بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
لَآ أُقۡسِمُ بِهَٰذَا ٱلۡبَلَدِ |
11 Nein, ich schwöre bei diesem Ort, |
وَأَنتَ حِلٌّۢ بِهَٰذَا ٱلۡبَلَدِ |
2 wo du frei von Verpflichtungen bist, |
وَوَالِدٍۢ وَمَا وَلَدَ |
3 und bei einem Erzeuger und dem, was er gezeugt hat! |
لَقَدۡ خَلَقۡنَا ٱلۡإِنسَٰنَ فِی كَبَدٍ |
4 Wir schaffen den Menschen in Mühsal. |
أَيَحۡسَبُ أَن لَّن يَقۡدِرَ عَلَيۡهِ أَحَدٌۭ |
25 Meint er, niemand habe Macht über ihn? |
يَقُولُ أَهۡلَكۡتُ مَالًۭا لُّبَدًا |
6 Er sagt: „Ich habe haufenweise Besitz vertan!“ |
أَيَحۡسَبُ أَن لَّمۡ يَرَهُۥٓ أَحَدٌ |
7 Glaubt er denn, dass niemand ihn gesehen hat? |
أَلَمۡ نَجۡعَل لَّهُۥ عَيۡنَيۡنِ |
8 Haben wir ihm nicht zwei Augen gemacht, |
وَلِسَانًۭا وَشَفَتَيۡنِ |
9 eine Zunge und zwei Lippen, |
وَهَدَيۡنَٰهُ ٱلنَّجۡدَيۡنِ |
10 und ihn die beiden Wege geleitet? |
فَلَا ٱقۡتَحَمَ ٱلۡعَقَبَةَ |
311 Da hat er nicht den Steilpfad eingeschlagen. |
وَمَآ أَدۡرَىٰكَ مَا ٱلۡعَقَبَةُ |
12 Was lässt dich wissen, was der Steilpfad ist? |
فَكُّ رَقَبَةٍ |
13 Die Losbindung eines Nackens, |
أَوۡ إِطۡعَٰمٌۭ فِی يَوۡمٍۢ ذِی مَسۡغَبَةٍۢ |
14 oder an einem Hungertag die Speisung |
يَتِيمًۭا ذَا مَقۡرَبَةٍ |
15 eines Waisen aus der Verwandtschaft |
أَوۡ مِسۡكِينًۭا ذَا مَتۡرَبَةٍۢ |
16 oder eines Armen, der im Staube liegt. |
ثُمَّ كَانَ مِنَ ٱلَّذِينَ ءَامَنُوا۟ وَتَوَاصَوۡا۟ بِٱلصَّبۡرِ وَتَوَاصَوۡا۟ بِٱلۡمَرۡحَمَةِ |
417 Und dass man zu denen gehört, die glauben und einander zu Geduld und Barmherzigkeit anhalten – |
أُو۟لَٰٓئِكَ أَصۡحَٰبُ ٱلۡمَيۡمَنَةِ |
18 das sind die Leute der rechten Seite. |
وَٱلَّذِينَ كَفَرُوا۟ بِـَٔايَٰتِنَا |
19 Diejenigen aber, die nicht an unsere Zeichen glauben, |
هُمۡ أَصۡحَٰبُ ٱلۡمَشۡـَٔمَةِ |
das sind die Leute der linken Seite; |
عَلَيۡهِمۡ نَارٌۭ مُّؤۡصَدَةٌۭ |
20 Feuer umschließt sie. |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
Zu den koranischen Schwüren im Allgemeinen sowie ihrer wahrscheinlichen, aber bis dato noch nicht hinreichend untersuchten Anlehnung an ein charakteristisches Ausdrucksmittel altarabischer Seher (kuhhān) s. die Anmerkung zu 100:1–5; zu Aufbau und Funktion des hier vorliegenden Schwurtypus s. die Anmerkung zu 93:1–2 mit zahlreichen Parallelstellen.
lā ʾuqsimu bi-hāḏă l-balad] Überliefert wird auch die Lesung la-ʾuqsimu ( Muʿǧam, Bd. 10, 437 ); die lectio difficilior ist aber sicherlich lā ʾuqsimu. Lā fungiert dabei nicht als Negation, sondern hat wie auch in 84:16, 81:15, 75:1, 70:40 und 69:38 affirmierenden Sinn (s. Bergsträsser 1914, 58 f., Anm. 2 ). – Vgl. die übrigen Schwüre bei Lokalitäten in 95:2–3 und 52:152:4: Wie im vorliegenden Vers wird an beiden Stellen Mekka genannt (95:3: wa-hāḏă l-baladi l-ʾamīn, 52:4: wa-l-baiti l-maʿmūr), wobei jeweils – anders als hier – noch Evokationen des Bergs Sinai vorausgehen (95:2: wa-ṭūri sīnīn, 52:1: wa-ṭ-ṭūr). Den Sinn dieser Zusammenstellung macht das Prädikat ʾamīn aus 95:3 deutlich: Mekka kann aufgrund „der Sakralität seines Ḥaram (eines ‚sicheren Themenos‘) neben dem vorher genannten Ṭūr Sīnīn als geheiligter Ort gelten“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 240 ). – Ein Schwur bei der mekkanischen Kaʿba findet sich auch in einem von Ibn Ḥabīb überlieferten altarabischen Orakel, s. die Anmerkung zu 93:1–2.
