بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
إِذَا ٱلسَّمَآءُ ٱنفَطَرَتۡ |
I11 Wenn sich der Himmel spaltet, |
وَإِذَا ٱلۡكَوَاكِبُ ٱنتَثَرَتۡ |
2 wenn sich die Sterne zerstreuen, |
وَإِذَا ٱلۡبِحَارُ فُجِّرَتۡ |
3 wenn die Meere aufgerissen werden, |
وَإِذَا ٱلۡقُبُورُ بُعۡثِرَتۡ |
4 und wenn die Gräber freigelegt werden, |
عَلِمَتۡ نَفۡسٌۭ مَّا قَدَّمَتۡ وَأَخَّرَتۡ |
5 dann weiß eine jede Seele, was sie getan und was sie aufgeschoben hat. |
يَٰٓأَيُّهَا ٱلۡإِنسَٰنُ |
26 O Mensch, |
مَا غَرَّكَ بِرَبِّكَ ٱلۡكَرِيمِ |
was hat dich im Hinblick auf deinen großmütigen Herrn verleitet, |
ٱلَّذِی خَلَقَكَ فَسَوَّىٰكَ فَعَدَلَكَ |
7 der dich geschaffen, geformt und geradegerichtet hat |
فِیٓ أَىِّ صُورَةٍۢ مَّا شَآءَ رَكَّبَكَ |
8 und dich so zusammengefügt hat, wie er wollte? |
كَلَّا بَلۡ تُكَذِّبُونَ بِٱلدِّينِ |
II39 Aber nein, ihr leugnet das Gericht! |
وَإِنَّ عَلَيۡكُمۡ لَحَٰفِظِينَ |
10 Doch über euch sind Hüter, |
كِرَامًۭا كَٰتِبِينَ |
11 edle, die niederschreiben, |
يَعۡلَمُونَ مَا تَفۡعَلُونَ |
12 die wissen, was ihr tut. |
إِنَّ ٱلۡأَبۡرَارَ لَفِی نَعِيمٍۢ |
413 Die Rechtschaffenen sind in einem Zustand der Wonne, |
وَإِنَّ ٱلۡفُجَّارَ لَفِی جَحِيمٍۢ |
14 die Sünder jedoch in einem Brand, |
يَصۡلَوۡنَهَا يَوۡمَ ٱلدِّينِ |
15 in dem sie schmoren am Tag des Gerichts |
وَمَا هُمۡ عَنۡهَا بِغَآئِبِينَ |
16 und dem sie nicht entrinnen. |
وَمَآ أَدۡرَىٰكَ مَا يَوۡمُ ٱلدِّينِ |
517 Was lässt dich wissen, was der Tag des Gerichts ist? |
ثُمَّ مَآ أَدۡرَىٰكَ مَا يَوۡمُ ٱلدِّينِ |
18 Nochmals: Was lässt dich wissen, was der Tag des Gerichts ist? |
يَوۡمَ لَا تَمۡلِكُ نَفۡسٌۭ لِّنَفۡسٍۢ شَيۡـًۭٔا ۖ |
19 Am Tag, an dem keine Seele etwas für eine andere vermag |
وَٱلۡأَمۡرُ يَوۡمَئِذٍۢ لِّلَّهِ |
und an dem die Entscheidung bei Gott liegt. |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
ʾiḏā-Serien mit einer ganz ähnlichen Verengung des Blickpunktes vom Kosmischen zum Menschen weisen auch Q 81, 84 und 99 auf. Die in längeren ʾiḏā-Serien übliche Wortstellung ʾiḏā + Subjekt + Verb (s. a. 77:8–11) unterscheidet sich von derjenigen in gewöhnlichen Verbalsätzen, wo das Verb voransteht (nicht so in 99:1–3; auch alleinstehende ʾiḏā-Sätze wie 89:21.22 weisen die normale Wortstellung auf). Das Phänomen ist als solches nicht auf den Koran begrenzt, sondern auch in der altarabischen Dichtung nachweisbar (s. den Verweis auf Bloch 1946, 104 f. , bei Paret, Kommentar, zu 81:1–14 ).
