بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
وَٱلۡفَجۡرِ |
I11 Beim Tagesanbruch |
وَلَيَالٍ عَشۡرٍۢ |
2 und bei zehn Nächten! |
وَٱلشَّفۡعِ وَٱلۡوَتۡرِ |
3 Beim Geraden und Ungeraden! |
وَٱلَّيۡلِ إِذَا يَسۡرِ |
4 Bei der Nacht, wenn sie ihren Lauf nimmt! |
هَلۡ فِی ذَٰلِكَ قَسَمٌۭ لِّذِی حِجۡرٍ |
5 Liegt darin nicht ein Schwur für Verständige? |
أَلَمۡ تَرَ كَيۡفَ فَعَلَ رَبُّكَ بِعَادٍ |
II26 Hast du nicht gesehen, wie dein Herr an den ʿĀd gehandelt hat, |
إِرَمَ ذَاتِ ٱلۡعِمَادِ |
7 an Iram mit der Säule, |
ٱلَّتِی لَمۡ يُخۡلَقۡ مِثۡلُهَا فِی ٱلۡبِلَٰدِ |
8 wie sonst keine Stadt im Lande geschaffen wurde, |
وَثَمُودَ ٱلَّذِينَ جَابُوا۟ ٱلصَّخۡرَ بِٱلۡوَادِ |
9 und an den Ṯamūd, die im Tal den Fels aushöhlten, |
وَفِرۡعَوۡنَ ذِی ٱلۡأَوۡتَادِ |
10 und an Pharao, dem mit den Pfählen, |
ٱلَّذِينَ طَغَوۡا۟ فِی ٱلۡبِلَٰدِ |
11 die im Lande aufsässig waren |
فَأَكۡثَرُوا۟ فِيهَا ٱلۡفَسَادَ |
12 und viel Unheil darin angerichtet haben, |
فَصَبَّ عَلَيۡهِمۡ رَبُّكَ سَوۡطَ عَذَابٍ |
13 so dass dein Herr eine Strafgeißel über sie ausgoss? |
إِنَّ رَبَّكَ لَبِٱلۡمِرۡصَادِ |
14 Dein Herr liegt auf der Lauer. |
فَأَمَّا ٱلۡإِنسَٰنُ إِذَا مَا ٱبۡتَلَىٰهُ رَبُّهُۥ |
III315 Wenn Gott den Menschen prüft |
فَأَكۡرَمَهُۥ وَنَعَّمَهُۥ |
und großmütig und gnädig gegen ihn ist, |
فَيَقُولُ رَبِّیٓ أَكۡرَمَنِ |
so sagt er: „Mein Herr war großmütig gegen mich.“ |
وَأَمَّآ إِذَا مَا ٱبۡتَلَىٰهُ |
16 Wenn Gott ihn aber prüft |
فَقَدَرَ عَلَيۡهِ رِزۡقَهُۥ |
und ihm seinen täglichen Unterhalt knapp abmisst, |
فَيَقُولُ رَبِّیٓ أَهَٰنَنِ |
so sagt er: „Mein Herr hat mich erniedrigt.“ |
كَلَّا بَل لَّا تُكۡرِمُونَ ٱلۡيَتِيمَ |
417 Nein! Ihr seid nicht großmütig gegen die Waisen, |
وَلَا تَحَٰٓضُّونَ عَلَىٰ طَعَامِ ٱلۡمِسۡكِينِ |
18 haltet euch untereinander nicht zur Speisung des Armen an, |
وَتَأۡكُلُونَ ٱلتُّرَاثَ أَكۡلًۭا لَّمًّۭا |
19 verzehrt die gesamte Erbschaft |
وَتُحِبُّونَ ٱلۡمَالَ حُبًّۭا جَمًّۭا |
20 und liebt den Besitz über alle Maßen! |
كَلَّآ إِذَا دُكَّتِ ٱلۡأَرۡضُ دَكًّۭا دَكًّۭا |
521 Nein! Wenn die Erde Stück um Stück zerstoßen wird |
وَجَآءَ رَبُّكَ وَٱلۡمَلَكُ صَفًّۭا صَفًّۭا |
22 und dein Herr und die Engel in Reihen kommen |
وَجِا۟ىٓءَ يَوۡمَئِذٍۭ بِجَهَنَّمَ ۚ |
23 und an jenem Tag die Hölle herbeigebracht wird – |
يَوۡمَئِذٍۢ يَتَذَكَّرُ ٱلۡإِنسَٰنُ |
an jenem Tag lässt sich der Mensch mahnen. |
وَأَنَّىٰ لَهُ ٱلذِّكۡرَىٰ |
Doch was soll ihm dann die Mahnung? |
يَقُولُ يَٰلَيۡتَنِی قَدَّمۡتُ لِحَيَاتِی |
24 Er sagt: „Hätte ich doch nur für mein Leben vorgesorgt!“ |
فَيَوۡمَئِذٍۢ لَّا يُعَذِّبُ عَذَابَهُۥٓ أَحَدٌۭ |
25 An jenem Tag straft niemand so hart wie dein Herr, |
وَلَا يُوثِقُ وَثَاقَهُۥٓ أَحَدٌۭ |
26 und niemand bindet so fest wie er. |
يَٰٓأَيَّتُهَا ٱلنَّفۡسُ ٱلۡمُطۡمَئِنَّةُ |
627 „Du vertrauende Seele! |
ٱرۡجِعِیٓ إِلَىٰ رَبِّكِ رَاضِيَةًۭ مَّرۡضِيَّةًۭ |
28 Kehre zufrieden und wohlgefällig zu deinem Herrn zurück; |
فَٱدۡخُلِی فِی عِبَٰدِی |
29 tritt ein in den Kreis meiner Diener, |
وَٱدۡخُلِی جَنَّتِی |
30 tritt ein in meinen Garten!“ |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
Zu grundsätzlichen Hinweisen zu den koranischen Schwüren sowie ihrer wahrscheinlichen, aber bis dato noch nicht hinreichend untersuchten Anlehnung an ein charakteristisches Ausdrucksmittel altarabischer Seher (kuhhān) s. die Anmerkung zu 100:1–5; zum hier vorliegenden Schwurtypus s. die Anmerkung zu 93:1.2.
