بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
إِذَا ٱلشَّمۡسُ كُوِّرَتۡ |
I11 Wenn die Sonne verhüllt wird, |
وَإِذَا ٱلنُّجُومُ ٱنكَدَرَتۡ |
2 wenn die Sterne herabstürzen, |
وَإِذَا ٱلۡجِبَالُ سُيِّرَتۡ |
3 wenn die Berge in Bewegung versetzt werden, |
وَإِذَا ٱلۡعِشَارُ عُطِّلَتۡ |
4 wenn die hochträchtigen Kamelstuten sich selbst überlassen werden, |
وَإِذَا ٱلۡوُحُوشُ حُشِرَتۡ |
5 wenn die Wildtiere versammelt werden, |
وَإِذَا ٱلۡبِحَارُ سُجِّرَتۡ |
6 wenn die Meere hoch angefüllt werden, |
وَإِذَا ٱلنُّفُوسُ زُوِّجَتۡ |
27 wenn die Seelen gepaart werden, |
وَإِذَا ٱلۡمَوۡءُۥدَةُ سُئِلَتۡ |
8 wenn die lebendig Begrabene befragt wird, |
بِأَىِّ ذَنۢبٍۢ قُتِلَتۡ |
9 aufgrund welcher Sünde sie getötet wurde, |
وَإِذَا ٱلصُّحُفُ نُشِرَتۡ |
310 wenn die Schriften ausgebreitet werden, |
وَإِذَا ٱلسَّمَآءُ كُشِطَتۡ |
11 wenn der Himmel abgezogen wird, |
وَإِذَا ٱلۡجَحِيمُ سُعِّرَتۡ |
12 wenn der Höllenbrand angefacht wird, |
وَإِذَا ٱلۡجَنَّةُ أُزۡلِفَتۡ |
13 und wenn der Garten herbeigebracht wird, |
عَلِمَتۡ نَفۡسٌۭ مَّآ أَحۡضَرَتۡ |
14 dann weiß eine jede Seele, was sie beigebracht hat. |
فَلَآ أُقۡسِمُ بِٱلۡخُنَّسِ |
II415 Nein, ich schwöre bei den Rückläufigen, |
ٱلۡجَوَارِ ٱلۡكُنَّسِ |
16 den Dahinziehenden und sich Verbergenden, |
وَٱلَّيۡلِ إِذَا عَسۡعَسَ |
17 bei der Nacht, wenn sie die Runde macht, |
وَٱلصُّبۡحِ إِذَا تَنَفَّسَ |
18 beim Morgen, wenn er Atem schöpft! |
إِنَّهُۥ لَقَوۡلُ رَسُولٍۢ كَرِيمٍۢ |
519 Es ist die Rede eines edlen Gesandten, |
ذِی قُوَّةٍ عِندَ ذِی ٱلۡعَرۡشِ مَكِينٍۢ |
20 mächtig beim Herrn des Thrones und hochgestellt, |
مُّطَاعٍۢ ثَمَّ أَمِينٍۢ |
21 dem man dort gehorcht und vertraut! |
وَمَا صَاحِبُكُم بِمَجۡنُونٍۢ |
622 Euer Gefährte ist nicht von Dschinnen besessen: |
وَلَقَدۡ رَءَاهُ بِٱلۡأُفُقِ ٱلۡمُبِينِ |
23 er hat ihn am klaren Horizont gesehen; |
وَمَا هُوَ عَلَى ٱلۡغَيۡبِ بِضَنِينٍۢ |
24 er hält das Verborgene nicht geizig zurück! |
وَمَا هُوَ بِقَوۡلِ شَيۡطَٰنٍۢ رَّجِيمٍۢ |
725 Es ist nicht die Rede eines schmählich davongejagten Satans – |
فَأَيۡنَ تَذۡهَبُونَ |
26 wohin versteigt ihr euch? –, |
إِنۡ هُوَ إِلَّا ذِكۡرٌۭ لِّلۡعَٰلَمِينَ |
27 es ist nur eine Mahnung für die Weltbewohner, |
لِمَن شَآءَ مِنكُمۡ أَن يَسۡتَقِيمَ |
28 für den unter euch, der auf geradem Wege wandeln will. |
وَمَا تَشَآءُونَ |
29 Doch ihr wollt nur dann, |
إِلَّآ أَن يَشَآءَ ٱللَّهُ رَبُّ ٱلۡعَٰلَمِينَ |
wenn Gott will, der Herr der Weltbewohner. |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
ʾIḏā-Serien mit einer ganz ähnlichen Verengung des Blickpunktes vom Kosmischen zum Menschen weisen auch Q 82, 84 und 99 auf. Die in längeren ʾiḏā-Serien anzutreffende Wortstellung ʾiḏā + Subjekt + Verb (s. a. 77:8–11) unterscheidet sich von derjenigen in gewöhnlichen Verbalsätzen, wo das Verb voransteht (nicht so in 99:1–3; auch alleinstehende ʾiḏā-Sätze wie 89:21.22 weisen die übliche Wortstellung auf). Das Phänomen ist auch in der altarabischen Dichtung nachweisbar (s. den Verweis auf Bloch 1946, 104 f. , bei Paret, Kommentar, ad loc. ), es handelt sich also um ein poetisierendes Signal.