ḥill] Das Wort ist mit den Lexika ( Lane, Bd. 3, 619c–620a ) als Verbalsubstantiv zu ḥalla aufzufassen; der Gebrauch eines Verbalsubstantivs anstelle des betreffenden Partizips ist ein auch sonst gelegentlich anzutreffendes Phänomen ( Wright, Bd. 1, 132 f. ). Zu beachten ist jedoch, dass ḥill nicht zu ḥalla, yaḥullu, „anhalten, sich niederlassen“, sondern zu ḥalla, yaḥillu mit der Bedeutung „erlaubt sein bzw. werden“ (im Gegensatz zu ḥaruma) und (von Personen) „frei sein bzw. werden“ gehört (freundlicher Hinweis von Tilman Seidensticker). Der lexikographische Befund – der allerdings auch nachkoranisch ist! – spricht damit zunächst einmal gegen Parets Übersetzung „ansässig“ (vgl. auch Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 238 und 240 , deren Verständnis des Wortes einem ähnlichen Einwand ausgesetzt ist; allerdings ist Neuwirths Deutung einzelner Begrifflichkeiten fairerweise im Kontext ihrer Deutung der Sure insgesamt zu betrachten, was an dieser Stelle nicht ausführlich geschehen kann). Obwohl ḥalla, yaḥillu allgemein die Freiheit von Verpflichtungen bezeichnen kann, ist häufig speziell die Freiheit von sakralen Verpflichtungen gemeint; vgl. etwa die geläufige Kontrastierung von „heiligen“ und „profanen“ Monaten (šuhūr al-ḥill vs. ʾašhur al-ḥurum; s. Lane, Bd. 3, 621a ).
wa-wālidin wa-mā walad] Zeugung und Geburt des Menschen werden in frühmekkanischer Zeit noch in der früheren Schwuraussage 95:4–5 (la-qad ḫalaqnă l-ʾinsāna fī ʾaḥsani taqwīm / ṯumma radadnāhu ʾasfala sāfilīn) sowie in ʾāyāt-Passagen wie 75:37–39 und Werkaffirmationen wie 96:1–2 thematisiert. Im Gegensatz zu diesen Parallelstellen wird die Entstehung des Menschen im Mutterleib hier jedoch zunächst als Resultat eines menschlichen Zeugungsaktes und nicht eines göttlichen Schöpfungsaktes beschrieben.
la-qad ḫalaqnă l-ʾinsāna fī kabad] Zu kabad, „Bedrängnis, Mühsal, Kummer“, s. WKAS, s. v. k-b-d , sowie Lane, Bd. 7, 2584b ; fī kabad hat wohl den Sinn von „zu einem Dasein in Mühsal“. Vgl. auch 84:6, wo ebenfalls von der das menschliche Dasein charakterisierenden Mühsal die Rede ist (yā-ʾaiyuhă l-ʾinsānu ʾinnaka kādiḥun ʾilā rabbika kadḥan fa-mulāqīh). Neben dieser mit dem verbalen Gebrauch der Wurzel (kabada, „bedrängen“, und kābada, „ertragen, erdulden“; vgl. WKAS, s. v. k-b-d ) übereinstimmenden Deutung finden sich in der tafsīr-Literatur weitere Interpretationen: Manche Exegeten wollen fī kabad als „von aufrechter Statur“ verstehen (muntaṣiban bzw. fī intiṣābi l-qāmah, vgl. Ṭabarī, ad loc., Nr. 37269 ff. ), wieder andere deuten kabad gar als Bezeichnung für den Himmel ( ebd., Nr. 37277 ff. ). Solche lexikalisch außerordentlich unwahrscheinlichen Paraphrasen sind wohl der Tatsache zu verdanken, dass eine emphatische Aussage wie 90:4 dazu einlud, als konstitutiv für den Menschen angesehene Merkmale mittels fiktiver Nebenbedeutungen von kabad in den Korantext zu importieren: Der Kanon wird hier zur Projektionsfläche für anthropologische Reflexionen. – Die präsentische Übersetzung von ḫalaqnā wurde deshalb gewählt, weil die biblische Vorstellung einer urzeitlichen Erschaffung des ersten Menschen aus Erde frühmekkanisch nicht explizit bezeugt ist und allgemeine Verweise auf Gottes Erschaffung des Menschen deshalb eher auf die – ebenfalls als „Schöpfung“ beschriebene – Entstehung des Menschen im Mutterleib zu beziehen sind (s. ausführlicher die Anmerkung zu 96:1–2; vgl. auch die – ebenfalls im Perfekt formulierte, aber präsentisch zu übersetzende Anspielung auf die Erschaffung des Menschen in 95:4–5: la-qad ḫalaqnă l-ʾinsāna fī ʾaḥsani taqwīm / ṯumma radadnāhu ʾasfala sāfilīn, wo das menschliche Altern gemeint sein dürfte).