wa-l-faǧr / wa-layālin ʿašr] Schwüre beim „Tagesanbruch“ (al-faǧr), beim „Morgen“ (aṣ-ṣubḥ), beim Tag o. Ä. enthalten auch 74:34, 81:18, 91:1.3. 92:2, 93:1. In all diesen Parallelstellen werden der Morgen bzw. der Tag mit der Nacht kontrastiert; wenn in 89:1.2 als Schwurgegenstände der Tagesanbruch und die „zehn Nächte“ genannt werden, so handelt es sich dabei um eine Variation desselben Kontrasts. Allerdings ist die Nacht als Schwurgegenstand nur hier mit einer Quantifikation versehen. Neuwirth bezieht die zehn Nächte auf das erste Drittel des bereits in vorislamischer Zeit begangenen Wallfahrtsmonats (vgl. Wellhausen 1897, 81) und arbeitet auf dieser Grundlage eine beiden Schwurgegenständen gemeinsame kultische Signifikanz heraus: „[W]ie es bei dem täglichen faǧr um eine eng begrenzte, für das Gebet zu nutzende Übergangszeit zwischen Nacht und Tag geht, so gelten die zehn ersten Nächte des Wallfahrtsmonats als eine noch unentschiedene Zeit des Übergangs vor einer definiten göttlichen Entscheidung, in welcher gottesdienstliche Übungen als besonders verdienstvoll angesehen werden.“ (Neuwirth, „Horizont“, 25) Obwohl Neuwirths liturgische Interpretation der für Gruppe II charakteristischen kosmischen Schwurserien bestimmten Einwänden ausgesetzt ist (s. ausführlich die Anmerkung zu 93:1.2), ist eine kultische Deutung der in V. 2 genannten „zehn Nächte“ doch einleuchtend. Neben dem Gesichtspunkt von Übergangszeiten steht hier und auch im folgenden Vers allerdings auch das insbesondere in Schwurpassagen aus Gruppe II prominente Motiv kosmischer Dualität (Tagesanbruch – Nacht, gerade – ungerade) im Vordergrund, das anderswo (91:9.10, 92:4–10) explizit mit dem moralischen Gegensatz von gut und böse und der entsprechenden eschatologischen Vergeltung korreliert wird (s. insb. den kursorischen Kommentar zu Q 92). – Für eine kultische oder liturgische Konnotierung des faǧr im Sinne Neuwirths spricht, dass ein sehr wahrscheinlich authentisches Gedicht Umayya b. abī ṣ-Ṣalts mit den Worten „Sei gegrüsst, Herr, bei jeder Morgendämmerung (faǧr) ...“ beginnt (TUK, Nr. 568).
wa-l-laili ʾiḏā yasr] Vgl. die ebenfalls nach dem Muster wa-l-laili ʾiḏā + Verb gebildeten Schwüre in 74:33 (wa-l-laili ʾiḏ ʾadbar), 81:17 (wa-l-laili ʾiḏā ʿasʿas), 84:17 (wa-l-laili wa-mā wasaq), 91:4 (wa-l-laili ʾiḏā yaġšāhā), 92:1 (wa-l-laili ʾiḏā yaġšā).Yasri mit einer der Dichtung entsprechenden Unterdrückung des Kurzvokals > yasr steht wohl aus Reimgründen für yasrī (Bell, Commentary, zu 89:3 nach Flügel-Zählung).
hal fī ḏālika qasamun li-ḏī ḥiǧr] Wörtlich: „Liegt darin nicht ein Schwur für einen Verständigen?“ Eine ähnliche metatextuelle Charakterisierung als Schwuraussage steht auch in 56:75.76 (fa-lā ʾuqsimu bi-mawāqiʿi n-nuǧūm / wa-ʾinnahū la-qasamun lau taʿlamūna ʿaẓīm).
Zu den ʿĀd vgl. u. a. Horovitz, Koranische Untersuchungen, 125–127, sowie Buhl, „ʿĀd“, EI; zu den – als Stammesname bereits in einer assyrischen Inschrift bezeugten – Ṯamūd s. Horovitz, Koranische Untersuchungen, 103–106, und Shahid, „Thamūd“, EI. Eine ausführliche Zusammenstellung aller koranischen Parallelen findet sich bei Paret, Kommentar, zu 7:65–72 (ʿĀd) und zu 7:73–79 (Ṯamūd); vgl. auch den Überblick über das koranische Material bei Firestone, „Thamūd“, EQ, und Tottoli, „ʿĀd“, EQ. Dass die koranische Gattung der Straflegende nicht aus einem literaturgeschichtlichen Vakuum kommt, zeigt Andrae 1926, 46 ff. anhand einer warnender Exempel in der Dichtung des ʿAdī b. Zaid. – Neben der vorliegenden Sure finden sich in Gruppe II der frühmekkanischen Suren nur noch drei weitere narrativ geprägte Abschnitte: ein kurzer Verweis auf Pharao und die Ṯamūd in 85:17.18, eine Pharao-Reminiszenz in 73:15.16 sowie eine vergleichsweise ausführliche Ṯamūd-Erzählung in 91:11–15 (ein früher narrativer Text ist auch noch Sure 105 aus Gruppe I, der jedoch einen von den späteren Straflegenden verschiedenen Charakter hat, s. den Kommentar dazu). Die Erzählungen über die Ṯamūd, ʿĀd und über Pharao machen folglich den Nukleus des später erheblich erweiterten koranischen Straflegenden-Repertoires aus. Zu den Ṯamūd vgl. a. die Anmerkung zu 91:11–15.