ʾiḏă š-šamsu kuwwirat] Die Sonne wird wie mit einem Turban „umwickelt“ (kawwara ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 295 ), vgl. WKAS, s. v. k-w-r ) dargestellt. Auch in der Offenbarung des Johannes 6:12 wird mit einer Kleidungsmetapher eine endzeitliche Verdunkelung der Sonne angekündigt: „Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand, und der ganze Mond wurde wie Blut“ (s. zu diesem von David Kiltz identifizierten Intertext ausführlicher TUK, Nr. 124); allgemeiner vgl. a. Markus 13:24: „Aber in jenen Tagen, nach der großen Not, wird sich die Sonne verfinstern und der Mond wird nicht mehr scheinen“ ( Thyen 2000, 238 f. ; TUK, Nr. 406). Entsprechende Vorstellungen begegnen schon in der alttestamentlichen Apokalyptik: Das Bild des in ein Trauergewand gehüllten Himmels findet sich bereits in Jesaja 50:3 („Ich kleide den Himmel in Schwarz und hülle ihn in ein Trauergewand“; s. TUK, Nr. 124), und die Verdunkelung der zentralen Himmelskörper Sonne und Mond (zu letzterem s. im Koran 75:8: wa-ḫasafa l-qamar) wird in Ezechiel 32:7 („Die Sonne decke ich zu mit Wolken, der Mond lässt sein Licht nicht mehr leuchten“; s. Bell, Commentary, zu 75:8 ; s. TUK, Nr. 151) und Jesaja 13:10 („Die Sterne und Sternbilder am Himmel lassen ihr Licht nicht mehr leuchten. Die Sonne ist dunkel, schon wenn sie aufgeht, der Mond lässt sein Licht nicht mehr scheinen“) vorhergesagt (vgl. a. Joel 3:4: „Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut“). Dass derartige Vorstellungen noch im syrischen Christentum um 500 zirkulierten und den koranischen Hörern folglich durchaus vertraut gewesen sein könnten, belegt ein von Yousef Kouriyhe ausfindig gemachtes Gedicht Jakobs von Sarūg (um 421–521): „Die Tiefe leert sich, die Höhe wird dunkel und die Sonne erlischt. Der Mond verfinstert sich, das Licht vergeht und so endet alles, was es gibt.“ ( Bedjan 1910, 853 f. , Übersetzung David Kiltz; vgl. ausführlich TUK, Nr. 533; s. a. das Zitat am Ende der Anmerkung zum folgenden Vers.)
wa-ʾiḏă n-nuǧūmu nkadarat] Vgl. 77:8 (fa-ʾiḏă n-nuǧūmu ṭumisat) und 82:2 (wa-ʾiḏă l-kawākibu ntaṯarat). Inkadara lässt sich rein morphologisch entweder von kadura bzw. kadira, „trübe werden“ oder von kadara, „etw. herabstürzen“ ableiten; wirklich bezeugt ist inkadara aber offenbar nur im Sinne von „herabstürzen“ (vgl. WKAS, s. v. k-d-r ), und dies ist auch die in der islamischen Exegese gängige Interpretation (vgl. Ṭabarī und Zamaḥšarī, ad loc. ). Ṭabarī stellt diese Deutung mit Traditionen zusammen, die inkadarat mit tanāṯara bzw. intaṯara („sich zerstreuen“) umschreiben, doch sind diese wohl vor allem vom Wortlaut von 82:2 (wa-ʾiḏă l-kawākibu ntaṯarat) inspiriert ( Ṭabarī, ad loc., Nr. 36411 ff. ). Für die von Bell ( Commentary, ad loc. ) und in Parets Übersetzung vorgeschlagene Alternative „to be turbid, muddied“ bzw. „trübe werden“, die inkadara als Ableitung von kadura = „getrübt werden“ auffasst, spricht immerhin, dass V. 2 mit V. 1 zusammengehört, wo von der Verdunklung der Sonne die Rede ist; es liegt insofern nahe, auch V. 2 auf eine Verdunklung, nämlich der Gestirne, zu beziehen. Allerdings besteht hier die Gefahr, dass Symmetrieerwägungen zur Annahme einer in den Lexika sonst nicht bezeugten Bedeutung verleiten. Die significatio difficilior ist sicherlich „herabstürzen“; sie wird überdies durch die Offenbarung des Johannes 6:13 nahegelegt, wo ebenfalls vom Herabstürzen der Sterne die Rede ist: „Die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt“ (s. Andrae 1926, 65 , sowie TUK, Nr. 278). Vgl. a. Markus 13:25 (TUK, Nr. 500): „Die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden.“ Wie bei der Verfinsterung der Sonne handelt es sich auch dabei um eine Vorstellung die noch im syrischen Christentum des sechsten Jahrhunderts lebendig war, vgl. wiederum einen von Yousef Kouriyhe identifizierten Passus aus einer Gerichtsbeschreibung Jakobs von Sarūg: „Die Sonne verfinstert sich, der Mond wird dunkel und die Sterne stürzen nieder. Alle Mächte der Höhe erzittern vor seiner Herrlichkeit, alle leuchtenden (Sterne) verlassen ihre Bahnen und sein Glanz allein erstrahlt über die gesamte Schöpfung.“ ( Bedjan 1905, 713 f. ; Übersetzung David Kiltz; vgl. ausführlicher TUK, Nr. 534.)