ʾiḏă s-samāʾu nfaṭarat] Vgl. 84:1 (ʾiḏă s-samāʾu nšaqqat), 73:18 (as-samāʾu munfaṭirun bihī kāna waʿduhū mafʿūlā), 55:37 (fa-ʾiḏă nšaqqati s-samāʾu fa-kānat wardatan ka-d-dihān), 69:16 (wa-nšaqqati s-samāʾu fa-hiya yaumaʾiḏin wāhiyah).
wa-ʾiḏă l-kawākibu ntaṯarat] Vgl. 81:2 (wa-ʾiḏă n-nuǧūmu nkadarat) und 77:8 (fa-ʾiḏă n-nuǧūmu ṭumisat). Das Herabfallen der Sterne wird bereits im Neuen Testament mit dem Jüngsten Tag assoziiert, s. Markus 13:25 („Die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden“; s. TUK, Nr. 500) und Offenbarung des Johannes 6:13 („Die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt“; s. TUK, Nr. 278); vgl. Andrae 1926, 65 . Dass derartige Vorstellungen noch im syrischen Christentum um 500 zirkulierten und den koranischen Hörern folglich durchaus vertraut gewesen sein könnten, belegt ein von Yousef Kouriyhe ausfindig gemachtes eschatologisches Gedicht Jakobs von Sarūg (um 421–521): „Die Sonne verfinstert sich, der Mond wird dunkel und die Sterne stürzen nieder. Alle Mächte der Höhe erzittern vor seiner Herrlichkeit, alle leuchtenden (Sterne) verlassen ihre Bahnen und sein Glanz allein erstrahlt über die gesamte Schöpfung.“ ( Bedjan 1905, 713 f. ; Übersetzung David Kiltz; vgl. ausführlicher TUK, Nr. 534.)
wa-ʾiḏă l-biḥāru fuǧǧirat] Vgl. 81:6 (wa-ʾiḏă l-biḥāru suǧǧirat) sowie 52:6 (wa-l-baḥri l-masǧūr). Dass unmittelbar vor dem Weltende „die Meere toben“, lehrt auch ein eschatologisches Gedicht Jakobs von Sarūg ( Bedjan 1910, 854 ; zu diesem ebenfalls von Yousef Kouriyhe identifizierten Intertext, der zahlreiche weitere Überschneidungen mit der koranischen Eschatologie aufweist, s. ausführlicher TUK, Nr. 533).
wa-ʾiḏă l-qubūru buʿṯirat] Vgl. 100:9 (ʾa-fa-lā yaʿlamu ʾiḏā buʿṯira mā fĭ l-qubūr) und 99:2 (wa-ʾaḫraǧati l-ʾarḍu ʾaṯqālahā) sowie etwas später, 84:4 (wa-ʾalqat mā fīhā wa-taḫallat); vgl. noch mittelmekkanisch 50:44 (yauma tašaqqaqu l-ʾarḍu ʿanhum sirāʿan ḏālika ḥašrun ʿalainā yasīr). Zu einem ähnlichen Passus bei Jakob von Sarūg s. die Anmerkung zu 100:9.