Auffällig ist, wie kursorisch die frühesten Bezugnahmen auf die später ausführlich beschriebenen Ṯamūd, ʿĀd und Pharao in Q 91, 89, 85 und 73 sind. Das Schicksal der Ṯamūd wird zwar in 91:11–15 in Grundzügen geschildert, doch ist keineswegs ausgemacht, dass Q 91 die früheste der genannten vier Suren ist; und zumindest von den ʿĀd und von Pharao handeln detailliert erst eindeutig spätere Texten. Diese Sachlage impliziert, dass die betreffenden Erzählungen den Adressaten des Textes zumindest in Grundzügen vertraut waren (vgl. Bell, Commentary, zu 89:5–13 nach der Flügel-Zählung), dass der Koran also hier ein Vorwissen der Hörer in Anspruch nimmt. Um die Suche nach entsprechenden Belegen aus der vorkoranischen Dichtung für die nicht der biblischen Tradition entstammenden ʿĀd und Ṯamūd hat sich insbesondere Horovitz (s. o.) bemüht, doch bleibt die vorkoranische Gestalt der betreffenden Stoffe in den meisten Gedichten wenig greifbar: Zwar werden beide Namen in einer ganzen Reihe von Versen erwähnt, von denen einige auch auf den Untergang der beiden Völkerschaften anspielen, doch wird die Art und Weise ihrer Vernichtung nicht näher spezifiziert. Für eine Rekonstruktion der vorkoranischen Ṯamūd-Legende steht immerhin ein wahrscheinlich authentisches Gedicht Umayya b. abī ṣ-Ṣalts zur Verfügung (s. TUK, Nr. 525), welches sich von den koranischen Ṯamūd-Passagen in verschiedener Hinsicht unterscheidet: Es fehlt die Figur eines göttlich gesandten Warners, dessen expliziten Anweisungen die Ṯamūd zuwider handeln; stattdessen geht die Vernichtung der Ṯamūd auf einen durch das Junge des getöteten Kamels ausgestoßenen Fluch zurück (vgl. den Kommentar zu Q 91). Interessant ist, dass der von Umayya für die Tötung der von Gott zu den Ṯamūd gesandten Kamelstute verantwortlich gemachte Aḥmar in der Muʿallaqa des Zuhair und einem weiteren Gedicht nicht den Ṯamūd, sondern den ʿĀd zugeordnet wird (Horovitz, Koranische Untersuchungen, 105), was vielleicht darauf hindeutet, dass die Erzählung von der Kamelstute in vorkoranischer Zeit auch mit den ʿĀd verbunden wurde bzw. beide Völkernamen in mancher Hinsicht austauschbar waren. – Im Zusammenhang mit der Frage nach Anknüpfungspunkten und Voraussetzungen der koranischen Straferzählungen ist schließlich auch eine Aufzählung der durch Allāh vernichteten Gestalten der Vorzeit erwähnenswert, die sich in einem Vers des Zuhair findet und neben Tubbaʿ, Luqmān b. ʿĀd, ʿĀdiyā, Ḏū l-Qarnain und an-Naǧāšī auch Pharao umfasst (Horovitz, Koranische Untersuchungen, 130): Offensichtlich hat man es hier mit einer koranischen Straflisten durchaus vergleichbaren Zusammenstellung geschichtlicher Akteure zu tun (bei Zuhair sind es allerdings Individuen und keine Kollektive), deren Macht durch Gott gebrochen wurde – es ist deshalb denkbar, dass das koranische Konzept einer zyklischen Abfolge innerweltlicher göttlicher Strafgerichte die dem Zuhair-Vers zugrunde liegenden Vorstellungen weiterführt.
ʾa-lam tara kaifa faʿala rabbuka bi-ʿād / ʾirama ḏāti l-ʿimād] Zum Gottestitel rabb s. die Anmerkung zu 95:8. Der Ausdruck ʾiram ḏāt al-ʿimād ist ein koranisches hapax legomenon. ʿĀd wird nach kufischer Lesung als nunierter Genitiv aufgefasst (ʿādin), zu dem ʾirama ḏāti l-ʿimād als Apposition steht. Liest man stattdessen ohne Nunation ʿādi oder diptotisch ʿāda (vgl. Muʿǧam, ad loc.), bildet ʾiram ... das nomen rectum einer Genitivverbindung im Sinne von „ʿĀd aus Iram ...“ o. Ä. Der Name Iram erscheint in der Dichtung mehrmals neben ʿĀd oder Ṯamūd, u. a. in der Nisba-Ableitung Iramī (vgl. Horovitz, Koranische Untersuchungen, 89). Obwohl dies indizieren könnte, dass es sich um einen Stammesnamen handelt, wird der Ausdruck auch als Ortsname verwendet, etwa als Bezeichnung eines Berges (Montgomery Watt, „Iram“, EI). Im koranischen Kontext ist Iram am ehesten als Name einer mit den ʿĀd assoziierten Stadt aufzufassen.
allatī lam yuḫlaq miṯluhā fĭ l-bilād] Da ḫalaqa im Koran sonst immer Gott als Subjekt hat (s. die Anmerkung zu 96:1.2), soll die Wendung lam yuḫlaq miṯluhā vielleicht betonen, dass letzten Endes Gott – und nicht etwa die ʿĀd – als eigentlicher „Schöpfer“ von Iram aufzufassen ist.