wa-ʾiḏă l-ǧibālu suyyirat] Zur Verbindung von Bergen mit sayyara bzw. sāra vgl. frühmekkanisch noch 78:20 (wa-suyyirati l-ǧibālu fa-kānat sarābā) und 52:10 (wa-tasīru l-ǧibālu sairā), mittelmekkanisch s. a. 18:47 (wa-yauma nusayyiru l-ǧibāla). Eine endzeitliche Desintegration insbesondere von Bergformationen wird frühmekkanisch sonst noch in 70:9 (wa-takūnu l-ǧibālu ka-l-ʿihn) und 101:5 (wa-takūnu l-ǧibālu ka-l-ʿihni l-manfūš) sowie in 56:5 (wa-bussati l-ǧibālu bassā), 69:14, 73:14 und 77:10 evoziert. Die eschatologische Zerstörung der Berge ist ein etabliertes Motiv biblischer und nachbiblischer Gerichtsbeschreibungen: Speziell eine „Verrückung“ der Berge wird in der Johannesapokalypse erwähnt (6:14 = TUK, Nr. 125; vgl. a. Offenbarung des Johannes 16:20; s. dazu Brady 1978 ): „alle Berge und Inseln wurden von ihrer Stelle weggerückt (ἐκινήθησαν = suyyirat)“. Auch in späterer Zeit gehört die Desintegration der Berge zum Standardinventar eschatologischer Schilderungen, vgl. nur den folgenden Passus aus dem bereits in der Anmerkung zu V. 1 zitierten Gedicht Jakobs von Sarūg: „Wundersam ist es zu sagen, wie durch eine Stimme die Erde bebt, die Steine zerspringen, die Berge fallen und die Welt sich neigt.“ Die prominente Rolle, die Berge in koranischen Endzeitbeschreibungen einnehmen, hängt dabei sicher auch damit zusammen, dass sie zugleich als exemplarische Garanten der Stabilität des durch Gott eingerichteten Kosmos fungieren (s. 78:6–8: ʾa-lam naǧʿali l-ʾarḍa mihādā / wa-l-ǧibāla ʾautādā / wa-ḫalaqnākum ʾazwāǧā; vgl. a. 79:32, 88:19) ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 295 ). Die Wertung von Bergen als Repräsentanten von Festigkeit und Unvergänglichkeit ist dabei auch altarabisch bezeugt, etwa in einem Trauergedicht Labīds (tabqă l-ǧibālu baʿdanā wa-l-maṣāniʿu, s. Jones 1982, 81 ).
Textkritik: Vgl. die Anmerkung zu 78:20 zu einer von Christoph Luxenberg vorgeschlagenen Emendation.
al-ʿišār] Wörtlich: „Zehner“, d. h. im zehnten Monat trächtige Kamelstuten.
wa-ʾiḏă l-biḥāru suǧǧirat] Vgl. 82:3 (wa-ʾiḏă l-biḥāru fuǧǧirat) sowie 52:6 (wa-l-baḥri l-masǧūr). Saǧǧara bedeutet wie saǧara (im I. Stamm) „(an-, auf-)füllen“ ( Lane, Bd. 4, 1308b ; vgl. Lisān, s. v. s-ǧ-r : saǧarahū / saǧǧarahū = malaʾahū; s. neben dem bereits zitierten Vers 52:6 auch 40:72: ṯumma fĭ n-nāri yusǧarūn). Dass unmittelbar vor dem Weltende „die Meere toben“, lehrt auch ein eschatologisches Gedicht Jakobs von Sarūg ( Bedjan 1910, 854 ; zu diesem von Yousef Kouriyhe identifizierten Intertext, der zahlreiche weitere Überschneidungen mit der koranischen Eschatologie aufweist, vgl. ausführlicher TUK, Nr. 533).
Textkritik: Rückert stellt in seiner Übersetzung V. 6 hinter V. 3, wodurch sich die ersten sechs Verse in drei Paare gliedern würden: V. 1.2 Gestirne, V. 3.6 Berge und Meere, V. 4.5 Tiere (vgl. Neuwirth, Studien, 221 ). Wie bei der Frage nach der Bedeutung von inkadara (s. o., V. 2) besteht allerdings auch hier die Gefahr, dass eine textkritische Entscheidung lediglich auf Symmetrieerwägungen gegründet wird. Die lectio difficilior bestünde sicherlich darin, V. 6 an seinem gegenwärtigen Ort zu belassen.
wa-ʾiḏă n-nufūsu zuwwiǧat] In der islamischen Tradition wird der Vers sowohl auf die Anordnung der Auferweckten in Gruppen (u. a. nach ihrem moralischen Verdienst) als auch auf die erneute „Paarung“ von Seele und Leib bezogen (vgl. Ṭabarī, ad loc. ). Wahrscheinlicher ist dabei die zweite Alternative (die auch Bell, Commentary, ad loc. , favorisiert), denn eine Einteilung der Auferweckten in Paare ist etwas anderes als ihre Unterteilung in moralische Klassen. In dieselbe Richtung weist auch ein Vergleich der Passage mit der eng verwandten ʾiḏā-Serie in Q 82: Zwischen der Desintegration der natürlichen Weltordnung (V. 1–3) und der Rechenschaftsablegung vor dem Jüngsten Gericht (82:5) steht dort die Auferweckung selbst (V. 4: „wenn die Gräber aufgerissen werden“). Betrachtet man 81:7 als analog zu 82:4, so wäre auch 81:7 auf die Auferweckung (und nicht auf den eigentlichen Gerichtsvorgang) zu beziehen, was ebenfalls für eine „Paarung“ von Seele und Leib spricht. Zudem ist die Einteilung der Auferweckten in moralische Verdienstgruppen ja erst eine Konsequenz des Gerichts; interpretierte man den Vers in diesem Sinne, so stünde er folglich im Gesamtablauf zu früh.
