بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
هَلۡ أَتَىٰكَ حَدِيثُ ٱلۡغَٰشِيَةِ |
I11 Ist die Kunde von der Bedeckenden zu dir gekommen? |
وُجُوهٌۭ يَوۡمَئِذٍ خَٰشِعَةٌ |
2 Manche Gesichter sind an jenem Tag demütig, |
عَامِلَةٌۭ نَّاصِبَةٌۭ |
3 plagen und mühen sich; |
تَصۡلَىٰ نَارًا حَامِيَةًۭ |
4 sie brennen in heißem Feuer |
تُسۡقَىٰ مِنۡ عَيۡنٍ ءَانِيَةٍۢ |
5 und werden aus einer kochend heißen Quelle getränkt; |
لَّيۡسَ لَهُمۡ طَعَامٌ إِلَّا مِن ضَرِيعٍۢ |
6 sie bekommen nichts zu essen außer Dornsträuchern, |
لَّا يُسۡمِنُ وَلَا يُغۡنِی مِن جُوعٍۢ |
7 die nicht nähren und nicht den Hunger stillen. |
وُجُوهٌۭ يَوۡمَئِذٍۢ نَّاعِمَةٌۭ |
28 Manche Gesichter sind an jenem Tag fröhlich, |
لِّسَعۡيِهَا رَاضِيَةٌۭ |
9 zufrieden mit ihrem Streben; |
فِی جَنَّةٍ عَالِيَةٍۢ |
10 sie befinden sich in einem hohen Garten, |
لَّا تَسۡمَعُ فِيهَا لَٰغِيَةًۭ |
11 in dem sie kein Geschwätz hören; |
فِيهَا عَيۡنٌۭ جَارِيَةٌۭ |
12 darin gibt es eine fließende Quelle, |
فِيهَا سُرُرٌۭ مَّرۡفُوعَةٌۭ |
13 darin gibt es erhöhte Ruhebetten, |
وَأَكۡوَابٌۭ مَّوۡضُوعَةٌۭ |
14 bereitgestellte Becher, |
وَنَمَارِقُ مَصۡفُوفَةٌۭ |
15 aufgereihte Kissen |
وَزَرَابِیُّ مَبۡثُوثَةٌ |
16 und ausgebreitete Teppiche. |
أَفَلَا يَنظُرُونَ إِلَى ٱلۡإِبِلِ كَيۡفَ خُلِقَتۡ |
II317 Schauen sie denn nicht auf die Kamele, wie sie geschaffen sind, |
وَإِلَى ٱلسَّمَآءِ كَيۡفَ رُفِعَتۡ |
18 auf den Himmel, wie er emporgehoben worden ist, |
وَإِلَى ٱلۡجِبَالِ كَيۡفَ نُصِبَتۡ |
19 auf die Berge, wie sie aufgestellt worden sind, |
وَإِلَى ٱلۡأَرۡضِ كَيۡفَ سُطِحَتۡ |
20 und auf die Erde, wie sie ausgebreitet worden ist? |
فَذَكِّرۡ إِنَّمَآ أَنتَ مُذَكِّرٌۭ |
III421 So mahne! Du bist nur ein Mahner, |
لَّسۡتَ عَلَيۡهِم بِمُصَۣيۡطِرٍ |
22 du hast keine Gewalt über sie. |
إِلَّا مَن تَوَلَّىٰ وَكَفَرَ |
23 Der aber, der sich abkehrt und ungläubig ist, |
فَيُعَذِّبُهُ ٱللَّهُ ٱلۡعَذَابَ ٱلۡأَكۡبَرَ |
24 über ihn verhängt Gott die schwere Strafe. |
إِنَّ إِلَيۡنَآ إِيَابَهُمۡ |
25 Zu uns kehren sie zurück, |
ثُمَّ إِنَّ عَلَيۡنَا حِسَابَهُم |
26 und uns obliegt es dann, mit ihnen abzurechnen. |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
ḥadīṯ] S. die Anmerkung zu 77:50 mit weiteren Belegen.
al-ġāšiya] Als durch al-ġāšiya qualifiziertes Substantiv ist „die Strafe“ mitzuverstehen. Vgl. die Verbindung des Verbs ġašiya, „bedecken, überkommen“, mit ʿaḏāb, „Strafe“, in 40:10 f. (Mekka II; fa-rtaqib yauma taʾti s-samāʾu bi-duḫānin mubīn / yaġšă n-nāsa hāḏā ʿaḏābun ʾalīm, „Erwarte den Tag, an dem der Himmel deutlichen Rauch bringt, / der die Menschen bedeckt; das ist eine schmerzhafte Strafe“) und 29:55 (Mekka III; yauma yaġšāhumu l-ʿaḏābu, „der Tag, an dem sie die Strafe bedeckt“). Dieselbe Ausdrucksweise scheint auch im Hintergrund von 88:1 zu stehen (s. a. 12:107: ġāšiyatun min ʿaḏābi llāhi).