wa-ṯamūda llaḏīna ǧābŭ ṣ-ṣaḫra bi-l-wād] Der Vers spielt wie die späteren Stellen 7:74, 15:82 und 26:149 auf die bei al-Ḥiǧr (in islamischer Zeit Madāʾin Ṣāliḥ) in die Felsen gehauenen Grabstätten (s. Vidal, „al-Ḥidjr“, EI) an, die in den genannten koranischen Parallelstellen als „Häuser“ gedeutet werden. Eine Lokalisierung der Ṯamūd in al-Ḥiǧr belegt auch ein bei Horovitz, Koranische Untersuchungen, 106, zitierter Vers.
wa-firʿauna ḏĭ l-ʾautād] In den in V. 10 und auch in 38:12 mit Pharao assoziierten „Pfählen“ (ʾautād) erblickt Horovitz eine Anspielung auf Pharaos in 28:38 und 40:36.37 erwähnte Bautätigkeit (Horovitz, Koranische Untersuchungen, 130 f.), bei der wohl Fragmente der Sage vom Turmbau zu Babel im Hintergrund stehen (Speyer, Biblische Erzählungen, 283). Für Horovitz’ Deutung der ʾautād spricht, dass die vorliegende Sure auch die ʿĀd und Ṯamūd mit besonderen architektonischen Leistungen in Verbindung bringt (V. 7.8 sowie V. 9). Zu Mose und Pharao vgl. a. die in der Anmerkung zu 79:15–26 angeführten weiteren frühmekkanischen Stellen.
allaḏīna ṭaġau fĭ l-bilād] Zur Wurzel ṭ-ġ-w/y s. die Anmerkung zu 96:6.
fa-ṣabba ʿalaihim rabbuka sauṭa ʿaḏāb] Weil ṣabba, „ausgießen“, sich mit sauṭ ʿaḏāb im traditionell angenommenen Sinn von „Geißel einer Strafe“ nicht zu einem kohärenten Bild zusammenfügt, will Horovitz sauṭ von äth. sōṭa, „Flut“, ableiten (Horovitz, Koranische Untersuchungen, 13). Möglich ist aber auch, dass hier zwei Metaphern zusammenfließen, die ihrem Sinn nach voneinander unabhängig sind: Einerseits hat Gott seine Strafe „ausgegossen“, so wie es im Buch Ezechiel mehrfach heißt, Gott werde „seinen Zorn“ über Israel „ausgießen“ (z. B. Ezechiel 7:8, 9:8, 36:18); andererseits wird diese Strafe als Züchtigung durch eine Peitsche veranschaulicht und mit einem ursprünglich aus dem Aramäischen stammenden Wort beschrieben (Jeffery, Foreign Vocabulary, 182). Man muss jedenfalls nicht wie Horovitz ṣabba und sauṭ als Elemente eines einzigen Sprachbildes auffassen.
Beide Verse stehen nur in einem nährungsweisen Reimverhältnis: ʾakramanī und ʾahānanī (im Kairener Koran mit kurzem i geschrieben, aber von zahlreichen Lesern lang gelesen; s. Muʿǧam, ad loc.) lassen sich nur dann als Reim auffassen, wenn man die Folge Kā als Variante der Folge KKa gelten lässt. Ähnlich lose reimen V. 23.24 und V. 29.30 (vgl. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 202).
Versabteilung: Die mekkanische und medinensische Zählung gliedert V. 15.16 in vier Kurzverse (mit naʿʿamah als Schluss von 15a und rizqah als Schluss von 16a). Zugunsten dieser Abteilung lässt sich auch mit der „unverhältnismäßigen Länge“ der beiden Verse argumentieren (Neuwirth, Studien, 32). Da es sich bei V. 15.16 jedoch um einen späteren Einschub handeln dürfte (s. o.), der als solcher prinzipiell auch längere Verse aufweisen könnte, ist diese Überlegung nicht zwingend. Bei einer Unterteilung ergäbe sich ein Kreuzreim, wie er auch in 101:6–9 vorliegt (allerdings nur aufgrund der Wiederholung des Reimwortes mawāzīnuh). Einen Kreuzreim erblickt Neuwirth, Studien, auch in 69:19.25, die man nach bi-yamīnih / bi-šimālih ebenfalls in zwei kürzere Verse teilen kann. Dort liegt ein Reim allerdings nur vor, sofern man gegen die Regeln der klassischen Dichtung ī und ā als austauschbar betrachtet; überdies ist der Abstand von sechs Versen zwischen den beiden Reimworten vielleicht zu groß, um ein genuines Reimerlebnis zuzulassen. Insgesamt erscheint eine Abteilung innerhalb von V. 15 und V. 16 deshalb eher zweifelhaft.
fa-qadara ʿalaihi rizqahū] Zur (über das Aramäische vermittelten) mittelpersischen Etymologie von rizq vgl. Jeffery, Foreign Vocabulary, 142 f. Der Ausdruck erscheint frühmekkanisch noch in 51:22.57 (vgl. a. V. 58, wo Gott als razzāq bezeichnet wird) sowie in 56:82.
Zum gesamten Scheltwort V. 17–20 existieren auch Lesungen in der 3. statt 2. Person Plural (Muʿǧam, ad loc.).
kallā bal lā tukrimūna l-yatīm / wa-lā taḥāḍḍūna ʿalā ṭaʿāmi l-miskīn] Die drei Elemente Speisung – Waise – Armer tauchen in früh- und mittelmekkanischer Zeit u. a. in 107:2.3 und 90:11–16 auf; s. die Anmerkungen ebd. mit weiteren Parallelstellen und Hinweisen zum biblischen Hintergrund. Das Konsonantengerüst von taḥāḍḍūna ließe sich auch analog zu 107:3 (wa-lā yaḥuḍḍu ʿalā ṭaʿāmi l-miskīn) als yaḥuḍḍūna lesen (Muʿǧam, ad loc.).