wa-ʾiḏă l-mauʾūdatu suʾilat / bi-ʾayyi ḏambin qutilat] Zur hier vorausgesetzten Praxis der Kindstötung durch Verscharren s. jetzt D. L. Bowen, „Infanticide“, EQ , mit weiteren Literaturangaben. Paret hat sicher recht, wenn er gegen Rivlins Deutung des waʾd als Abtreibung die beiden Verse 16:58.59 anführt, wo der waʾd erst im Anschluss an die Feststellung des Geschlechts des Neugeborenen stattfindet ( Rivlin 1934, 34 f. ; Paret, Kommentar, ad loc. ). Obwohl der Vers in erster Linie auf den altarabischen Kontext der Korangenese Bezug zu nehmen scheint, merkt Andrae an: „Auch in der jüdisch-christlichen Eschatologie wird oft behauptet, dass die unschuldigen Wesen, die vergewaltigt worden sind, im Gericht auferstehen werden, um wider ihre Bedrücker Klage zu erheben. Die Seelen der Tiere, die der Mensch gequält hat, werden gegen ihn zeugen am Tage des Gerichts (Hen. 58: 6). Ebenso die unehelichen Kinder gegen ihre Eltern (Weish. 4: 6). Die Toten, denen man kein Begräbnis gegönnt hat, werden auferstehen und vorwurfsvoll auf die Lieblosen blicken (Epist. Apost., SCHMIDT, 107).“ ( Andrae 1926, 66 ).
wa-ʾiḏă ṣ-ṣuḥufu nušširat] Derselbe Ausdruck suḥuf begegnet frühmekkanisch auch für die prophetischen Botschaften früherer Gesandter (zur koranischen Verwendung und zur Etymologie s. die Anmerkung zu 87:18.19). Bei den am Jüngsten Tag aufgeschlagenen Schriften handelt es sich wohl um die Tatenregister der Gerichteten, welche diese in die Hand bekommen bzw. vorzulesen haben, s. frühmekkanisch 84:7–12 und 69:19–29 mit Anmerkungen. Der vorliegende Vers erinnert frappierend an die Offenbarung des Johannes 20:12 (vgl. Brady 1978 ), wo es im Kontext einer Beschreibung der Vorbereitungen für das Jüngste Gericht heißt: „Und Bücher wurden aufgeschlagen, καὶ βιβλία (= ṣuḥuf) ἠνοίχθησαν (= nušširat); auch das Buch des Lebens wurde aufgeschlagen. Die Toten wurden nach ihren Werken gerichtet, nach dem, was in den Büchern aufgeschrieben war.“ (TUK, Nr. 130) Zur Anfertigung der beim Jüngsten Gericht verwendeten Tatenregister durch Wächterengel s. 82:10–12 mit Anmerkung.
wa-ʾiḏă s-samāʾu kušiṭat] Vgl. 84:1 (ʾiḏă s-samāʾu nšaqqat), 82:1 (ʾiḏă s-samāʾu nfaṭarat), 78:19 (wa-futiḥati s-samāʾu fa-kānat ʾabwābā) sowie 77:9 (wa-ʾiḏă s-samāʾu furiǧat), 73:18 (as-samāʾu munfaṭirun bihī kāna waʿduhū mafʿūlā), 70:8 (yauma takūnu s-samāʾu ka-l-muhl), 69:16 (wa-nšaqqati s-samāʾu fa-hiya yaumaʾiḏin wāhiyah), 55:37 (fa-ʾiḏă nšaqqati s-samāʾu fa-kānat wardatan ka-d-dihān), 52:9 (yauma tamūru s-samāʾu maurā).
al-ǧaḥīm] Vgl. die Anmerkung zu 102:6.
wa-ʾiḏă l-ǧannatu ʾuzlifat] Vgl. insbesondere den mittelmekkanischen Vers 50:31 (wa-ʾuzlifati l-ǧannatu li-l-muttaqīna ġaira baʿīd). Arabisch ǧanna ist eine alte Entlehnung aus aramäisch gantā (vgl. Nöldeke 1910, 42 ) und erscheint bereits in der vorkoranischen Dichtung im allgemeinen Sinne von „Garten“ ( Horovitz 1923, 60 f. ). Da die eschatologische Bedeutung „Paradies“ in der Dichtung nur in einigen wenigen Versen von fragwürdiger Authentizität belegt ist, könnte sie eine koranische Innovation darstellen. Sie ist wohl dadurch motiviert, dass das urzeitliche Paradies in der Bibel ebenfalls als „Garten“ (hebr. hag-gan bzw. gintā in den Targumim) bezeichnet wird. Obwohl diese Bezeichnung – anders als das koranische al-ǧanna – weder in jüdischen noch in christlichen Kontexten einen eschatologischen Sinn zu haben scheint (vgl. Künstlinger 1931, 618 ), könnte der Koran doch von einer Identität des urzeitlichen Gartens mit dem jenseitigen Paradies ausgehen (s. u.).