Metonymische Bezeichnungen des Weltendes mit aktiven Partizipien femininum erscheinen noch in weiteren frühmekkanischen Texten, vgl. 101:1–3 (al-qāriʿa), 80:33 (aṣ-ṣāḫḫa), 79:34 (aṭ-ṭāmmatu l-kubrā), 69:1–3 (al-ḥāqqa), 69:4 (al-qāriʿa), 69:5 (aṭ-ṭāġiya), 69:15 (al-wāqiʿa), 56:1 (ebenfalls al-wāqiʿa) und 53:57 (al-ʾāzifa). Derartige Umschreibungen eines Substantivs durch ein Adjektiv stellen allgemein ein Charakteristikum der altarabischen Dichtung dar, s. die Anmerkung zu 101:1–3. Im Vergleich mit den vier frühmekkanischen fāʿilāt-Schwurserien Q 100:1–5, 79:1–5, Q 77:1–5 und 51:1–4, die das hereinbrechende Weltende durch prototypische Gegenwartserfahrungen (Reiterangriff und Sturm) präfigurieren, fällt auf, dass die Form des aktiven Partizips femininum auch dort zur Bezeichnung der endzeitlichen Katastrophe dient (s. insb. die Anmerkungen zu 101:1–5 und 79:1–5). Das morphologisches Schema fāʿila wird so innerhalb der frühmekkanischen Korantexte mit der Konnotation apokalyptischen Unheils aufgeladen.
Vgl. die ebenfalls mit wuǧūh ... – wuǧūh ... gebildeten Antithesen in 75:22–25 (wuǧūhun yaumaʾiḏin nāḍirah / ʾilā rabbihā nāẓirah / wa-wuǧūhun yaumaʾiḏin bāsirah / taẓunnu ʾan yufʿala bihā fāqirah) und 80:38–41 (wuǧūhun yaumaʾiḏin musfirah / ḍāḥikatun mustabširah / wa-wuǧūhun yaumaʾiḏin ʿalaihā ġabarah / tarhaquhā qatarah).
wuǧūhun yaumaʾiḏin ḫāšiʿa] Von den unterwürfigen Gesichtern der Verdammten ist auch in 68:43 (ḫāšiʿatan ʾabṣāruhum tarhaquhum ḏillatun), 70:44 (dto.) und 79:9 die Rede. Zu yaumaʾiḏin vgl. die Anmerkung zu 102:8.
taṣlā nāran ḥāmiyah] Vgl. insb. 101:11, wo als Antwort auf eine Lehrfrage ebenfalls nār ḥāmiya steht. Zu nār vgl. die Anmerkung zu 111:3.
tusqā min ʿainin ʾāniya] Vgl. 55:44 (yaṭūfūna bainahā wa-baina ḥamīmin ʾān).
Wie Horovitz gezeigt hat, sind die koranischen Paradiesbeschreibungen den Schilderungen irdischer Trinkgelage in der altarabischen Dichtung nachempfunden. Dort findet sich insbesondere das in V. 14 gebrauchte Wort kūb, „Becher“. Ein Gedicht Ḥassān b. Ṯābits erwähnt überdies die zarābī, „Teppiche“, auf denen das Gelage stattfindet (Horovitz 1923, 65, 71). Auch das Lagern der Seligen auf Ruhekissen (anderswo im Koran als ʾarāʾik bezeichnet, in 88:13surur genannt) hat Parallelen in der Dichtung (Horovitz 1923, 70 f.).
li-saʿyihā rāḍiyah / fī ǧannatin ʿāliyah] Zu V. 9 vgl. 101:7 (fa-huwa fī ʿīšatin rāḍiyah), zu beiden Versen vgl. 69:21.22 (fa-huwa fī ʿīšatin rāḍiyah / fī ǧannatin ʿāliyah). Von der Zufriedenheit (r-ḍ-y) der Seligen ist auch in 92:21 (wa-la-saufa yarḍā) die Rede; vgl. auch die an den Verkünder gerichtete Verheißung in 93:5 (wa-la-saufa yuʿṭīka rabbuka fa-tarḍā). Zur Wurzel r-ḍ-y s. die Anmerkung zu 101:7. Zu ǧanna vgl. die Anmerkung zu 81:13.