ʿalimat nafsun mā qaddamat wa-ʾaḫḫarat] Qaddama (s. Ambros, Dictionary, 221 ) bedeutet u. a. „vorsorgen“ (89:24: yaqūlu yā-laitanī qaddamtu li-ḥayātī); vgl. Paret, Kommentar, zu 5:80 : „Das Verbum qaddama (II) bezieht sich im Koran meistens auf die menschlichen Handlungen, soweit diese die Voraussetzung zu einer Bestrafung oder Belohnung im Jenseits schaffen.“ Im Kontrast zu ʾaḫḫara ist qaddama im Deutschen am besten mit „tun“ wiederzugeben (vgl. noch 75:13: yunabbaʾu l-ʾinsānu yaumaʾiḏin bi-mā qaddama wa-ʾaḫḫar; die beiden Wurzeln werden – allerdings in anderen Stämmen – auch in 74:37 kontrastiv gebraucht: li-man šāʾa minkum ʾan yataqaddama ʾau yataʾaḫḫar). Vgl. noch die Wendung mā qaddamat yadāhu in 78:40 und 73:20 (wa-mā tuqaddimū li-ʾanfusikum min ḫairin; Teil eines späteren Einschubs). Aḫḫara ist wörtlich „aufschieben“. Zu ʿalimat nafsun vgl. den sehr ähnlichen und ebenfalls auf eine ʾiḏā-Serie folgenden Vers 81:14 (ʿalimat nafsun mā ʾaḥḍarat). Zwischen Q 81 und 82 besteht auch sonst eine Reihe von Entsprechungen (s. o.).
yā-ʾayyuhă l-ʾinsānu mā ġarraka bi-rabbika l-karīm] Wie hier schließt sich auch in anderen frühmekkanischen Texten an eine streng parallel gebaute Schwur- oder ʾiḏā-Einleitung ein ʾinsān-Spruch an, vgl. 90:4 und 100:6 (nach Schwurserie) sowie – wie im vorliegenden Vers mit dem Vokativ yā-ʾayyuhă l-ʾinsānu – 84:6 (wie in Q 82 nach ʾiḏā-Serie; anders als in 82:5 geht dem ʾinsān-Spruch dort keine Apodosis voran). Reimlose Gesätzeinleitungen (vgl. Neuwirth, Studien, 31 ) begegnen auch anderswo, s. 99:6, 80:24.33 und 74:29.
Neuwirth bemerkt, dass die durch das Attribut karīm festgehaltene Großmut Gottes frühmekkanisch „mit dem Gedanken des großzügig mit den Menschen geteilten Wissens“assoziiert ist; vgl. 96:3.4: iqraʾ wa-rabbuka l-ʾakram / allaḏī ʿallama bi-l-qalam; über den Verkünder formuliert vgl. 81:24: wa-mā huwa ʿală l-ġaibi bi-ḍanīn ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 285 ). Zum Gottestitel rabb s. die Anmerkung zu 95:8.
allaḏī ḫalaqaka fa-sawwāka] Zu ḫalaqa s. die Anmerkung zu 96:1.2. Die Verben ḫalaqa und sawwā werden auch in 87:2 (allaḏī ḫalaqa fa-sawwā), 75:38 (ṯumma kāna ʿalaqatan fa-ḫalaqa fa-sawwā) hintereinander verwendet.
fa-ʿadalak] Statt ʿadalaka wird auch eine Lesung im zweiten Stamm ʿaddalaka überliefert (u. a. von Ibn Kaṯīr, Nāfiʿ, Abū ʿAmr, Ibn ʿĀmir; s. Muʿǧam, ad loc. ). ʿAdala (Grundbedeutung: „gerade sein“) bedeutet im Koran sonst „gerecht handeln“ (s. die Stellen bei Ambros, Dictionary, 184 ), ist also intransitiv, während das Verb in 82:7 aufgrund des Objektsuffixes transitiv sein muss. Grammatisch am durchsichtigsten wäre es in der Tat, mit Ibn Kaṯīr u. a. den Konsonantenduktus ʿ-d-l-k als kausativen II. Stamm zu intransitivem ʿadala aufzufassen. Jedoch kann auch der I. Stamm transitiv verwendet werden (s. Lane, Bd. 5, 1973a ), so dass die Ḥafs-Lesung wohl die lectio difficilior ist.
kallā bal tukaḏḏibūna bi-d-dīn] Zu den verschiedenen Gebrauchsweisen von kaḏḏaba vgl. die Anmerkungen zu 95:7, 92:16 und 73:11. Zu dīn s. die Anmerkung zu 107:1.