Chronologisch tritt ǧanna bzw. al-ǧanna als Bezeichnung des eschatologischen Paradieses im Koran ab Gruppe II der frühmekkanischen Texte auf, vgl. neben dem vorliegenden Vers noch 88:10 (fī ǧannatin ʿāliyah); 85:11 (ʾinna llaḏīna ʾāmanū wa-ʿamilŭ ṣ-ṣāliḥāti lahum ǧannātun taǧrī min taḥtihă l-ʾanhāru ḏālika l-fauzu l-kabīr) hingegen ist ein späterer Zusatz. Zahlreiche Vorkommnisse finden sich dann in den Gruppen IIIa und b, wobei auch der Plural ǧannāt erscheint, in Sure 55 sogar der Dual; s. im Einzelnen die folgenden Stellen: 79:41 (fa-ʾinna l-ǧannata hiya l-maʾwā), 78:16 (wa-ǧannātin ʾalfāfā), 74:40 (fī ǧannātin yatasāʾalūn), 70:35 (ʾulāʾika fī ǧannātin mukramūn), 70:38 (ʾa-yaṭmaʿu kullu mriʾin minhum ʾan yudḫala ǧannata naʿīm), 69:22, 68:17, 68:34 (ʾinna li-l-muttaqīna ʿinda rabbihim ǧannati n-naʿīm), 56:12 (fī ǧannāti n-naʿīm), 56:89 (fa-rauḥun wa-raiḥānun wa-ǧannatu naʿīm), 55:46.54.62, 53:15, 52:17 (ʾinna l-muttaqīna fī ǧannātin wa-naʿīm) und 51:15. Die an vier Stellen zu findende Genitivverbindung ǧannat (bzw. ǧannāt) an-naʿīm (in 70:38, 68:34, 56:12.89, 52:17) entspricht dem hebräischen גן עדן, „Garten der Wonne“ (s. Jeffery, Foreign Vocabulary, 212 f. ); zu dem Ausdruck naʿīm – der in 83:22.24 und 82:13 ohne vorangehendes ǧanna erscheint – vgl. die Anmerkung zu 83:22. Die Umschreibung von גן עדן mit ǧannat an-naʿīm erinnert an die Septuaginta, welche die hebräische Wendung mit παράδεισος τῆς τρυφῆς übersetzt ( Künstlinger 1931, 619 ). Noch deutlicher ist hebr. גן עדן dann in dem ab der mittelmekkanischen Periode in Erscheinung tretenden Begriff ǧannāt ʿadn reflektiert (vgl. etwa 38:50 und 20:76). Auffälligerweise wird diese Bezeichnung gerade nicht für den urzeitlichen Garten Eden verwendet wird, sondern nur für das eschatologische Paradies (vgl. Horovitz 1923, 61 ), doch ist nicht auszuschließen, dass das urzeitliche und das jenseitige Paradies letztlich als identisch gedacht werden ( Andrae 1926, 80 f. ), zumal der Koran beide als „hochgelegen“ beschreibt (zur Lage des jenseitigen Paradieses vgl. 88:10 und 69:22: fī ǧannatin ʿāliya, zum urzeitlichen Garten Eden s. 7:24 sowie 2:36.38, wo Adam und Eva mit dem Befehl „Steigt hinab!“ des Paradieses verwiesen werden).
ʿalimat nafsun mā ʾaḥḍarat] Vgl. den ebenfalls mit ʿalimat nafsun mā beginnenden Vers 82:5 (ʿalimat nafsun mā qaddamat wa-ʾaḫḫarat), der wie 81:14 als Apodosis einer ähnlichen ʾiḏā-Serie steht. Zwischen Q 81 und 82 bestehen auch sonst zahlreiche Entsprechungen (s. o.). Zu qaddama vgl. die Anmerkung zu 82:5.
Der Abschnitt ist vom Aufbau her insbesondere mit 86:11–14 (ebenfalls Gruppe II) zu vergleichen: Beide Passagen werden von einem im Sureninnern stehenden Schwur eröffnet, der u. a. den Himmel (86:11: wa-s-samāʾi ḏāti r-raǧʿ) bzw. die am Nachthimmel sichtbaren Planeten (81:15.16; zur Deutung s. u.) nennt, worauf mit einem ‚frei schwebenden’, d. h. kein Antezedens aufnehmenden Personalpronomen (s. u. die Anm. zu V. 19) gebildete Qualifikationen von Muḥammads Verkündigungen folgen (vgl. 86:13.14: ʾinnahū la-qaulun faṣl / wa-mā huwa bi-l-hazl mit 81:19 ff.). Auf Schwurserien im Sureninnern (s. allg. die Anm. zu 86:11.12) folgen auch sonst Offenbarungsbestätigungen, vgl. 69:38 ff. und 56:75–80; vgl. den Kommentar weiter unten sowie den Kommentar zu Q 86. Zu grundsätzlichen Hinweisen zu den koranischen Schwüren sowie ihrer wahrscheinlichen, aber bis dato noch nicht hinreichend untersuchten Anlehnung an ein charakteristisches Ausdrucksmittel altarabischer Seher (kuhhān) s. die Anmerkung zu 100:1–5; zu Aufbau und Funktion des hier vorliegenden Schwurtypus s. die Anmerkung zu 93:1.2 mit zahlreichen Parallelstellen.