lā tasmaʿu fīhā lāġiyah] Vgl. 78:35 (lā yasmaʿūna fīhā laġwan wa-lā kiḏḏāba), 56:25 (lā yasmaʿūna fīhā laġwan wa-lā taʾṯīma) sowie 52:23 (yatanāzaʿūna fīhā kaʾsan lā laġwun fīhā wa-lā taʾṯīmun). Angesichts dieser Parallelstellen ist davon auszugehen, dass lāġiya im vorliegenden Vers aufgrund des Reims für laġw steht (Paret, Kommentar, ad loc.).
fīhā sururun marfūʿah] Zu den paradiesischen Ruhebetten (surur, furuš, ʾarāʾik) s. die Anmerkung zu 56:15; zum vorliegenden Vers vgl. insbesondere 56:34 (wa-furušin marfūʿah).
wa-ʾakwābun mauḍūʿah] Von den ʾakwāb (Sg. kūb), die den Seligen im Jenseits gereicht werden, ist frühmekkanisch nur noch die Rede in 56:17.18 (yaṭūfu ʿalaihim wildānun muḫalladūn / bi-ʾakwābin wa-ʾabārīqa wa-kaʾsin min maʿīn), mittelmekkanisch noch in 76:15 und 43:71. Der aus dem Aramäischen stammende Ausdruck kūb erscheint auch in Gelageschilderungen der altarabischen Dichtung (Horovitz 1923, 65 f. und 71; Jeffery, Foreign Vocabulary, 252). Etwas häufiger ist das gleichfalls aus dem Aramäischen abzuleitende Wort kaʾs (frühmekkanisch s. 78:34 mit Anmerkung sowie 56:18 und 52:23; mittelmekkanisch s. 76:5.17 und 37:45).
wa-namāriqu maṣfūfah] Vgl. 52:20 (muttakiʾīna ʿalā sururin maṣfūfatin). Vgl. Paret, Kommentar, ad loc., zu einem wenig überzeugenden Versuch A. S. Yehudas, maṣfūfa aus dem Hebräischen abzuleiten. Zur Etymologie von namāriq s. Horovitz 1923, 71, und Jeffery, Foreign Vocabulary, 281.
wa-zarābiyyun mabṯūṯah] Zur Etymologie von zarābī s. Horovitz 1923, 71, und Jeffery, Foreign Vocabulary, 150 f. Zu mabṯūṯah vgl. 101:4 (yauma yakūnu n-nāsu ka-l farāši l-mabṯūṯ).
Für die gesamte Passage existieren auch Lesungen im Aktiv (Muʿǧam, ad loc.).
ʾa-fa-lā yanẓurūna ʾilă l-ʾibili kaifa ḫuliqat] Mit dem Verb naẓara eingeleitete ʾāyāt-Abschnitte begegnen frühmekkanisch noch in 80:24 (fa-l-yanẓuri l-ʾinsānu ʾilā ṭaʿāmih) und 86:5 (fa-l-yanẓuri l-ʾinsānu mimma ḫuliq); letzterer Vers stimmt mit 88:17 zudem darin überein, dass er eine Passivform von ḫalaqa gebraucht. Zur Nennung von Kamelen vergleiche den in einem anderen, nämlich eschatologischen, Kontext stehenden Verweis auf schwangere Kamelstuten in 81:4 sowie 77:32–33. Neuwirth merkt an: „Der Körperbau des Kamels steht für Festigkeit, seine detaillierte Schilderung ist in der Regel zentrales Thema des Mittelteils der altarabischen Qaside.“ (Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 479) Zu ḫalaqa s. die Anmerkung zu 96:1.2.
wa-ʾilă s-samāʾi kaifa rufiʿat] Vgl. insb. den ebenfalls zu Gruppe II gehörenden Vers 91:5 (wa-s-samāʾi wa-mā banāhā); s. die Anmerkung zu 91:5.6 mit weiteren Parallelstellen.
wa-ʾilă l-ǧibāli kaifa nuṣibat] Die Erschaffung der Berge wird – mit anderen Verben – auch in 79:32 (wa-l-ǧibāla ʾarsāhā) und 78:6.7 (ʾa-lam naǧʿali l-ʾarḍa mihāda / wa-l-ǧibāla ʾautāda) angeführt. S. a. 77:27, 50:7.