wa-taʾkulūna t-turāṯa ʾaklan lammā] „Ihr esst das Erbe auf [alles] zusammensammelnde Weise“ (mit lamm als Apposition zu ʾakl), d. h.: „Ihr verzehrt das gesamte Erbe“. Angesichts der vorangehenden Verse ist wohl insbesondere der Betrug einer Waise um das ihr zustehende Erbe durch ihren Vormund gemeint; vgl. den mittelmekkanischen Vers 17:34 (Verbot, das Vermögen der Waise anzutasten).
wa-tuḥibbūna l-māla ḥubban ǧammā] Der Vorwurf der Besitzliebe wird bereits in 100:8 (wa-ʾinnahū – sc. der Mensch – li-ḥubbi l-ḫairi la-šadīd) erhoben. Vgl. a. 76:8 (wa-yuṭʿimūna ṭ-ṭaʿāma ʿalā ḥubbihī miskīnan wa-yatīman wa-ʾasīrā), wo die Liebe zum Besitz als potentielles psychologisches Hindernis der Armen- und Waisenspeisung erscheint. Dem Wortlaut nach scheint 89:20 schon die bloße Tatsache der Besitzliebe zu kritisieren, während 76:8 lediglich verlangt, dass die Besitzliebe nicht das Handeln bestimmen soll. Vor dem Hintergrund von 76:8 ist es aber wahrscheinlicher, dass 89:20 nicht auf derselben Stufe mit 89:17–19 steht, also kein Vergehen neben anderen bezeichnen soll, sondern das psychologische Motiv der zuvor aufgezählten Vergehen benennt.
ʾiḏā dukkati l-ʾarḍu dakkan dakkā] Vgl. 69:14 (wa-ḥumilati l-ʾarḍu wa-l-ǧibālu fa-dukkatā dakkatan wāḥidah) sowie 56:4.5 (ʾiḏā ruǧǧati l-ʾarḍu raǧǧā / wa-bussati l-ǧibālu bassā).
wa-ǧāʾa rabbuka wa-l-malaku ṣaffan ṣaffā] Malak dürfte hier als Kollektivum („die Engel“) zu deuten sein, vgl. die Verwendung des Plurals in 78:38: „An dem Tag, an dem der Geist und die Engel (al-malāʾika) in einer Reihe stehen werden ...“. Der Vers erinnert an Matthäus 25:31, wo für den Jüngsten Tag ein Erscheinen Christi „und aller Engel mit ihm“ angekündigt wird (Bell, Commentary, zu 89:23 in der Flügel-Zählung); im Koran tritt Gott selbst an die Stelle Christi.
Reime: Wie die Verspaare V. 15.16 und V. 29.30 bilden ḏikrā und ḥayātī nur einen näherungsweisen Reim. Da ḏikrā jedoch von mehreren der sieben kanonischen Koranlesern mit Imāla gelesen wird, ist die lautliche Nähe zu ḥayātī größer, als es zunächst den Anschein hat.
wa-ǧīʾa yaumaʾiḏin bi-ǧahannama] Vgl. 79:36 (wa-burrizati l-ǧaḥīmu li-man yarā). Zu yaumaʾiḏin vgl. die Anmerkung zu 102:8. Zu ǧahannam vgl. die Anmerkung zu 78:21.
Versabteilung: Damaskus, Ḥimṣ, Mekka und Medina setzen nach ǧahannama einen Versschluss (Spitaler, Verszählung, 70). Neuwirth akzeptiert dies aufgrund der Überlänge von V. 23 und der Tatsache, dass er aus zwei unabhängigen Hauptsätzen besteht (Neuwirth, Studien, 32).
yaumaʾiḏin yataḏakkaru l-ʾinsānu] Vgl. 79:35 (yauma yataḏakkaru l-ʾinsānu mā saʿā). Zur Verwendung der Begriffe ḏikr, ḏikrā und taḏkira vgl. die Anmerkung zu 73:19.
yā-laitanī qaddamtu li-ḥayātī] Zu qaddama vgl. die Anmerkung zu 82:5.
irǧiʿī ʾilā rabbiki rāḍiyatan marḍiyyah] Zur Wurzel r-ḍ-y s. die Anmerkung zu 101:7.
fa-dḫulī fī ʿibādī / wa-dḫulī ǧannatī] Neuwirth (Studien, 32) weist die kufische Abteilung zwischen V. 29.30 mit dem Argument zurück, das „eng zusammengehörige Imperativpaar“ dürfe nicht getrennt werden. Dagegen steht allerdings der zumindest näherungsweise Reimcharakter von ʿibādi / ǧannati, wenn man – gegen die Reimkonventionen der altarabischen Dichtung – den Langvokal ā als äquivalent mit der Folge Konsonant + Kurzvokal (-na-) gelten lässt (die Variation zwischen den dentalen Reimkonsonaten b und t ist für den Koran nicht ungewöhnlich). Einen ähnlich lockeren, d. h. nur unter Zulassung unkonventioneller Variationen rekonstruierbaren Reim weisen schon die Verspaare 15.16, 23.24 und 27.28 auf. Zum Ausdruck ʿabd vgl. die Anmerkung zu 53:10.