fa-lā ʾuqsimu] Vgl. noch 90:1, 84:16, 75:1, 70:40 und 69:38. Bergsträßer hat sicher recht mit der Feststellung, dass an allen Stellen mit lā ʾuqsimu „jede Spur negativen Sinnes fehlt“, lā hier also nicht den Sinn einer Negation haben kann, sondern – wie auch kallā – der Bekräftigung dient. Zur Erläuterung dieser affirmativen Verwendung der Verneinung verweist Bergsträßer auch auf 4:65, wo ebenfalls vor einer Schwurformel fa-lā gebraucht wird (fa-lā wa-rabbika lā yuʾminūna ...): „[H]ier hat sich lā, das ursprünglich eine Vorausnahme der Negation des folgenden Satzes war, sekundär mit der Schwurformel zu einer einfachen Beteuerung verschmolzen, die schließlich sogar vor affirmativen Sätzen verwendet wurde.“ Als deutsches Analogon weist Bergsträßer auf die Verwendung der Verneinung in Sätzen wie „Nein, was ist er für ein kluger Mensch!“ hin ( Bergsträßer 1914, 58 f., Anm. 2 ).
al-ḫunnas / al-ǧawāri l-kunnas] Metonymische Umschreibungen des Gemeinten durch hervorstechende Attribute sind ein in der altarabischen Dichtung häufig eingesetztes Stilmittel (vgl. Bauer 1992, 172–180 ). In der islamischen Kommentarliteratur werden die beiden Verse u. a. auf Antilopen (baqar al-waḥš; vgl. z. B. Ṭabarī, ad loc., Nr. 36488 ff. ) bezogen, doch ist angesichts der prominenten Position, die Gestirne auch in anderen koranischen Schwurpassagen einnehmen, die gleichfalls in der islamischen Exegese zu findende Deutung als Planeten wahrscheinlicher. Kunitsch („Planets and Stars“, EQ) weist darauf hin, dass V. 15.16 die drei wesentlichen beobachtbaren Eigenschaften von Planeten nennen: ihre scheinbare Rückwärtsbewegung in den Monaten ihrer Opposition zur Sonne, ihre Ortsveränderung im Verhältnis zu den Fixsternen sowie ihre Unsichtbarkeit, wenn sie von der Erde aus in Sonnennähe stehen. Die Planetenhypothese ergibt zudem einen kontrastierenden Bezug insb. zu V. 1.2 und passt besser zur unmittelbar folgenden Erwähnung von Nacht und Morgen (V. 17.18); a. die Analogie zu 86:11–14 (s. o. die Anmerkung zu V. 15–28) legt nahe, dass V. 15.16 auf ein Himmelsphänomen zu beziehen sind. Die Assoziation von V. 15.16 mit Wildtieren erklärt sich wohl aus der Tatsache, dass kanasa (V. 16) primär mit Antilopen bzw. Gazellen Verbindung gebracht wird, vgl. WKAS, s. v. k-n-s , sowie Lane, Bd. 7, 2633a : „He (an antelope) entered his kinās, i. e., his covert, or hiding-place, among trees; or abode; or cave“ (Hervorhebungen im Original). Zweifellos kann das Verb jedoch auch in übertragenem Sinne verwendet werden.
wa-l-laili ʾiḏā ʿasʿas / wa-ṣ-ṣubḥi ʾiḏā tanaffas] Vgl. insb. 74:33.34, wo ebenfalls die Nacht und der Tag erscheinen, allerdings in Verbindung mit anderen Verben (wa-l-laili ʾiḏ ʾadbar / wa-ṣubḥi ʾiḏā ʾasfar), und ähnlich 91:3.4 (wa-n-nahāri ʾiḏā ǧallāhā / wa-l-laili ʾiḏā yaġšāhā) sowie 92:1.2 (wa-l-laili ʾiḏā yaġšā / wa-n-nahāri ʾiḏā taǧallā). Schwüre bei der Nacht allein stehen noch in 84:17, 89:4 und 93:2 (vgl. dazu allg. Neuwirth, „Horizont“ ). ʿAsʿasa wird in den Kommentaren mit „weichen“ (ʾadbara) oder „hereinbrechen“ o. Ä. (ʾaqbala bzw. ġašiya n-nās, „die Menschen bedecken“) paraphrasiert ( Ṭabarī, ad loc., Nr. 3602 ff. ). Beide Alternativen lassen sich durch koranische Parallelstellen stützen, die vielleicht auch die von Ṭabarī referierten Glossen inspiriert haben: Adbara steht in 74:33, ġašiya in 92:1. Beide Bedeutungen finden sich, z. T. gestützt durch Dichtungsverse, in den Lexika (vgl. Lisān, s. v. ʿ-s-s ). Die Grundbedeutung von ʿasʿasa ist aber offenbar „umherstreifen“ o. Ä. (ebd.: ʿasʿasa ḏ-ḏiʾb = ṭāfa bi-l-lail). Dazu passt, dass das wurzelidentische ʿassa „bei Nacht patrouillieren, die Runde machen, umhergehen“ bedeutet ( Lane, Bd. 5, 2039c f. ). Trotz der schwer hinsichtlich ihrer Echtheit zu beurteilenden Dichtungsbelege ist die Alternative „anbrechen“ vs. „weichen“ also vielleicht nur sekundär in die Stelle importiert; in diesem Sinne wurde oben mit „die Runde machen“ übersetzt. Angesichts der folgenden Offenbarungsbestätigung sind V. 17.18 am ehesten auf eine bis zum Anbruch des Morgens dauernde Vigilie zu beziehen.