wa-ʾilă l-ʾarḍi kaifa suṭiḥat] Vgl. insb. die ebenfalls zu Gruppe II zählende Stelle 91:6 (wa-l-ʾarḍi wa-mā ṭaḥāhā); s. die Anmerkung zu 91:5.6 mit weiteren Parallelstellen.
lasta ʿalaihim bi-muṣaiṭir] Zu muṣaiṭir vgl. noch 52:37 (ʾam ʿindahum ḫazāʾinu rabbika ʾam humu l-muṣaiṭirūn). Das Wort – das auch musaiṭir gelesen wird (Muʿǧam, ad loc.) – ist etymologisch ungeklärt; Jeffery bringt den Ausdruck in Verbindung mit der Wurzel s-ṭ-r, „schreiben“ (Foreign Vocabulary, 169). Zumindest lässt sich jedoch sagen, dass der vorliegende Vers sinngleich mit 50:45 (wa-mā ʾanta ʿalaihim bi-ǧabbār fa-ḏakkir bi-l-qurʾān; Mekka II) sein dürfte, so dass die hier gegebene Übersetzung wohl zumindest grundsätzlich zutrifft. – Auch an anderen Stellen wird in Verbindung mit der Beschreibung Muḥammads als „Mahner“ (muḏakkir) bzw. seiner Verkündigungen als ḏikr darauf hingewiesen oder zumindest implizit vorausgesetzt, dass die angestrebte Wirkung unsicher ist, s. 51:55, 80:3.4 und 87:9.10.
ʾillā man tawallā wa-kafar] Der Vers kann nicht, wie es das gängige Verständnis von ʾillā nahelegt, bedeuten, dass Muḥammad über niemanden außer über die Ungläubigen Gewalt hat; denn V. 21.22 sagen ja gerade, dass Muḥammad seine Hörer nicht zum Glauben zwingen kann, dass er also über die Ungläubigen keine Gewalt hat. Aṭ-Ṭabarī (ad loc.) führt zwei Deutungsmöglichkeiten zu V. 23.24 an: Nach der ersten wäre die Ausnahme auf den Imperativ fa-ḏakkir zu beziehen und die zweite Hälfte von V. 21 und V. 22 als eine Art Parenthese zu verstehen: „So mahne – du bist ein Mahner, / du hast keine Gewalt über sie – / außer den, der sich abkehrt und ungläubig ist.“ Die zweite, sinnvollere Alternative versteht V. 23.24 als eigenständigen Satz (aṭ-Ṭabarī spricht von einem istiṯnāʾ munqaṭiʿ), d. h. ʾillā ist hier äquivalent mit „aber“ (Ǧalālain glossieren geradezu ʾillā = lakinna): „Der aber, der sich abkehrt und ungläubig ist, ihn bestraft Gott mit der schweren Strafe.“ Vgl. a. die Anmerkung zu 70:22.
Tawallā, „sich abwenden“, bezeichnet im Koran nicht primär ein körperliches Umwenden, sondern (bis auf 80:1, wo das Abwenden von einem menschlichen Gegenüber gemeint ist: ʿabasa wa-tawallā) das Abwenden von göttlichen Offenbarungen, vgl. etwa die ausführliche Konstruktion tawallā ʿan ... in 53:29 (fa-aʿriḍ ʿan man tawallā ʿan ḏikrinā wa-lam yurid ʾillă l-ḥayāta d-dunyā). In der Regel erscheint das Verb in Verbindung mit kafara (wie im vorliegenden Vers) oder kaḏḏaba (96:13: ʾa-raʾaita ʾin kaḏḏaba wa-tawallā, 92:16: allaḏī kaḏḏaba wa-tawallā, 75:32: wa-lākin kaḏḏaba wa-tawallā). In 70:17 (tadʿū man ʾadbara wa-tawallā) steht tawallā neben dem synonymen ʾadbara, das teilweise ebenfalls als Bezeichnung einer negativen religiösen Haltung fungiert (vgl. 79:22, 74:23), in 74:33 (wa-l-laili ʾiḏ ʾadbar) aber von der Nacht gebraucht wird. – Zu kafara vgl. die Anmerkung zu 84:22.
fa-yuʿaḏḏibuhu llāhu l-ʿaḏāba l-ʾakbar] Vgl. 68:33 (ka-ḏālika l-ʿaḏābu wa-la-ʿaḏābu l-ʾāḫirati ʾakbaru). Zum Gottesnamen Allāh vgl. die Anmerkung zu 95:8.