wa-ʾinna ʿalaikum la-ḥāfiẓīn / kirāman kātibīn / yaʿlamūna mā tafʿalūn] Die koranischen „Hüterengel“ (in der Regel mit Ableitungen der Wurzel ḥ-f-ẓ bezeichnet; vgl. den ausführlichen Überblick in Eichler 1928, 87–93 ) „sind keine Beschützer, sondern vielmehr himmlische Polizisten, Kontrollbeamte, die ein fortlaufendes Protokoll über das Verhalten der Menschen aufnehmen, derer Ueberwachung ihnen übertragen ist“. Die Vorstellung ist auch in rabbinischen Quellen nachweisbar ( Eichler 1928, 87 f. ). Die Hüterengel werden frühmekkanisch sonst noch in 86:4 (ʾin kullu nafsin lammā ʿalaihā ḥāfiẓ) und 50:18 (mā yalfiẓu min qaulin ʾillā ladaihi raqībun ʿatīd) thematisiert. Himmlische Schreiber erscheinen in einem anderen Kontext auch in 80:13–16: Dort heißt es, die durch Muḥammad vorgetragene „Mahnung“ (taḏkira, V. 11) stünde auf „geehrten Blättern“, die sich „in den Händen von edlen und frommen Schreibern“ befinden.
Zu den von den Hüterengeln erstellten und beim Jüngsten Gericht verwendeten Tatenregistern (s. allg. Jeffery 1952 sowie Eichler 1928, 89 f. ) vgl. in Mekka I insb. 84:7.12 (fa-ʾammā man ʾūtiya kitābahū bi-yamīnih / ... / wa-ʾammā man ʾūtiya kitābahū warāʾa ẓahrih) und 69:19.25, wo jeweils von den Menschen beim Jüngsten Gericht ausgehändigten Einzelregistern die Rede ist. Ähnlich heißt es in 81:10, dass am Jüngsten Tag „Schriften aufgeschlagen“ werden (s. die Anmerkung ebd.). Nicht von individuellen Tatenregistern, sondern von kollektiven Verzeichnissen für die Guten und Bösen ist in 83:7.18 die Rede. In allen vier Fällen dürfte es sich jedoch um die Produkte der in der vorliegenden Passage beschriebenen Überwachungstätigkeit handeln. Bemerkenswerterweise ist die Vorstellung von einem himmlischen Tatenregister (kitāb), auf dessen Grundlage der Einzelne am Jüngsten Tag abgeurteilt wird, auch in einem Vers der Muʿallaqa des Zuhair bezeugt (s. die Anmerkung zu 84:8).
ʾinna l-ʾabrāra la-fī naʿīm] Vgl. 83:22 (ʾinna l-ʾabrāra la-fī naʿīm), 68:34 (ʾinna li-l-muttaqīna ʿinda rabbihim ǧannati n-naʿīm), 56:12 (fī ǧannāti n-naʿīm) und 52:17 (ʾinna l-muttaqīna fī ǧannātin wa-naʿīm) sowie die Anmerkungen zu 102:8 und 81:13.
wa-ʾinna l-fuǧǧāra la-fī ǧaḥīm] Zu f-ǧ-r vgl. die Anmerkung zu 91:8. Zu ǧaḥīm vgl. die Anmerkung zu 102:6.
yaṣlaunahā yauma d-dīn] Zu ad-dīn s. die Anmerkung zu 107:1; vgl. a. die Anmerkung zu der ähnlichen Wendung yaum al-faṣl in 77:13.