Literaturliste
Die Sure setzt mit einer Schwureinleitung ein, wie sie bereits in den früheren Suren 93, 95, 100 und 103 und den in etwa gleichzeitigen Suren 91 und 92 erscheint. Wie in Q 91, 92 und 93 ist in der Schwurpassage ein Tag-Nacht-Gegensatz zentral (V. 1.2: „Beim Tagesanbruch und bei zehn Nächten!“), auf den – wie in Q 91 und 92 – ein weiterer Gegensatz folgt, nämlich der von Gerade und Ungerade bzw. „Einzelnem“ und „Paarigem“ (V. 3); V. 4 evoziert dann erneut den Verlauf der Nacht. Der Einleitung liegt also das auch in weiteren frühen Texten prominente Motiv grundlegender kosmischer Gegensätze zugrunde, welches in Q 91 und 92 dem dort im weiteren Surenverlauf behandelten Gegensatz von Guten und Bösen bzw. von jenseitiger Seligkeit und Verdammnis präludiert. Allerdings folgt auf die Schwureinleitung von Sure 89 keine explizite Gegenüberstellung von Guten und Bösen, sondern nur eine enigmatische Frage (V. 5: „Liegt darin nicht ein Schwur für Verständige?“), welche den Hörer selbst zu einer Dechiffrierung des Gemeinten auffordert. Wie in Q 91 und 92 geht es wohl auch hier um die moralisch-eschatologische Pointe des Dualitätsmotivs, zumal man das Schlussgesätz von Q 89 mit seiner ausdrücklichen Ansage einer endzeitlichen Bestrafung als eine abschließende Auflösung des in V. 5 präsentierten Enigmas verstehen könnte. Spätere Zusätze (V. 23.24 und V. 27–30) tragen diese eschatologische Dimension dann auch in die vorliegende Sure ein und tragen so zur Dekodierung der enigmatischen Schwuraussage bei.
Neben dem Motiv der Dualität lässt die Schwureinleitung auch einen temporalen Aspekt erkennen: Bereits V. 2 verweist mit den „zehn Nächten“ auf eine konkrete, wahrscheinlich kultisch konnotierte Zeitspanne, und „Einzelnes und Paariges“ (V. 3.4) sind die „kleinsten Einheiten zur Erfassung von Zählbarem, auch im Bereich der Zeitspannen“ (Neuwirth, „Horizont“, 25); schließlich hebt auch das letzte Schwurglied in V. 4 („bei der Nacht, wenn sie ihren Lauf nimmt“) den Aspekt des Zeitablaufs hervor. Möglicherweise steht dieser Aspekt in Verbindung mit der Tatsache, dass Sure 89 einer der frühesten Texte ist, die geschichtliche Exempel für Gottes Strafhandeln anführen.
Am zweiten Gesätz ist besonders auffällig, dass alle drei in der Strafliste genannten Kollektive mit besonderen baulichen Leistungen verbunden sind: Die ʿĀd werden als Bewohner von „Iram mit seinen Säulen“ eingeführt, die Ṯamūd als Erbauer von Felshöhlen, und auch die im Einzelnen nicht transparente Assoziation Pharaos mit „Pfählen“ dürfte mit architektonischen Aktivitäten zusammenhängen. Es liegt nahe, die Pointe dieser Verweise darin zu erblicken, dass die betreffenden Bauwerke als nach irdischen Maßstäben zwar imposante, letztlich aber vergebliche und Gottes Vergeltung nicht aufhaltende Versuche menschlicher Selbstverewigung (vgl. die Verwendung der ein solches Streben explizit benennenden Wurzel ḫ-l-d in 104:3) gewertet werden sollen – eine an die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel (die auch im Hintergrund der Assoziation Pharaos mit besonderen baulichen Leistungen stehen könnte, s. die Anmerkung zu V. 10) erinnernde Wertung. Der scheinbaren Beständigkeit und Nachhaltigkeit dieser Bauwerke setzt V. 13 dann den strafenden Zugriff Gottes entgegen, der alle menschlichen Bemühungen um Unvergänglichkeit auf einen Schlag zunichte macht. Die Beständigkeit menschlicher Bauwerke wird übrigens auch in der altarabischen Dichtung thematisiert, vgl. etwa Labīd, Riṯāʾ Arbad, V. 1: „Wir vergehen; unvergänglich sind die Sterne am Himmel, / Bestand haben Berge und Türme“ (vgl. Jones, Early Arabic Poetry, Bd. 1, 81); wie im Falle der am Jüngsten Tag ebenfalls der Zerstörung anheimfallenden Berge betont die vorliegende Koranpassage insofern die letztendliche Fragilität eines in der Dichtung als Paradigma von Beständigkeit fungierenden Phänomens.
Die beiden später hinzugefügten (s. o.) Verse 15.16, die terminologisch auf der Opposition ʾakrama – ʾahāna beruhen, lehnen sich an V. 17 (lā tukrimūna l-yatīm) an und ergänzen die in V. 17–20 aufgeführten innergesellschaftlichen Unterlassungssünden durch den Vorwurf eines allzu wankelmütigen Gottesverhältnisses (dessen positives Gegenstück in anderen Texten mit der Wurzel ṣ-b-r bezeichnet wird).
Bereits im Rahmen der Strafreminiszenzen V. 6–14 war den ʿĀd, Ṯamūd und Pharao „Aufsässigkeit“ (V. 11) bzw. das „Anrichten von viel Unheil“ (V. 12) vorgeworfen worden. An welche konkreten Missstände dabei gedacht ist, expliziert die folgende, unmittelbar die Hörer ansprechende Rüge V. 17–20. Wie in anderen frühmekkanischen Texten werden insbesondere die Unterlassung von Hilfeleistungen gegenüber Armen und Waisen (die wohl metonymisch schwächere Gesellschaftsglieder insgesamt meinen) und übertriebene Besitzesliebe genannt. Es handelt sich dabei um Motive, die auch in den biblischen Prophetenbüchern präsent sind und wohl auch als Elemente eines den Hörern vertrauten literarischen Genres fungiert haben dürften.