ṯumma ʾinna ʿalainā ḥisābahum] Zu ḥisāb vgl. die Anmerkung zu 84:8.
Literaturliste
Die Sure wird durch eine rhetorische Frage in der 2. Person Singular eröffnet, deren eigentlich intendierter Gegenstand, das jüngste Gericht, ungenannt bleibt und durch das Attribut „die Bedeckende“ vertreten wird. Der Text bedient sich damit eines in der altarabischen Dichtung in Beschreibungen von Elementen der gegenwärtigen Wirklichkeit (insb. Waffen und Tiere) häufigen Stilmittels, das im Koran jedoch sehr viel selektiver gebraucht wird und im Wesentlichen dazu dient, der Thematik des Jüngsten Gerichts rhetorischen Nachdruck zu verleihen. Ab V. 2 folgt dann eine umfangreiche Gegenüberstellung des jenseitigen Schicksals von Seligen und Verdammten, deren beide Hälften jeweils mit derselben Einleitungsformel (V. 2.8: wuǧūhun yaumaʾiḏin ḫāšiʿah / wuǧūhun yaumaʾiḏin nāʿimah) beginnen. Bemerkenswert hieran ist u. a. die Unvermitteltheit, mit welcher der Text auf die endzeitliche Einteilung der Menschen in Selige und Verdammte zu sprechen kommt – in früheren Suren wie Q 99:7.8 und 101:6–11 gehen diesem Stadium mit ʾiḏā oder yauma eingeleitete eschatologische Temporalsätze voraus, welche die Desintegration der Welt am Jüngsten Tag schildern (99:1–3, 101:4.5). Die anderswo (etwa in der langen Temporalsatzserie der ebenfalls zu Gruppe II zählenden Sure 81) ausführlich beschriebene Desintegration der Welt am Jüngsten Tag, die dem Eingehen der Verurteilten in Paradies und Hölle chronologisch vorausgeht, war den koranischen Hörern zum Zeitpunkt der Verkündigung von Sure 88 offenbar bereits hinreichend bekannt und konnte deshalb ausgelassen werden – auch in dieser Hinsicht gibt sich Sure 88 als ein inhaltlich voraussetzungsreicher und deshalb nicht dem frühesten Stadium der Korangenese zuzurechnender Text zu erkennen. Enge Bezüge bestehen insbesondere zu der Passage 101:5–9, deren streng symmetrische Gegenüberstellung von Seligen und Verdammten auch der Antithese 88:2–16 zugrunde liegt und hier mit zahlreichen zusätzlichen Details aufgefüllt wird. Dabei übernimmt Sure 88 auch die beiden zentralen Aussagen, die in 101:5 ff. über Selige und Verdammte getroffen werden: Wenn es in 88:4 heißt, die Verdammten würden in „heißem Feuer“ (nār ḥāmiya) brennen, so wird damit 101:9–11 aufgegriffen, wo ebenfalls nār ḥāmiya steht, und die in 88:9 hervorgehobene „Zufriedenheit“ der Seligen über ihr vergangenes Streben (li-saʿyihā rāḍiyah) reflektiert 101:7: fa-huwa fī ʿīšatin rāḍiyah. Die beiden Suren berühren sich sprachlich übrigens auch in der Verwendung des Partizips mabṯūṯ: In 101:4 (also noch vor der Antithese in V. 6 ff.) dient es zur Beschreibung der Verwirrung, in der sich die Menschen beim Jüngsten Tag befinden werden (yauma yakūnu n-nāsu ka-l farāši l-mabṯūṯ), in 88:16 qualifiziert es die im Paradies ausgebreiteten Teppiche (wa-zarābiyyun mabṯūṯah). Die Passage 88:2–16 erscheint damit in vielerlei Hinsicht als eine Fortschreibung des früheren Jenseitsbildes 101:5–9. Dieser Fortschreibungsprozess könnte u. a. durch die vielleicht von 101:7 bei den koranischen Hörern ausgelöste Frage motiviert gewesen sein, worin genau sich die eschatologische „Zufriedenheit“ der Seligen manifestiert bzw. könnte allgemein auf ein durch die sehr knapp gehaltenen Jenseitsschilderungen in Gruppe I gewecktes Verlangen zurückgehen, mehr über die Beschaffenheit von Paradies und Hölle zu erfahren.