ġāʾibīn] Die Übersetzung mit „entrinnen“ folgt der stilistisch gelungenen Wortwahl Bobzins (Paret: „herauskommen“).
wa-mā ʾadrāka mā yaumu d-dīn / ṯumma mā ʾadrāka mā yaumu d-dīn] Die nachdrückliche Wiederholung einer Drohung (oder einer drohenden Frage) mit ṯumma findet sich in frühmekkanischer Zeit mehrmals, s. 102:4.7, 78:5, 75:35 und 74:20.
yauma lā tamliku nafsun li-nafsin šaiʾan] Im Gegensatz zu 74:48 (Gruppe IIIa) spricht der vorliegende Vers – wie auch 80:34–37 (vgl. a. die Anmerkung ebd.) – noch nicht von „Fürsprache“ (š-f-ʿ); s. die Anmerkung zu 78:38. Auf der irreduziblen moralischen Verantwortung des Einzelnen insistiert ähnlich bereits die Hebräische Bibel, vgl. etwa Psalm 49:8 (vgl. Speyer, Biblische Erzählungen, 447 ; Rudolph 1922, 12 ): „Loskaufen kann doch keiner den andern / noch an Gott für ihn ein Sühnegeld zahlen.“
Textkritik: Statt des Akkusativs yauma wird von Ibn Muḥaiṣin, Ibn Kaṯīr, Abū ʿAmr u. a. die Variante yaumu im Nominativ überliefert ( Muʿǧam, ad loc. ). Für den Nominativ spricht, dass er eine sinnvollere Antwort auf die vorangehende Lehrfrage bietet. Die akkusativische Lesung yauma könnte durch Analogie zu den zahlreichen mit yauma („am Tag, da ...“) eingeleiteten eschatologischen Temporalsätzen zustande gekommen sein (vgl. etwa 101:4: yauma yakūnu n-nāsu ka-l-farāši l-mabṯūṯ). Auch die umgekehrte Entwicklung lässt sich jedoch kaum ausschließen: Die Lesung im Nominativ könnte eine sekundäre Glättung darstellen.
wa-l-ʾamru yaumaʾiḏin li-llāh] Zum Gottesnamen Allāh vgl. die Anmerkung zu 95:8. Zu yaumaʾiḏin vgl. die Anmerkung zu 102:8.
Literaturliste
Die ersten beiden Verse der einleitenden ʾiḏā-Serie nennen Himmelsphänomene (Himmel und Sterne), das zweite Verspaar ist Phänomenen auf der Erde (Meere, Gräber) gewidmet. Wie in anderen Suren (vgl. Q 81) verengt sich dabei der Fokus vom Kosmischen hin zum am Jüngsten Tag gerichteten menschlichen Subjekt. V. 2 dürfte wie die häufigen koranischen Verweise auf einen eschatologischen Zerfall der Berge (vgl. die Anmerkung zu 81:3) auch gegen die in der altarabischen Dichtung dem Kosmos zugeschriebene und mit der Fragilität menschlicher Existenz kontrastierte Stabilität und Unvergänglichkeit zielen. V. 4 beschreibt nicht nur negativ den Zerfall der Welt am Jüngsten Tag, sondern kündigt implizit auch die Auferstehung der Toten aus den aufgesprengten Gräbern an (vgl. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 288 ). Wie auch anderswo im Koran gilt, dass als handelndes Subjekt dieses endzeitlichen Zerstörungswerkes niemals ausdrücklich Gott genannt wird: Während Gottes schöpferische Aktivitäten (vgl. V. 7.8, aber auch längere ʾāyāt-Passagen wie 80:24 ff.) immer aktivisch formuliert sind, läuft die eschatologische Desintegration der Welt scheinbar wie ein Automatismus ab und manifestiert so gleichsam die ontologische Brüchigkeit und Unbeständigkeit der Schöpfung. V. 5, der Abschluss der vorangehenden ʾiḏā-Serie, sticht durch die Antithese mā qaddamat wa-ʾaḫḫarat auch stilistisch hervor ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 285 ). Wie im Nachsatz der verwandten, allerdings erheblich längeren ʾiḏā-Serie zu Beginn von Q 81 (V. 14) wird hier die Einsicht der Gerichteten selbst in die moralische Wertigkeit ihres Tuns betont.