ʾinnahū la-qaulu rasūlin karīm] Zu dem ‚frei schwebenden’, d. h. kein Antezedens aufnehmenden Personalpronomen, mit dem das koranische Offenbarungsgeschehen in V. 19 (Gesätz 5) und V. 25.27 (Gesätz 7) bezeichnet wird, vgl. den Kommentar zu 87:18.19 und 97:1. S. a. die Anmerkung zu V. 15–28 weiter oben. – Vers 19 stimmt wörtlich mit Q 69:40 überein. Gleichwohl müssen die mit dem „edlen Gesandten“ (rasūl karīm) jeweils gemeinten Gestalten nicht schon deshalb auch identisch sein. Die in 81:20.21 gegebene nähere Charakterisierung des „edlen Gesandten“ passt allein auf ein in der himmlischen Hierarchie hochstehendes Engelwesen, dem andere Engel zu Gehorsam verpflichtet sind (V. 21). Muḥammad selbst wird erst in V. 22 als „euer Landsmann“ (ṣāḥibukum) eingeführt. In Q 69:40.41 steht die Behauptung, der Text sei „das Wort eines edlen Gesandten“, jedoch im Gegensatz zu dem Vorwurf, die Korantexte seien „das Wort eines Dichters“; es ist von daher zu erwägen, ob der „edle Gesandte“ hier nicht Muḥammad selbst ist (vgl. a. 44:17, wo Mose als rasūl karīm bezeichnet wird). Andererseits spricht die Identität von 81:19 und 69:40 dafür, auch die letztere Stelle auf einen Engel zu beziehen, denn das Verständnis des späteren Passus 69:40 (Gruppe IIIb) dürfte durch das der früheren Stelle 81:19 konditioniert gewesen sein (s. die Anmerkung zu 69:40). – Obwohl die Anwendung des Wortes rasūl auf menschliche Warnerfiguren im Koran der Normalfall ist, wird der Ausdruck auch anderswo gelegentlich auf Engel angewandt (7:37, 35:1; beide spätmekkanisch) – er fungiert also nicht nur als Pendant zu griechisch apostolos, sondern auch zu angelos. Dabei dürfte es sich allerdings nicht um eine terminologische Verschiebung mit diachronen Implikationen handeln, sondern um eine durch die Grundbedeutung des Wortes gedeckte und deshalb jederzeit gegebene Verwendungsmöglichkeit: Gott bedient sich eben sowohl menschlicher als auch übermenschlicher „Gesandter“. Zur Wurzel r-s-l (ʾarsala, rasūl) s. die Anmerkungen zu 91:13 und 77:1.
ḏī quwwatin ʿinda ḏĭ l-ʿarši makīn] Vgl. die den etwas späteren Visionsbericht 53:5.6 (ʿallamahū šadīdu l-quwā / ḏū mirratin ...), der ebenfalls die göttliche „Kraft“ (quwwa) hervorhebt.
wa-mā ṣāḥibukum bi-maǧnūn] Vgl. 68:2 (mā ʾanta bi-niʿmati rabbika bi-maǧnūn), 68:51 (wa-ʾin yakādu llaḏīna kafarū la-yuzliqūnaka bi-ʾabṣārihim lammā samiʿu ḏ-ḏikra wa-yaqūlūna ʾinnahū la-maǧnūn) sowie 52:29.30 (fa-ḏakkir fa-mā ʾanta bi-niʿmati rabbika bi-kāhinin wa-lā maǧnūn / ʾam yaqūlūna šāʿirun natarabbaṣu bihī raiba l-manūn). Angesichts der von dieser letzten Stelle und auch von dem etwas späteren Vers 37:36 (wa-yaqūlūna ʾa-ʾinnā la-tārikū ʾālihatinā li-šāʿirin maǧnūn) implizierten Assoziation der Qualifikationen maǧnūn und šāʿir liegt es nahe, maǧnūn nicht einfach als Anspielung auf einen allgemeinen Vorwurf der Unzurechnungsfähigkeit bzw. ‘Verrücktheit’ zu lesen, sondern speziell als Anspielung auf die – traditionell mit Dschinnen in Verbindung gebrachten – Dichter. (Zu dem in koranischer Zeit vielleicht schon nicht mehr wörtlich geglaubten Topos einer Inspiration der Dichter durch Dämonen vgl. Goldziher 1896 ; s. a. Bauer 2010 , der die Verbindung von Dichtern und Dschinnen als überschätzt kritisiert.) Für diese Deutung spricht auch, dass in 69:40.41 (ʾinnahū la-qaulu rasūlin karīm / wa-mā huwa bi-qauli šāʿirin qalīlan mā tuʾminūn) eine wörtlich mit V. 19 identische Aussage von einem Vers gefolgt wird, der ausdrücklich bestreitet, die koranischen Verkündigungen seien „Rede eines Dichters“. Derartige Überschneidungen legen es nahe, alle drei genannten Stellen miteinander in Verbindung zu bringen. Der Vorwurf, der Verkünder sei ein bloßer Dichter, ist dabei ein Topos der früh- und mittelmekkanischen Korantexte, vgl. noch 52:30 (Mekka I) und 21:5 sowie 36:69 (beide Mekka II).