Eine wichtige Differenz zwischen 88:2–16 und der früheren Antithese 101:6–9 besteht neben der größeren Detailfülle der Jenseitsschilderung in Q 88 auch in den vor allem in der Positivhälfte der Antithese deutlich erkennbaren intertextuellen Verweisen auf die Gelageszenen der altarabischen Dichtung (vgl. die Anmerkungen): Die Seligen werden in einem als locus amoenus (Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 55) gestalteten Ambiente (V. 10–12) generös bewirtet (V. 13.14) und sind mit Luxusutensilien wie Kissen und Teppichen (V. 15.16) ausgestattet. Das zuvor beschriebene Schicksal der Verdammten ist eine direkte Inversion davon: Auch sie bekommen wie die Seligen Quellwasser (ʿain erscheint sowohl in V. 5 als auch in V. 12) zu trinken, doch ist dieses kochend heiß; als Essen werden ihnen nur Dornen gereicht (V. 6), denen die eigentliche Funktion von Nahrung, nämlich zu sättigen, abgeht (V. 7). Der enge Parallelismus zwischen den beiden Hälften der Antithese wird auch dadurch markiert, dass die beiden ersten Abschnitte beider Teile (V. 1–5 und V. 8–12) denselben Reim (āKiKah) aufweisen. Zu V. 6.7, die sich reimmäßig von ihrer Umgebung abheben, s. Robinson 2003, 133 (gegen Bells Hypothese, der Reimwechsel deute auf einen Einschub): „... they describe the inedible and unsatisfying food of the inhabitants of hell. It is, therefore, highly appropriate that they end with the guttural ʿain, a letter which produces a feeling in the throat of the speaker which is ‚suggestive of slight retching’“.
Das folgende Gesätz zählt eine Reihe von Naturphänomenen auf, in denen sich Gottes Allmacht manifestiert: die Erschaffung des Kamels als grundlegendem Beförderungs- und Transportmittel (V. 17), das Emporheben des Himmels (V. 18), die Aufstellung der Berge (V. 19), die Ausbreitung und damit Begeh- und Bewohnbarkeit der Erde (V. 20). Das Gesätz beschreibt damit die Stiftung grundlegender Strukturen des menschlichen Lebensraums (Himmel und Erde mit Bergen) sowie seine Bevölkerung mit Nutztieren (hier durch Kamele repräsentiert, die auch in der ungefähr zeitgleich anzusetzenden Sure 81:4 genannt werden). Solche ʾāyāt-Passagen erscheinen ab Gruppe IIIa der frühmekkanischen Suren in zahlreichen Korantexten, sind jedoch vorher selten. In Gruppe I sind sie gar nicht belegt, in Gruppe II gibt es neben der vorliegenden Sure nur noch eine weitere ʾāyāt-Passage, nämlich 86:5–7 (fa-l-yanẓuri l-ʾinsānu mimma ḫuliq): Diese wird wie durch das vorliegende Gesätz mit einem argumentativen Appell eingeleitet, der die Verben naẓara und (im Passiv) ḫalaqa verwendet, doch konzentrieren sich die dann folgenden Verse 86:6.7 ausschließlich auf die Zeugung des Menschen. 88:17–20 stellt damit eines der beiden frühesten koranischen ʾāyāt-Gesätze dar. Von besonderem Interesse ist, dass es sich motivisch (Erbauung des Himmels in V. 18, Ausbreiten der Erde in V. 20) mit den beiden zu einer längeren Schwurserie gehörenden Versen 91:5.6 (wa-s-samāʾi wa-mā banāhā / wa-l-ʾarḍi wa-mā ṭaḥāhā) überschneidet. Wie in 88:17–20 dürfte der Verweis auf Gott als Schöpfer von Himmel und Erde auch in Q 91 in erster Linie die Funktion eines Belegs für die göttliche Allmacht und damit mittelbar auch für die Realität des angedrohten Gerichts haben. Diese argumentative Funktionalisierung göttlicher Großtaten – welche die wesentliche Eigenart koranischer ʾāyāt-Abschnitte im Vergleich zur hymnischen Aussageintention der ihnen inhaltlich häufig nahestehenden Psalmen ausmacht – wird in 88:17 (ʾa-fa-lā yanẓurūna ʾilā ...) und 86:5 (fa-l-yanẓuri l-ʾinsānu mimma ḫuliq) jedoch ungleich deutlicher herausgestrichen. Letztere beiden Passagen dokumentieren insofern die schrittweise Ausdifferenzierung argumentativ funktionalisierter Schöpfungsreferenzen zu einer eigenen koranischen Textsorte – eine Ausdifferenzierung, die in 91:5.6 noch nicht erkennbar ist.