Bei der in V. 5 erreichten Fokussierung auf den Menschen setzt dann der das zweite Gesätz eröffnende ʾinsān-Spruch (V. 6) mit seiner sich direkt an den Menschen wendenden Rechenschaftsforderung ein, die gleichsam die eschatologische Abrechnung vorwegnimmt. Mit dem Vorwurf, der Mensch habe sich zum Ungehorsam gegen seinen Herrn „betören“ (ġarra) lassen, kontrastiert ein relativischer Hymnus (V. 7.8), der die sich in Schöpfung und Wohlgestaltetheit des Menschen manifestierende Zuwendung Gottes unterstreicht: Wie in anderen frühmekkanischen Suren erscheint die Natur hier als ein lesbares „Zeichen“ (vgl. den späteren Begriff ʾāya), das auf die Existenz und Allmacht eines göttlichen Schöpfers verweist. Der inhaltliche Gegensatz zwischen dem Hymnus und seinem polemischen Umfeld wird dadurch unterstrichen, dass V. 7.8 den erstmals in V. 6 erscheinenden und dann fast den gesamten zweiten Surenteil prägenden Reim 2n/m unterbrechen. Das hier vergegenwärtigte kreativ-gestaltende Wirken Gottes steht zugleich im Kontrast zu der im Anfangsgesätz geschilderten eschatologischen Verwüstung des Kosmos.
Der zweite Teil wird durch ein Scheltwort eröffnet, das noch einmal explizit die bereits in anderen frühmekkanischen Suren angeprangerte Leugnung des Gerichts konstatiert – obschon deren Vergeblichkeit angesichts der bereits in Vorbereitung befindlichen Anklageschriften (V. 10–12) evident ist. Reimlich und inhaltlich knüpft V. 9 an V. 6 an, geht dabei jedoch in die zweite Person Plural über und stellt so einen noch unmittelbareren Hörerbezug her. Das Scheltwort wird untermauert durch einen folgenden Warnspruch, der die moralische Beaufsichtigung des Menschen durch himmlische Wächter ins Gedächtnis ruft; die geradezu professionelle Zuverlässigkeit dieser Supervision wird dabei insbesondere durch die schriftliche Niederlegung (V. 11) des menschlichen Tuns verbürgt. Das Nacheinander von Scheltwort und Warnspruch setzt der menschlichen Weigerung, das Gericht zur Kenntnis zu nehmen (V. 9), als Kontrapunkt die universale Zurkenntnisnahme menschlichen Verhaltens durch die himmlischen Hüter (V. 10–12) entgegen, kontrastiert also selektives Nichtwissenwollen mit universalem Wissenkönnen.
Die Buchführung über menschliches Tun mündet im vierten Gesätz in eine Antithese, welche die endzeitliche Scheidung der Menschen in Rechtschaffene (V. 13) und Sünder (V. 14–16) ankündigt; der aus drei Versen bestehende Negativteil der Antithese hat dabei ein deutliches Übergewicht. Der strenge syntaktische Parallelismus der ersten beiden Verse (V. 13.14) wird noch dadurch unterstrichen, dass die Bezeichnung von Paradies (naʿīm) und Höllenbrand (ǧaḥīm) am Versschluss miteinander reimen (vg. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 286 ). Beachtenswert ist auch, dass das Wort fuǧǧār, „Sünder“, dieselbe Konsonantenwurzel wie fuǧǧirat, „werden aufgebrochen“ (V. 3), enthält; die eschatologische Desintegration und anschließende moralische Reintegration der Welt werden so durch ein Wortspiel verschränkt.
Abschließend wird die sowieso schon umfangreichere Negativhälfte der Antithese noch einmal durch eine doppelte Lehrfrage (V. 17.18) akzentuiert, die an den in V. 15 als adverbialen Akkusativ gebrauchten „Tag des Gerichts“ (yaum ad-dīn) anknüpft. Bereits im Eröffnungsvers des zweiten Teils war von der Leugnung des „Gerichts“ (ad-dīn) die Rede gewesen. Der Begriff des „Gerichts“ bzw. des „Gerichtstags“ zieht sich damit durch den gesamten zweiten Teil und dominiert in besonders verdichteter Form das Schlussgesätz.