Zu weiteren negativen Aussagen über den Menschen (auch in Form einer direkten Anrede desselben) s. 103:2, 100:6, 96:6, 89:15, 86:5, 84:6, 82:6, 80:17, 75:5, 70:19. Häufig wird dabei – wie in 86:5, 80:17–18, 70:19 sowie im vorliegenden Vers 90:4 – die Erschaffenheit des Menschen als fundamentales Bestimmungsmerkmal in Erinnerung gebracht, das im Widerspruch zu seiner konstatierten Überheblichkeit, Undankbarkeit und Unzuverlässigkeit steht.
yaqūlu ʾahlaktu mālan lubadā] Zu lubad, „übereinandergeschichtet, massenhaft“, s. WKAS, s. v. l-b-d, Nr. 2 . Der Vers spielt auf die in der altarabischen Dichtung als Tugend gewertete Verschwendungssucht des Dichter-Helden an (zum Folgenden s. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 241–242 ), vgl. etwa den in einem Gedicht von Taʾabbaṭa Šarran an den Dichter gerichteten und offensichtlich als kleinmütig verstandenen Tadel (s. Lyall 1918–1921, Bd. 1, 21 ; zitiert in Hamori 1974, 11 ): ʾahlakta mālan lau qaniʿta bihī, „Du hast deinen Besitz vertan, hättest du ihn doch zurückbehalten!“ sowie, positiv gewendet, den folgenden Vers des ʿAntara: fa-ʾiḏā šaribtu fa-ʾinnanī mustahlikun mālī, „Wann immer ich trinke, dann bis zum Ruin meines Vermögens!“ ( Arazi / Masalha 1999, 28, Nr. 47:2 ).
Im Gegensatz zu der hier angeprangerten ostentativen Verschwendung von Besitz, wie sie dem altarabischen karam-Ideal entspricht (vgl. hierzu Müller 1981, 89–92 ), wird in dem früheren Passus 104:2–3 eine schrankenlose Akkumulation von Besitz als scheinbarem Garanten von Sicherheit, ja Unsterblichkeit kritisiert, deren Hintergrund eher eine urbane Händlermentalität zu sein scheint.
ʾa-yaḥsabu ʾan lam yarahū ʾaḥad] Vgl. die ähnlichen Fragen in 75:3 (ʾa-yaḥsabu l-ʾinsānu ʾallan naǧmaʿa ʿiẓāmah), 75:36 (ʾa-yaḥsabu l-ʾinsānu ʾan yutraka sudā).
ʾa-lam naǧʿal lahū ʿainain / wa-lisānan wa-šafatain] Auflistungen göttlicher Wohltaten begegnen wie hier häufig in Frageform, ʾa-lam + Verb, „Haben wir nicht / hat er nicht ...?“; vgl. die Rückblicke auf dem Verkünder erwiesene göttliche Wohltaten in 93:6–8 und 94:1–4.
wa-hadaināhu n-naǧdain] Zu hadā bzw. hudā vgl. die Anmerkung zu 93:7. Naǧd ist eigentlich „Hochland“ im Gegensatz zu ġaur, „Bodensenke“ ( Lane, Bd. 8, 2767b ), bezeichnet aber auch einen „erhöhten und deutlich sichtbaren Weg“ ( Lisān, s. v. n-ǧ-d : aṭ-tarīqu l-murtafiʿu l-bayyinu l-wāḍiḥ; s. Lane, Bd. 8, 2767c ). Da die letztere Bedeutung mit einem Vers aus dem Dīwān des Imruʾ al-Qais belegt wird ( Arazi / Masalha 1999, 117:1 ), kann sie mit gewisser Wahrscheinlichkeit als authentisch gelten. Überdies heißt es in 76:3: ʾinnā hadaināhu s-sabīla – zweites Objekt des auch im vorliegenden Vers gebrauchten Verbs hadā ist also as-sabīl, „der Weg“, was dafür spricht, auch naǧd in 90:3 als „Weg“ und nicht als „Hochland“ zu deuten. Dafür optieren auch die islamischen Exegeten, die den Dual an-naǧdain auf den Gegensatz von Gut und Böse beziehen (s. z. B. Ṭabarī, ad loc. ). Problematisch daran könnte scheinen, dass ja eigentlich nur der Weg der Tugend beschwerlich und insofern metaphorisch als „erhöht“ darstellbar ist. Die Konnotation der Höhe tritt aber wohl hinter diejenige der deutlichen Erkennbarkeit zurück, so dass naǧd einfach nur „klarer Weg“ bedeutet; naǧd ist also allgemeiner als ʿaqaba („Steilweg“) im folgenden Vers. Alternativ könnte man den Dual mit Ahrens lediglich auf Reimzwang zurückführen ( Ahrens 1935, 33, Anm. 1 ): an-naǧdain stünde dann für den Weg der Tugend, nicht für den Weg der Tugend und den des Lasters. Doch ergibt angesichts des binären Gegensatzes von Gut und Böse ein wörtliches Verständnis des Dual guten Sinn. Für eine wörtliche Deutung spricht auch ein Vergleich des Verses mit 91:8, fa-ʾalhamahā fuǧūrahā wa-taqwāhā: So wie Gott der Seele Laster und Gottesfurcht als zwei Existenzmöglichkeiten eingibt, so führt er den Menschen an zwei Wege, an-naǧdain, heran, zwischen denen er sich dann zu entscheiden hat.