Die vorangehende Erinnerung an begrenzte innergeschichtliche Strafaktionen Gottes korrespondiert prototypisch mit dem das ursprüngliche Schlussgesätz ausmachenden eschatologischen Temporalsatz (mit Nachsatz) V. 21.22.25.26, der eine universale Vergeltung ankündigt. Beide Abschnitte verweisen durch die Reprise des Begriffs ʿaḏāb (V. 13) in V. 25 (... lā yuʿaḏḏibu ʿaḏābahū ʾaḥad) auch terminologisch aufeinander. Die gesamte irdische Wirklichkeit wird „Stück um Stück zerstoßen“, eine – in koranischen ʾiḏā-Serien auch sonst immer passivisch beschriebene – universale göttliche Destruktionstätigkeit, die mit der im zweiten Gesätz mehrfach evozierten menschlichen Konstruktionstätigkeit kontrastiert. Die durch ihre parallele Konstruktion (lā + Verb + inneres Objekt mit Possessivsufix der dritten Person + ʾaḥad als Reimwort) noch zusätzlich herausgehobenen Verse 25 und 26 halten abschließend noch einmal die Unvergleichlichkeit der zu gewärtigenden göttlichen Strafe fest.
V. 23.24 sind wie V. 27–30 spätere Einschübe (s. o.), die das eschatologische Vierergesätz V. 21.22.25.26 verdeutlichend ausbauen; durch die Erweiterung von Gesätz 5 und den Einschub von Gesätz 6 ergibt sich so eine Art Antithese, welche das in der Schwureinleitung implizite Motiv der Dualität eschatologisch einlöst. Der zusätzliche Vordersatz V. 23a erweitert die eher unspezifische Ankündigung einer göttlichen Strafe in V. 25.26 um eine explizite Erwähnung der Hölle (ǧahannam), während der vor V. 25.26 eingeschobene zusätzliche eschatologische Nachsatz V. 23b.24 auf den Menschen und seine Reaktion auf die Höllenstrafe fokussiert. Menschliche Reaktionen auf Fügungen Gottes stehen bereits in dem ebenfalls sekundären Verspaar V. 15.16 im Mittelpunkt, wobei der Kontext dort noch ein innerweltlicher ist.
Die später hinzugefügten Verse 27–30 (s. Einleitung) ergänzen das ursprüngliche, auf eine reine Strafandrohung beschränkte Schlussgesätz 5 um eine positive Jenseitsperspektive. Die göttliche Aufforderung der Seligen zum Betreten des „Gartens“ korrespondiert dabei mit der Erwähnung des ǧahannam in V. 23. Auffällig ist, dass alle drei Einschübe – V. 15.16, V. 23.24 und V. 27–30 – wörtliche Reden enthalten: V. 15.16 zitieren die unterschiedlichen Aussagen, mit denen der Mensch auf das ihm jeweils von Gott zugeteilte Los reagiert, V. 23.24 beschreiben die Reaktion des Menschen (al-ʾinsān, wie in V. 15.16) auf die ihm im Jenseits drohende Höllenstrafe und V. 27–30 überbieten die zuvor zitierten, negativ bewerteten Aussagen des Menschen durch Gottes Anrede an die „vertrauende Seele“, die einem Kollektiv von „Dienern“ zugeordnet wird. – Neuwirth erblickt in V. 27–30 einen motivischen Rückbezug auf die Schwureinleitung: „Die am Schluß angesprochene nafs muṭmaʾinna habe eben jene Zuversicht und innere Ruhe in der Sicherheit göttlicher Nähe gefunden, die die zu Anfang evozierten gottesdienstlichen Zeiten in besonderem Maße in sich bergen.“ (Neuwirth, „Horizont“, 26)
Literaturliste
Wie Q 91 und 92 gehört die Sure zu denjenigen frühmekkanischen Texten, die sich bereits in längere Gesätze gliedern, eine durchschnittliche Verslänge von ca. 10 Silben (unter Nichtberücksichtigung der mutmaßlichen Einschübe V. 15.16.23.24.27–30 ergeben sich für Q 89 10,1 Silben) und eine Länge zwischen 15 und 25 Versen aufweisen. Die Sure ist insofern Gruppe II zuzuordnen, was auch durch das weitgehende Fehlen biblischer Stoffe (bis auf eine kurze, jedoch hinter ʿĀd und Ṯamūd zurücktretende Anspielung auf Pharao in V. 10) und das noch sehr differenzierte Reimprofil des Textes bestätigt wird. In ihrer ursprünglichen Fassung wies Q 89 vier Gesätze auf (Q 91: zwei Gesätze, Q 92: drei Gesätze) und besitzt damit eine deutlich höhere strukturelle Komplexität als die zu Gruppe I gehörigen kurzen, nur aus kleineren Versgruppen aufgebauten Droh- und Scheltworte Q 95, 102, 103, 104 und 107 sowie die frühen eschatologischen Bilder Q 99, 100 und 101.
V. 15.16 fallen nicht nur durch ihren sehr lockeren Reim auf, sondern auch dadurch, dass sie inhaltlich lediglich in losem Zusammenhang mit ihrer Umgebung stehen. Zwar formulieren die Verse wie der folgende Abschnitt V. 17–20 einen Vorwurf an den Menschen, der jedoch in der 3. Person Singular und nicht wie V. 17–20 in der 2. Person Plural gehalten ist. Auch inhaltlich stehen die beiden Abschnitte eher nebeneinander: V. 17–20 beklagen einen Mangel an sozialer Solidarität, während V. 15.16 dem Menschen einen Mangel an geduldiger und gläubiger Akzeptanz des ihm von Gott zugeteilten Loses vorwerfen. Die beiden Verse sind deshalb wohl ein späterer Einschub (so Bell, Commentary, zu 89:14–17 nach der Flügel-Zählung, und Neuwirth, Studien, 226). Zwar enthält die sicherlich nicht eingeschobene Stelle 70:19–21 eine mit 89:15.16 vergleichbare Gegenüberstellung der Reaktionen des Menschen auf positive und negative Schicksalswendungen, doch bestätigen die stilistischen Differenzen eher noch den Einschubcharakter von 89:15.16: So werden hier anders als in Sure 70 zwei Äußerungen des Menschen wörtlich zitiert, was dem dialektischen Stil späterer mekkanischer Korantexte nahesteht. Auffällig ist auch, dass alle weiteren Stellen, an denen das Verb qadara, „(knapp) zuteilen“, wie in V. 16 mit rizq, „Unterhalt“, verbunden wird, mittelmekkanisch oder später sind (yabsuṭu r-rizqa li-man yašāʾu wa-yaqdiru: 13:26, 17:30, 28:82, 29:62, 30:37, 34:36.39, 39:52, 42:12; ähnlich 42:27; die früheste Stelle dürfte 17:30 sein).