Das Schlussgesätz beginnt mit einer direkten Anrede des Verkünders: Seine Aufgabe bestehe lediglich darin „zu mahnen“, ansonsten habe er keine Gewalt über seine Hörer (V. 21.22). Ähnliche Anreden an den Propheten enthalten zuvor nur die kurzen Trostworte Q 93, 94 und 108; in Q 88 und anderen Texten aus Gruppe II wird die Form der Prophetenanrede dann in übergreifende literarische Zusammenhänge integriert und entwickelt sich so zu einer gängigen Komponente von Surenschlüssen. Es folgen ein kurzer Lasterkatalog (V. 23) und ein Drohwort (V. 24), welches u. a. das im Eingangsvers durch das enigmatisierende Partizip al-ġāšiya ersetzte Substantiv ʿaḏāb nachliefert. Während der Text hier von Gott noch in der dritten Person spricht, schaltet das abschließende Verspaar abrupt in die 1. Person Singular um. Erst kurz vor Ende des Textes wird so sprachlich deutlich gemacht, dass Gott als Sprecher der Sure intendiert ist (so auch in 86:16). Wurde zu Beginn des Gesätzes die Rolle des Verkünders als eines „Mahners“ festgeschrieben, der die kommende Rechenschaftsablegung anzukündigen hat, so hält der Schlussvers die dazu komplementäre Funktion Gottes fest: „Uns obliegt es dann, mit ihnen abzurechnen“.
Literaturliste
Die Sure ist frühmekkanisch (durchschnittliche Verslänge: 9,5 Silben). Stilistisch und strukturell ist sie in Gruppe II der frühmekkanischen Texte einzuordnen. Sie ist damit später als die kurzen Droh- und Scheltworte Q 95, 102, 103, 104, 107 und 111, als die frühen eschatologischen Bilder 99, 100 und 101 und als die an den Verkünder gerichteten Trostworte Q 93, 94 und 107.
Neuwirth (Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 55) datiert die Sure später und stellt sie mit Q 70, 75 und 78 zusammen, die ihrer Ansicht nach wiederum später als Q 73, 74, 79 und 80 sind. Ihrer Ansicht nach kann Sure 88 vor allem aufgrund ihrer ausführlichen Paradiesschilderung noch nicht zu Gruppe II gehören; die früheste Sure, welche das Paradies „als Gelageszene ausmalt“, sei vielmehr Q 78. Rein inhaltlich scheint eine umgekehrte Reihenfolge allerdings keineswegs unmöglich. Es empfiehlt sich deshalb, bei der chronologischen Einordnung von Sure 88 vor allem auf ihre geringere durchschnittliche Verslänge und Gesamtlänge gegenüber Q 78 zu bauen, die – obwohl kleinere Variationen dieser Parametern nicht unweigerlich chronologisch erklärt werden müssen – eher eine zeitliche Vorgängigkeit des vorliegenden Textes wahrscheinlich machen. Dafür, dass es sich bei Sure 88 um das früheste antithetische Jenseitsbild handelt, könnte auch der weiter unten belegte Eindruck sprechen, dass es sich bei dem Jenseitsbild in Q 88 um eine Fortschreibung der früheren Sure 101 handelt. Der von Neuwirth konstatierte „Durchbruch“ zu ausführlichen Jenseitsschilderungen (Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 55), die sowohl die natürlichen Gegebenheiten des Paradieses als auch den die Seligen dort erwartenden Luxus detailliert vergegenwärtigen, wäre dann in erster Linie als Resultat der nachträglichen Ausgestaltung eines früheren Textes zu erklären. Diese Innovation hätte sich dann u. a. in Q 78 als stilbildend erwiesen.
Für eine Erörterung der chronologischen Position von Sure 88 und insbesondere ihres Verhältnisses zu Q 78 ist überdies das kurze ʾāyāt-Gesätz 88:17–20 relevant (welches übrigens – wie die Paradiesbeschreibung der Sure – ebenfalls an einen früheren Text anzuknüpfen scheint, in diesem Fall an die Schwurserie zu Beginn von Sure 91). Denn während Sure 88 die umfangreichere Paradiesschilderung aufweist, enthält Sure 78 eindeutig die umfangreichere ʾāyāt-Passage (vgl. V. 6–16); auch der ʾāyāt-Abschnitt der von Neuwirth vor Sure 88 gestelltenSure 80 ist länger und wirkt bereits wesentlich diskursiver und polemischer (vgl. 17–32). Solche Beobachtungen zeigen, wie problematisch es ist, Sure 88 primär aufgrund des größeren Umfangs und Detailreichtums ihrer Paradiesbeschreibung – und unter Außerachtlassung ihrer stilistischen und strukturellen Zugehörigkeit zu Gruppe II der frühmekkanischen Texte – zu datieren: Denn würde man statt der Jenseitsschilderungen von Sure 88 und 78 die in ihnen enthaltenen ʾāyāt-Passagen vergleichen, ergäbe sich auf der Basis desselben Prinzips ein genau umgekehrtes Resultat.