al-ʿaqaba] „ʿAqaba bezeichnet einen unwegsamen Bergpfad“ (wa-l-ʿaqabatu ṭarīqun fī l-ǧabali waʿrun; Lisān, s. v. ʿ-q-b ; vgl. Lane, Bd. 5, 2102b ). Neuwirth bezieht den Ausdruck auf eine spezifische urbane Räumlichkeit, einen bestimmten Straßentypus ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 249–251 ), was sich gut in ihre Gesamtdeutung der Sure einfügt, lexikographisch allerdings nicht als gesichert gelten kann. – Die Verbildlichung des rechten Lebenswegs als einer nur mühsam zu passierenden topographischen Gegebenheit erinnert an Matthäus 7:13.14, wo der rechte Lebensweg als eine „enge Pforte“ veranschaulicht wird, zu der ein „schmaler Weg“ führt (vgl. Bell, Commentary , zu 90:10, sowie Thyen 2000, 218 f. ). Allerdings ist nicht ganz klar, inwiefern der in 90:12–16 näher bestimmte Weg der Tugend beschwerlicher ist als die dem altarabischen Heldenideal entsprechende gänzliche Besitzverschwendung, die in V. 6 anklingt (ich verdanke diese Überlegung David Kiltz).
Der Tugendkatalog ist offensichtlich biblisch geprägt (zum prophetischen Topos der gebotenen Unterstützung von Waisen und Armen s. allg. die Anmerkung zu 107:2–3 mit weiteren koranischen Parallelstellen) und weist insbesondere deutliche Anklänge an Jesaja 58:6–7 auf (der entsprechende Hinweis in Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 244 basiert auf einer früheren Fassung des vorliegenden Kommentars): „Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen [vgl. 90:13], / an die Hungrigen dein Brot auszuteilen [vgl. 90:14], die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden [vgl. 90:16] und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen [vgl. 90:15].“ Auch in der Jesaja-Stelle antwortet der Tugendkatalog auf eine Frage, allerdings nicht die nach dem „steilen Weg“, sondern nach einem „Fasten ..., das dem Herrn gefällt“; wie im Koran steht auch in der Bibelstelle die Befreiung von Sklaven am Anfang, und wie im Koran werden daraufhin u. a. Arme und Verwandte als Empfänger von Hilfeleistungen hervorgehoben.
yatīman ḏā maqrabah / ʾau miskīnan ḏā matrabah] Waisen und Arme – die bereits in der biblischen Literatur die schwächsten Glieder der Gesellschaft repräsentieren und damit in besonderer Weise karitativer Zuwendung bedürftig sind – wurden bereits in 107:2–3 (fa-ḏālika llaḏī yaduʿʿu l-yatīm / wa-lā yaḥuḍḍu ʿalā ṭaʿāmi l-miskīn) zusammen genannt; sie erscheinen auch in dem ungefähr gleichzeitigen Passus 89:17–18 (kallā bal lā tukrimūna l-yatīm / wa-lā taḥāḍḍūna ʿalā ṭaʿāmi l-miskīn). Zum Typus des Armen vgl. frühmekkanisch noch die wohl späteren Stellen 74:44 (wa-lam naku nuṭʿimu l-miskīn), 68:24 (ʾan lā yadḫulannahă l-yauma ʿalaikum miskīn) und 69:34 (wa-lā yaḥuḍḍu ʿalā ṭaʿāmi l-miskīn).
ṯumma kāna mina llaḏīna ʾāmanū wa-tawāṣau bi-ṣ-ṣabri wa-tawāṣau bi-l-marḥamah] Vgl. ähnlich den wohl ebenfalls sekundären Vers 103:3 (ʾillā llaḏīna ʾāmanū wa-ʿamilŭ ṣ-ṣāliḥāti wa-tawāṣau bi-l-ḥaqqi wa-tawāṣau bi-ṣ-ṣabr). Zum Verb ʾāmana s. die Anmerkung zu 69:33.