Die Sure kulminiert in einer – durch Reimlosigkeit bzw. durch einen „isolierten Reim“ (vgl. Neuwirth, Studien, 91–97 ) hervorgehobenen – Bestimmung des Gerichtstages als dem Tag, an dem keinerlei Fürsprache für andere möglich sein wird und Gott konsequent seine Gerechtigkeit durchsetzt. Die Pointe, auf welche die Sure insgesamt hinsteuert, ist so – ähnlich wie im vorletzten Gesätz von Q 80 (V. 33–37) – die sich am Jüngsten Tag erweisende moralische Verantwortung des Einzelnen. Dabei schlägt der Schlussvers mit dem zweimaligen Gebrauch von nafs, „Seele“, einen terminologischen Bogen zurück zur Apodosis des Anfangsgesätzes ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 290 ).
Literaturliste
Die Sure weist keine Indizien für spätere Erweiterungen auf.
Die Sure setzt sich aus 5 Gesätzen zusammen, die sich in zwei übergreifende Teile gliedern lassen: Der eng mit Q 81 und Q 84 verwandte erste Teil (s. die Kommentare zu diesen Suren) behandelt das Jüngste Gericht (V. 1–5) und enthält eine allgemeine Anklage des menschlichen Ungehorsams gegen seinen Schöpfer (V. 6–8). Der durch einen Monoreim (V. 9–18) auch formal abgesetzte zweite Teil hält zunächst die lückenlose Dokumentation des menschlichen Tuns durch Schreiberengel fest (V. 7–12), auf deren Grundlage die Menschen am Jüngsten Tag dann in Selige und Verdammte (V. 13–16) eingeteilt werden. Teil II schließt mit einem als Lehrfrage gestalteten Rückbezug auf den bereits in V. 9 und 15 thematisierten „Tag des Gerichts“ (V. 17–19). Die beiden Surenteile bauen inhaltlich aufeinander auf: Während im ersten Teil die Offenlegung aller menschlichen Taten angekündigt wird (V. 5), beschreibt der zweite Teil die Aufzeichnung und Aburteilung dieser Taten. Die Sure wird an drei Stellen von Anreden in der 2. Person punktiert (V. 6.9.17), die dem Text insgesamt einen appellativen Gestus verleihen und auf eine unmittelbare Präsenz der Adressaten hindeuten.
Die Gesätzeinteilung dürfte weitgehend unstrittig sein, doch gliedert Neuwirth (Studien, 221)V. 1–8 in zwei Vierergesätze, wodurch sich ein symmetrischerer Gesamtaufbau ergäbe (4+4+4+4+3). Dagegen spricht jedoch, dass V. 5 sowohl reimlich als auch syntaktisch mit den ersten vier Versen verknüpft ist (V. 5 ist Apodosis zu V. 1–4), während der Vokativ in V. 6 einen stilistischen und auch thematischen Neueinsatz darstellt – die Zäsur zwischen den ersten beiden Gesätzen verläuft also wohl nach V. 5.
Überblick
1–5 3(K)K3rat | I 1 1–5 eschatologischer Temporalsatz (ʾiḏā-Serie) |
1.2 Himmelsphänomene |
|
3.4 Erde (Meere, Erdoberfläche) |
|
5 eschatologischer Nachsatz | |
6 2n/m | 2 6 polemische Frage an den ʾinsān |
7.8 3(K)K3Kak | 7.8 relativisch angeschlossene Werkaffirmationen |
9–18 2n/m | II 3 9 Scheltwort |
10–12 Warnspruch | |
4 13–16 Antithese aus Verheißung (V. 13) und kurzer Höllenbeschreibung (V. 14–16) | |
5 17.18 Lehrfrage | |
19 li-llāh | 19 Antwort: eschatologischer Temporalsatz |
Proportionen: 5+3+4+4+3.