Wie V. 15.16 weisen auch V. 23.24 und V. 27–30 sehr lose Reime auf und heben sich stilistisch von ihrem Kontext ab; überdies lassen sie sich ohne Brüche in der Gedankenführung aus ihrer Umgebung herausheben. Auch diese Verse dürften deshalb spätere Texterweiterungen sein. Eine entscheidende Bestätigung erfährt diese Einschubhypothese dadurch, dass sich bei einer Aussonderung der Verspaare 15.16, 23.24, 27.28 und 29.30 die Verse 17–20 und 21.22.25.26 (V. 21.22 Vordersatz, V. 25.26 Nachsatz) zwei straff komponierte eschatologische Vierergesätze ergeben (vgl. Neuwirth, Studien, 227 f. mit einer Transkription der mutmaßlichen Urfassung der Sure).
Die ursprüngliche Fassung der Sure gliedert sich in vier Gesätze (V. 1–5, V. 6–14, V. 17–20, V. 21.22.25.26). Dabei gehören Gesätz 4 und 5 sprachlich (vor allem durch die einleitende Interjektion kallā in V. 17 und 21 und durch sie verklammernden Reim 3GGā in V. 19–22) und auch inhaltlich enger zusammen als die übrigen Abschnitte (vgl. ähnlich die ersten beiden Gesätze von Q 88). Neuwirths Kompositionsschema gliedert die Sure in drei Teile und lässt den Schlussteil erst mit V. 21 beginnen, wodurch jedoch die Zusammengehörigkeit von Gesätz 4 und 5 verwischt wird (Studien, 226); diese Gliederung ist wohl dadurch motiviert, dass sich so (unter Voraussetzung der von Neuwirth befürworteten Unterteilung von V. 23 in zwei Verse und der Zusammenziehung von V. 29.30, s. o.) zwei symmetrische Fünfergruppen (V. 21.22.23a.23b.24 und V. 25.26.27.28.29/30) ergeben. Allerdings bezieht sich diese Dreiteilung ganz offensichtlich auf die erweiterte Textfassung; in der mutmaßlich ursprünglichen, von Neuwirth auf S. 227 f. der Studien transkribierten Version liegt vor V. 17 eine deutlichere Zäsur als vor V. 21.
Inhaltliches Zentrum der Sure sind die Strafreminiszenzen (ʿĀd, Ṯamūd, Pharao) im zweiten Gesätz, auf denen im Folgenden dann ein Scheltwort (V. 17–20) und ein eschatologischer Temporalsatz (V. 21–26) argumentativ aufbauen – beides Textsorten, die bereits mehrfach in früheren Suren erscheinen. Die vom zweiten Gesätz dokumentierte Hinwendung zu narrativen Stoffen stellt dagegen eine für den weiteren Verlauf der Korangenese entscheidende Innovation dar. Zusammen mit den ebenfalls zu Gruppe II der frühmekkanischen Texte zählenden Suren 91 (mit einer vergleichsweise ausführlichen Ṯamūd-Erzählung in V. 11–15) und 85 (V. 17.18: kurzer Verweis auf Pharao und die Ṯamūd) gehört die Passagen zu den drei frühesten Korantexten, in denen als Belege für die Allmacht Gottes und die Realität des Jüngsten Gerichts sog. „Straflegenden“ (vgl. allg. Horovitz, Koranische Untersuchungen, 10 ff.) erzählt werden. (Die ebenfalls ein geschichtliches Ereignis thematisierende frühere Sure 105 ist dagegen noch keine eigentliche Straflegende, sondern ein Rückblick auf ein prägendes Geschehnis der jüngeren mekkanischen Lokalgeschichte, das primär als Beleg für Gottes Zugewandtheit und Güte gegenüber den Mekkanern – und nicht für seinen universalen Vergeltungswillen – fungiert.)
Eine anders geartete Analyse der Sure bietet Cuypers 2001, 64–76, der dem Text – angesichts seines allgemeinen Ansatzes wenig überraschend (vgl. die kritischen Bemerkungen im Abschnitt „Zum Format des Kommentars“ der Einleitung) – einen konzentrischen Aufbau um V. 15–20 herum zuschreibt.
Überblick
1–5 3Kr | I 1 1–4 Schwüre (Tages- und Nachtzeiten) |
5 metatextuelle Frage (statt Schwuraussage) | |
6–14 3(K)KāK (mit Explosiven) | II 2 6–13 Strafliste (ʿĀd, Ṯamūd, Pharao) |
14 theologische Prädikation (drohend) | |
15.16 ʾakramanī / ʾahānanī | [III 3 15.16 ʾinsān-Spruch (antithetisch)] |
17.18 2n/m, 19.20 3GGā | 4 17–20 Scheltwort |
21.22 3GGā | 5 21.22 eschatologischer Temporalsatz (ʾiḏā-Vordersatz) |
23.24 ḏikrā / ḥayātī | [23.24 ergänzender Zusatz: Fortsetzung des Vordersatzes, vorgeschalteter Nachsatz] |
25.26 ʾaḥad | 25.26 eschatologischer Nachsatz |
27.28 -innah / -īyah | [6 27–30 Zusatzgesätz: Anrede der Seligen durch Gott] |
29.30 ʿibādī / ǧannatī> |
Proportionen (ohne Einschübe): 5+9+[4+4].