ʾaṣḥābu l-maimanah, ʾasḥābu l-mašʾamah] Vgl. 56:8–9, wo ebenfalls die ʾaṣḥāb al-maimana und die ʾasḥāb al-mašʾama einander entgegengesetzt werden; später in derselben Sure (56:27.41.90.91) ist in demselben Sinn von den ʾaṣḥāb al-yamīn und den ʾasḥāb aš-šimāl die Rede. Vgl. auch 74:39 (ʾillā ʾaṣḥāba l-yamīn). Paret (Kommentar, ad loc.) verweist noch auf Stellen wie 69:19–24, 69:25–37, 84:7–9, 84:10–15 und 17:71, wo es heißt, am Jüngsten Tag würde den Menschen ihr Tatenregister in die rechte oder linke Hand gegeben werden, doch ist in der vorliegenden Sure 90 und auch in Sure 56 wohl eher gemeint, dass die Seligen und Verdammten jeweils auf der rechten bzw. linken Seite Gottes stehen. Die Vorstellung einer Trennung der Gerichteten in solche der Rechten und solche der Linken ist ein die christliche Eschatologie beherrschendes Bild, vgl. die Schilderung des Weltgerichts in Matthäus 25:31–46 (vgl. Horovitz 1923, 62 f. ; s. TUK, Nr. 33): „Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. / Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. / Er wird die Schafe zu seiner Rechten (ἐκ δεξιῶν αὐτοῦ) versammeln, die Böcke aber zur Linken (ἐξ εὐωνύμων = al-mašʾama).“
wa-llaḏīna kafarū bi-ʾāyātinā] Zu ʾāyāt vgl. die Anmerkung zu 74:16, zu kafara die Anmerkung zu 84:22.
ʿalaihim nārun muʾṣadah] Vgl. 104:8 (ʾinnahā ʿalaihim muʾṣadah). Zu nār vgl. die Anmerkung zu 111:3.
Literaturliste
Die Sure wird durch zwei Schwüre eingeleitet. Wie der frühere Passus 95:2–3, der „diesen sicheren Ort“ neben den Berg Sinai stellt, evoziert auch der erste Schwur von Sure 90 die Stadt Mekka und ihren besonderen sakralen Status, der bereits in Sure 106 als Folge göttlichen Schutzes erklärt wurde. Schwer zu deuten ist der parenthetische zweite Vers („wo du frei von – sakralen? – Verpflichtungen bist“): Da Mekka seine Bedeutung zu einem wesentlichen Teil seiner Stellung als Pilgerzentrum verdanken dürfte (vgl. Peters 1999, xxxvi f. ), wäre prima facie eher zu erwarten gewesen, dass der einleitende Schwur mit einem Verweis auf den Pilgerzustand (ʾiḥrām) und die sich aus ihm ergebenden sakralen Pflichten erläutert wird als mit der Freiheit von denselben. Offenbar soll der Vers aber gerade betonen, dass der Wallfahrtsort Mekka nicht nur ein Schauplatz sakraler Vollzüge ist, sondern auch ein Ort profanen menschlichen Zusammenlebens, dessen Gelingen auf die in V. 11–16 exemplifizierte Bereitschaft zur Unterstützung schwächerer oder hilfsbedürftiger Gesellschaftsmitglieder angewiesen ist. Das Verhältnis zwischen kultischem und außerkultischem Verhalten wird auch in einem anderen frühen Korantext behandelt, nämlich in Sure 107, die systematisch einen Konnex zwischen religiösen Überzeugungen und Praxen einerseits und der moralischen Bewährung des Einzelnen im Alltag zu etablieren versucht. Vor diesem Hintergrund könnte V. 90:2 darauf anspielen, dass der Einzelne auch außerhalb von Gebet und Opferkult religiös begründeten Normen untersteht.
Der zweite Schwur stellt nach der Schwuraussage 95:4–5 eine der ersten koranischen Anspielungen auf Zeugung und Geburt des Menschen dar. In späteren Texten (vgl. bereits die frühmekkanische Passage 75:37–39) erscheint das Thema in der Regel als Bestandteil von hymnischen Werkaffirmationen oder von ʾāyāt-Polemiken. Anders als in 95:4–5 und späteren Passagen wird die Entstehung des Menschen im Mutterleib hier zunächst nicht explizit als Resultat eines göttlichen Schöpfungsaktes (ḫalaqnā, „wir haben geschaffen“), sondern als Resultat eines menschlichen Zeugungsaktes beschrieben. Das Verb ḫalaqa erscheint aber unmittelbar darauf im folgenden Vers 90:4 („Wir haben den Menschen zu einem Dasein in Mühsal erschaffen“), so dass sich eine effektvolle Perspektivenverschiebung ergibt: Nicht der in V. 90:3 evozierte „Erzeuger“ hat die Zeugung seiner Nachkommen bewirkt, sondern „wir haben den Menschen erschaffen“ – womit wie auch in 95:4 wohl nicht die urzeitliche Erschaffung Adams, sondern die Entstehung und Reifung des Embryos im Mutterleib gemeint ist. Der scheinbar autonom ablaufende Prozess des Zeugens und Gezeugt-Werdens wird damit der Macht Gotte unterstellt.