Die Sure weist keine Indizien für spätere Einschübe auf.
Neuwirth (Studien, 226) gliedert die Sure in drei Teile, wobei der erste Teil V. 1–16 umfasst. Zwar gehören die ersten beiden Gesätze in der Tat enger zusammen als die übrigen, doch bestehen der zweite und dritte Teil jeweils nur aus einem einzigen Gesätz. Es handelt sich insofern eher um eine mehrgesätzige als um eine genuin mehrteilige Sure. Ein analoger Sachverhalt besteht übrigens bei der durch relativ umfangreiche Zusätze erweiterten Urfassung von Sure 89 (ebenfalls Gruppe II), bei der die letzten beiden Gesätze ebenfalls enger zusammengehören als die vorigen (s. den Kommentar zu Q 89).
Sure 88 weist verschiedene, für die weitere Entwicklung der Korantexte außerordentlich entscheidende literarische Innovationen auf. Zum einen veranschaulicht sie die auch in anderen Suren von Gruppe II zu Tage tretende Tendenz zu recht umfangreichen Antithesen (vgl. sonst noch 82:13–16, 84:7–15, 90:17–20, 92:5–11.14–21; die ebenfalls mit wuǧūh ... – wuǧūh ... gebildeten Antithesen in 75:22–25 und 80:38–41 gehören zu Gruppe IIIa, sind also etwas später anzusetzen): Die Antithese in Sure 88 nimmt bereits 15 Verse – über die Hälfte der Sure – in Anspruch und stellt damit ein zentrales Übergangsstadium in jenem Entwicklungsprozess dar, der von der konzisen Kontrastierung von Seligen und Verdammten in 101:6–9 (Gruppe I) zu den detaillierten Jenseitsschilderungen späterer Suren führt. Auf die Antithese folgt in V. 17–20 eine Gottes Wirken in der Natur vergegenwärtigende ʾāyāt-Passage, eine in späteren Koransuren außerordentlich häufige Textsorte, deren wichtigstes Charakteristikum die argumentative Funktionalisierung psalmisch inspirierter Motive ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt erweist sich Q 88 als innovativer und innerkoranisch geradezu stilbildender Text: Denn neben dem lediglich die Zeugung des Menschen behandelnden Abschnitt 86:5–7 (vgl. noch 96:1.2) stellt 88:17–20 die wohl früheste genuine ʾāyāt-Passage im Koran dar. Der Text schließt mit einem den Verkünder anredenden polemischen Gesätz (V. 21–26); auch solche abschließenden Anreden des Verkünders sind in späterer Zeit eine Standardkomponente koranischer Verkündigungen, für die Q 88 einen der frühesten Belege darstellt.
Eine anders geartete Analyse der Sure bietet Cuypers 2001, 56–63, der dem Text – angesichts seines allgemeinen Ansatzes wenig überraschend (vgl. die kritischen Bemerkungen im Abschnitt „Zum Format des Kommentars“ der Einleitung) – einen konzentrischen Aufbau um V. 17–20 herum zuschreibt.
Überblick
1 āKiKah | I 1 1 Lehrfrage |
2–5 āKiKah, 6.7 3(K)K2ʿ | 2–7 Antwort: eschatologischer Nachsatz: Antithese (Negativhälfte) mit Höllenbeschreibung (V. 4–7) |
8–12 āKiKah, 13–16 2Kah | 2 8–16 Forts. eschatologischer Nachsatz: Antithese (Positivhälfte) mit Paradiesbeschreibung (V. 10–16) |
17–20 3K3Kat | II 3 17–20 polemische Frage: Werkaffirmationen (im Passiv) |
21–24 3(K)K3r | III 4 21 Aufruf zur Verkündigung und Verkünderprädikation (positiv) |
22 Verkünderprädikation (negativ) | |
23.24 Drohwort (mit kurzem Lasterkatalog) | |
25.26 āK3hum | 25.26 theologische Prädikation |
Proportionen: [7+9]+4+6.