit ein. – Die hier vertretene Gliederung deckt sich im Wesentlichen nicht nur mit Neuwirth, Studien, 229 , sondern auch mit Cuypers 2000 , wobei letzterer der Sure einen „konzentrischen“ Aufbau um die theologischen Prädikationen V. 12.13 herum zuschreibt ( ebd., 100 ).
Ein Hauptaugenmerk der Sure liegt auf dem Verhältnis des Menschen zum Besitz: Freigiebigkeit, Gottesfurcht und der Glaube an das Jenseits (V. 5.6) werden ebenso in einem Atemzug genannt wie Geiz, Selbstüberschätzung und das Leugnen des Jenseits (V. 8.9); V. 11 betont, dass diesseitiger Besitz im Angesicht der ewigen Verdammnis nichts nützen wird, und V. 18 greift noch einmal die bereits im zweiten Gesätz ausgesagte Koinzidenz von Gottesfurcht und Freigiebigkeit auf. Ein solcher Zusammenhang zwischen Jenseitsglaube und Sozialethik war bereits Thema früherer Texte, vgl. etwa 107:1–3 („Was meinst du von dem, der das Gericht leugnet? / Das ist der, der die Waise wegstößt / und nicht zur Speisung des Armen anhält“): Wer nicht das Jüngste Gericht als Fluchtpunkt all seines Tuns vor Augen hat, der vertraut vor allem auf seinen irdischen Besitz (vgl. Q 104:2.3), dessen Bewahrung und Mehrung damit zum obersten Gebot wird; wer dagegen seine grundsätzliche Abhängigkeit vom göttlichen Schöpfer und Richter anerkennt, gewinnt die Freiheit zur Gabe. In Q 92 wird dieser Konnex zwischen Eschatologie und Sozialethik bereits vorausgesetzt, er stellt nicht mehr das eigentliche Thema der koranischen Rede dar. Die besondere Hervorhebung von Jenseitsglauben und Gottesfurcht könnte Elemente christlicher Mönchsfrömmigkeit reflektieren (vgl. Andrae 1932, 68–76 ).
Überblick
1–21 3(K)Kā | 1 1–3 Schwurserie (zwei Gegensatzpaare: Tag / Nacht, männlich / weiblich) |
4 Schwuraussage: Scheltwort | |
2 5–7 Antithese (Positivhälfte): 5.6 Tugendkatalog, 7 Verheißung an die Gläubigen | |
8–11 Antithese (Negativhälfte): 8.9 Lasterkatalog, 10.11 Drohwort | |
12.13 theologische Prädikation | |
3 14–16 Antithese (Negativhälfte): 14.15 Drohwort, 16 Lasterkatalog | |
17–21 Antithese (Positivhälfte): 17 Verheißung an die Gläubigen, 18–20 Tugendkatalog, 21 erneute Verheißung |
Proportionen: 4+9(=3+3+3)+8(=3+5).