Zugleich charakterisiert die Schwuraussage das dem Menschen von Gott verliehene Dasein als „mühselig“. Die prononcierten moralischen Ansprüche, die im Surenfortgang erhoben werden, machen deutlich, dass damit nicht primär beschwerliche Lebensbedingungen – etwa eine Gefährdung des Menschen durch Mangel oder Krankheit – intendiert sind, sondern die Forderung spezifisch moralischer Anstrengung, welcher der Mensch aufgrund seiner Geschaffenheit unterliegt: Die menschliche Existenz ist als eine durch Gott gestiftete auf moralische Bewährung hin angelegt. Wie etwa auch 95:1–5 und 96:1–5 lässt der Eröffnungspassus von 90 damit die beiden Themenkomplexe göttliche Schöpfung einerseits und göttliche Offenbarung und Zuwendung andererseits anklingen.
Das zweite Gesätz, das pronominal an den ʾinsān-Spruch am Ende des Einleitungsgesätzes anknüpft, gliedert sich in zwei reimlich voneinander abgesetzte Dreiergruppen. Trotz des Reimwechsels steht die formale Einheit des durch das Vorherrschen polemischer Fragen in der 3. Person Singular verknüpften Gesätzes nicht in Frage. Die erste Gesätzhälfte ist eine an 104 erinnernde Besitzpolemik; sie prangert jene menschliche Haltung vermeintlicher Selbstgenügsamkeit und Nicht-Angewiesenheit auf Gott an, die in anderen frühen Koransuren mit dem Verb istaġnā (80:5, 92:8, 96:7) bezeichnet wird. V. 90:5 und 90:7 fragen polemisch, ob der Mensch meine, dass niemand „Gewalt über ihn habe“ oder ihn „sehe“. Die beiden Verse stehen in deutlicher sprachlicher Korrespondenz: Sie beginnen anaphorisch mit ʾa-yaḥsabu und tragen ʾaḥad im Reim. Zwischen den beiden polemischen Fragen V. 90:5 und 90:7 steht das Referat einer dem Menschen zugeschriebenen und seine Hybris exemplarisch illustrierenden Äußerung: „Ich habe haufenweise Besitz vertan!“ Der Vers invertiert einen ursprünglich positiv konnotierten Topos der altarabischen Dichtung, die dem altarabischen karam-Ideal entsprechende ostentative Verschwendung von Besitz. (Das positive Gegenstück hierzu, die gottgefällige Umgangsweise mit Besitz, stellen dann V. 90:13–16 dar.)
Der zweite, ebenfalls aus drei Versen bestehende Gesätzteil besteht aus einer ʾāyāt-Polemik, die Gottes Ausstattung des Menschen mit Sehsinn, Sprechwerkzeugen und moralischer Orientierung aufzählt und damit auf die bereits in V. 90:4 festgehaltene Geschaffenheit des Menschen zurückverweist. Der inhaltliche Kontrast zwischen der Selbstherrlichkeit des Menschen und der von ihm empfangenen, jedoch verkannten Fürsorge Gottes (V. 90:8–10) wird durch den Reimwechsel zwischen V. 90:7 und 90:8 auch literarisch akzentuiert. Am Ende des Gesätzes wird erneut festgehalten, daß aus Gottes Erschaffung des Menschen eine besondere Verpflichtung folgt. Nachdem sie in V. 90:4 zunächst unbestimmt als „Mühsal“ beschrieben worden war, wird jetzt präzisiert, dass es sich um die dem Menschen aufgegebene Entscheidung zwischen „zwei Wegen“, an-naǧdain, also zwischen „Gottesfurcht“ und „Laster“ (91:8) handelt. Der behauptete Zusammenhang zwischen Gottes Gnadenerweisen gegenüber dem Menschen und der menschlichen Verpflichtung zu einer angemessenen Reaktion hierauf wird auch durch die als Reim fungierende Dualendung (ʿainain, šafatain, naǧdain) unterstrichen: Wie im ersten Teil von Sure 91 wird das die natürliche Welt insgesamt und auch den menschlichen Mikrokosmos durchziehende Phänomen der Dualität typologisch mit dem Gegensatz zwischen gut und böse verknüpft.
Mit Beginn des dritten Gesätzes – das sich immer noch pronominal auf den in V. 90:4 eingeführten ʾinsān zurückbezieht – schlägt das zuvor von rhetorischen Fragen geprägte Register des Textes in einen kategorischen Tonfall um: Der Mensch, der durch die göttliche Schöpfung zur Einsicht befähigt (V. 90:8–9) und mit der Entscheidung zwischen gut und böse konfrontiert ist (V. 90:10), wird an dem zuvor begründeten moralischen Standard gemessen und mit knappen Worten abgeurteilt (V. 90:11): Sein Umgang mit den göttlichen Schöpfungsgaben lässt zu wünschen übrig. Dabei verbleibt das Urteil in der topologischen Bildlichkeit des vorangehenden Verses: Dem Menschen wird vorgeworfen, unter den beiden „Wegen“ nicht den „steilen Pfad eingeschlagen“ zu haben. Die metaphorische Darstellung des geforderten Lebenswandels als Erklimmen einer Anhöhe schlägt den Bogen zurück zu der bereits in V. 90:4 ausgesagten Beschwerlichkeit des menschlichen Daseins. Nachdem das zweite Gesätz ein exemplarisches Negativbeispiel vorgeführt hat, folgt nun – nach einer als retardierendes Moment fungierenden Lehrfrage – eine abschließende Positivbestimmung des vom Menschen geforderten Lebenswandels: Anstelle einer letzten Endes nur der Selbsterhöhung dienenden Besitzverschwendung wird dazu angehalten, Besitz zur gezielten Fürsorge für schwächere und notleidende Mitmenschen einzusetzen – eine Fürsorge, die letztlich die zuvor in Erinnerung gebrachte Fürsorge Gottes für den Menschen imitiert.
Der gesamte Tugendkatalog V. 90:13–16 ist biblisch geprägt und lässt sich als Adaption von Jesaja 58:5–7 lesen. Allerdings haben beide Passagen verschiedene thematische Kontexte: In Jesaja 58:5–7 – wo im Gegensatz zum Koran nur das Volk Israel (Jesaja 58:1: „mein Volk“) und nicht die gesamte Menschheit angesprochen ist – geht es vor allem um die Feststellung, dass wahre Frömmigkeit sich nicht in äußerlichen kultischen Verrichtungen erschöpft. Die koranische Passage dagegen stellt darauf ab, dass die dem Menschen in der Schöpfung zuteil gewordene Gnade ihm eine moralische Verpflichtung auferlegt, den „steilen Pfad“ einzuschlagen. Die Anklänge an Jesaja 58:5–7 sind gleichwohl deutlich: Die durch die Anspielung in V. 90:6 repräsentierte Dichtung und das von ihr transportierte heroische Weltbild werden durch eine – vielleicht aus gottesdienstlichen Lesungen vertraute – Bibel-Referenz überschrieben. Eine Bibelpassage wird damit als Bundesgenosse in der Auseinandersetzung mit dem Lebensideal der zum Zeitpunkt der Koranverkündigung kanonischen altarabischen Dichtung adaptiert. Trotz seiner biblischen Resonanz ist jedoch auch der Tugendkatalog wiederum poetisch kodiert: „Während masġaba [V. 90:14] ein übliches Lexem ist, sind die Qualifikationen der Waise und des Armen mit eigens in Analogie zu masġaba gebildeten morphologischen Ableitungen [ḏū maqraba, ḏū matraba] ausgedrückt“, wie sie in der altarabischen Dichtung üblich sind ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 244 ). Der biblisch inspirierte, in literarischer Hinsicht jedoch gezielt arabisierte Tugendkatalog stellt damit den Kulminationspunkt der gesamten Sure dar: Er expliziert die normativen Konsequenzen der in V. 90:4 summarisch konstatierten und im zweiten Gesätz dann anhand der menschlichen Sinnesorgane exemplarisch veranschaulichten göttlichen Zuwendung.
Das wohl als Zusatz zu betrachtende Schlussgesätz V. 90:17–20 lässt den Text mit einer Beschreibung des Jenseitsschicksals von Seligen und Verdammten schließen; damit wird der Sure nachträglich eine Verdeutlichung der eschatologischen Konsequenzen der dem Menschen offenstehenden gegensätzlichen Wege angefügt. Während der Text in seiner ursprünglichen Gestalt vor allem einen moralischen Anspruch formuliert, kulminiert er jetzt in einer diametralen Abgrenzung von Seligen und Verdammten: Der Gegensatz zweier moralischer Wahlmöglichkeiten des Einzelnen wird in zwei entsprechende Gruppenidentitäten verlängert. Dies dürfte auch eine reale Eskalation im Verhältnis zwischen Anhängern und Gegnern Muḥammads reflektieren. Das sekundäre Schlussgesätz V. 17–20, welches das Reimschema von V. 90:11–16 fortsetzt, fügt sich kompositorisch gut in die Sure ein, da es dieselbe Verszahl wie das Anfangsgesätz V. 1–4 hat, wodurch sich die chiastischen Proportionen 4+6+6+4 ergeben.
Literaturliste
Q 90 entspricht in Verslänge (ohne die eingeschobenen Verse 90:17–20 durchschnittlich 9 Silben pro Vers), Gesamtlänge und Aufbau (Gliederung in drei Gesätze, aber noch nicht in aus mehreren Gesätzen bestehende Surenteile) Gruppe II der frühmekkanischen Periode.
90:17–20, die den Tugendkatalog aus V. 13–16 in eine eschatologische Antithese umbiegen und in ihrer Verwendung finiter Verbformen grammatisch nicht zu den vorhergehenden Infinitivkonstruktionen passen, sind verschiedentlich als späterer Zusatz identifiziert worden ( Bell, Commentary, ad loc. , vgl. Neuwirth, Studien, 228 ; s. a. Paret, Kommentar, ad loc. ). Insbesondere V. 17 fällt durch Überlänge und durch seine Ähnlichkeit mit dem wohl ebenfalls nachträglich angehängten Vers 103:3 aus dem Rahmen. Auf für die frühmekkanischen Korantexte uncharakteristische Weise gibt er – im Gegensatz zu dem vorangehenden Tugendkatalog – keine exemplarische Illustration von gottgefälligem Verhalten, sondern versucht eine definitionsähnliche Gesamtcharakterisierung der Guten. Auch der Gegensatz zwischen den „Leuten der rechten Seite“ und den „Leuten der Unheil bringenden Seite“ (V. 18.19: ʾaṣḥāb al-maimana, ʾaṣḥāb al-mašʾama) taucht sonst nur noch in der sicherlich späteren Sure 56 (vgl. insbesondere Q 56:8.9) auf. Dass in Sure 56 ein späterer Rückbezug auf die vorliegende Sure vorliegt, dürfte angesichts der Einschubverdächtigkeit auch von V. 17 weniger wahrscheinlich sein. Die phraseologische Übereinstimmung zwischen 90:18.19: ʾaṣḥāb al-maimana und Q 56:8.9 legt nahe, dass die beiden Passagen in etwa gleichzeitig anzusetzen sind.
Die Sure dürfte ursprünglich nur aus den ersten drei Gesätzen bestanden haben. Dabei umfassen das zweite und dritte Gesätz jeweils sechs Verse und entsprechen sich längenmäßig. Als Einleitung steht eine Schwurpassage mit ʾinsān-Spruch, die zwei grundlegende göttliche Gnadenerweise benennt: den besonderen Rang Mekkas (V. 1) und die Erschaffung des Menschen (V. 3.4). Bereits in der Schwuraussage klingt das thematische Zentrum der Sure an: Aus den vom Menschen empfangenen göttlichen Zuwendungen ergibt sich eine Verpflichtung, die zunächst nur metaphorisch als „Mühsal“ beschrieben wird. Eine erste, negative Bestimmung dieser dem Menschen auferlegten „Mühsal“ gibt das zweite Gesätz: Es prangert Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung an und impliziert durch das Aufgreifen eines dichterischen Topos, dass die kritisierten Verhaltensweisen in besonderer Weise mit dem Wertekanon der altarabischen Dichtung zusammenhängen. Anhand der menschlichen Sinnesorgane wird anschließend noch einmal detailliert die fundamentale Tatsache der menschlichen Geschaffenheit in Erinnerung gebracht, bevor das Gesätz im Gegensatz zweier „Wege“ kulminiert, vor die sich der Mensch gestellt sieht – eine topologische Versinnbildlichung der ihm aufgegebenen Entscheidung zwischen gut und böse. Das dritte Gesätz schließlich gibt eine positive Bestimmung der dem Menschen obliegenden Verpflichtung: In Form eines auf biblische Motive zurückgreifenden Tugendkatalogs wird exemplarisch vorgeführt, dass die dem Menschen auferlegte „Mühsal“ bzw. das „Erklimmen des steilen Wegs“ in moralischem Handeln, insbesondere in Leistungen sozialer Solidarität besteht.
Eine anders geartete Analyse der Sure bietet Cuypers 2001, 77–815 , der dem Text – wie zahlreichen anderen Koransuren – einen konzentrischen Aufbau um die Lehrfrage in V. 12 herum zuschreibt (zu seinem Ansatz s. allgemein die kritischen Bemerkungen im Abschnitt „Zum Format des Kommentars“ der Einleitung; vgl. auch den Kommentar zu Sure 104, in der Cuypers ebenfalls eine Lehrfrage als Scharniervers identifiziert).
Überblick
1–4 3(K)K3d | 1 1–3 Schwüre (Mekka, Zeuger, Gezeugtes) (V. 2 Parenthese) |
4 Schwuraussage: ʾinsān-Spruch | |
5–7 3(K)K3d | 2 5–7 polemische Fragen (3. P. Sg.) |
8–10 ain | 8–10 weitere polemische Fragen: Werkaffirmationen |
11–16 3(K)K3bah | 3 11 Scheltwort (Forts. ʾinsān-Spruch) |
12 Lehrfrage zu ʿaqaba | |
13–16 Antwort: Tugendkatalog | |
17–20 3(K)K3Kah | [4 17–20 eingeschobenes Gesätz: |
17.18 Antithese (Positivteil): Tugendkatalog mit Verheißung (V. 18) |
|
19.20 Antithese (Negativteil): Lasterkatalog mit Drohwort] |
Proportionen (ohne V. 17–20): 4+6(=3+3)+6.