wa-la-qad raʾāhu bi-l-ʾufuqi l-mubīn] Die Lokalisierung der Vision am „klaren Horizont“ wird in der späteren Sure 53:7 wieder aufgenommen. – Der vorliegende Vers macht deutlich, dass mubīn, formal ein Partizip Aktiv des häufig kausalen vierten Stammes, nicht „klar machend“, sondern „klar“ bedeutet; der Ausdruck steht später häufig in koranischen Selbstbeschreibungen wie kitāb mubīn o. Ä.
wa-mā huwa ʿală l-ġaibi bi-ḍanīn] Ibn Kaṯīr und Abū ʿAmr lesen ẓanīn, „verdächtig“, wohl im Sinne von „er steht nicht unter Verdacht, über das Verborgene Lügen zu verkünden“ ( Muʿǧam, ad loc. ; vgl. Lane, Bd. 5, 1925b : „And he is not suspected as to what he makes known from God, of the knowledge of that which is undiscoverable“). Doch ergibt die Mehrheitslesung ḍanīn inhaltlich mehr Sinn: Muḥammads Verkündertätigkeit ist nicht durch Eigennutz oder Wichtigtuerei motiviert, so könnte man paraphrasieren, sondern lediglich dadurch, dass er die ihm zuteil gewordenen Offenbarungen ihren Adressaten nicht ‚geizig’ vorenthalten will. Bei der Mehrheitslesung fällt die Präposition ʿalā auf, an deren Stelle man eigentlich bi- erwarten würde. Sie ist vielleicht dadurch zu erklären, dass auf diese Weise ein zweimaliges Vorkommen von bi- direkt hintereinander vermieden wird. Die Verwendung von ʿalā anstelle von bi- könnte dann die Entstehung der Variante ẓanīn begünstigt haben.
Der in späteren Korantexten sehr häufige Ausdruck ġaib ist in frühmekkanischer Zeit noch selten, vgl. neben dem vorliegenden Vers, wo er erstmals auftritt, noch 68:47 = 52:41 (ʾam ʿindahumu l-ġaibu fa-hum yaktubūn) sowie 53:35 (ʾa-ʿindahū ʿilmu l-ġaibi fa-huwa yarā). Während es sich bei späteren Verwendungen häufig um hymnische Prädikationen handelt, die allgemein darauf insistieren, dass nur Gott allein um das „Verborgene“ wisse, geht es in diesen frühen Stellen speziell um den umstrittenen Offenbarungsanspruch Muḥammads, dem koranischer Aussage zufolge im Gegensatz zu seinen Widersachern Einblick in das „Verborgene“ zuteil geworden ist. Zum Gebrauch des Ausdrucks in der vorkoranischen und frühislamischen Dichtung s. Izutsu 1964, 84 .
wa-mā huwa bi-qauli šaiṭānin raǧīm] Vgl. 69:41.42 (wa-mā huwa bi-qauli šāʿirin qalīlan mā tuʾminūn / wa-lā bi-qauli kāhinin qalīlan mā taḏakkarūn) und 52:29.30 (fa-ḏakkir fa-mā ʾanta bi-niʿmati rabbika bi-kāhinin wa-lā maǧnūn / ʾam yaqūlūna šāʿirun natarabbaṣu bihī raiba l-manūn) sowie die Anmerkung zu V. 19. Nöldeke (1910, 47) führt die beiden Bestandteile der Wendung šaiṭān raǧīm auf altäthiopisch śaiṭān und rǝgum zurück. Rǝgum hat zwar auch im Altäthiopischen die Grundbedeutung „steinigen“, doch ist diese gänzlich durch die übertragene Bedeutung „verfluchen“ verdrängt worden. Der Ausdruck bezeichnet u. a. die Schlange in Genesis 3:14 und die Verdammten in Matthäus 25:41 (s. Jeffery, Foreign Vocabulary, 140 ). Nöldeke weist jedoch auch auf 67:5 hin, wo die Gestirne als ruǧūm, „Wurfgeschosse“, für die „Satane“ beschrieben werden. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass in den unteren Bereichen des Himmels befindliche Dämonen mit Sternschnuppen beworfen und vertrieben werden, sobald sie versuchen, die himmlische Ratsversammlung zu belauschen (vgl. etwa die mittelmekkanischen Stellen 37:6–9 und 15:16–18). Raǧama meint im gegenwärtigen Kontext deshalb wohl nicht „steinigen“ im Sinne einer Hinrichtungsart (zur Steinigung als Strafe für Gotteslästerung und Apostasie vgl. in der Bibel Exodus 8:26, Levitikus 24:10–23, Apostelgeschichte 7:54–60 sowie im Koran Q 18:20; Hinweis von Hannelies Koloska), sondern eher „durch Steinwürfe vertreiben“. Die koranischen Hörer könnten raǧīm also durchaus – im Sinne von arab. raǧama – als „steinigungswürdig, zu steinigen“ verstanden haben, so dass fraglich ist, ob eine Übersetzung einfach die äthiopische Etymologie zugrunde legen darf. Andererseits hat aber auch das im Altäthiopischen dem Satan beigelegte Attribut „verflucht“ (rǝgum) im Koran Spuren hinterlassen: In 15:35 und 38:77 (von Nöldeke als mittelmekkanisch eingeordnet) wird Iblīs von Gott aus dem Paradies ausgewiesen und dabei explizit mit einem „Fluch“ (laʿna) belegt, nachdem es zuvor hieß: fa-ʾinnaka raǧīm – versteht man beide göttliche Aussagen als sachlich gleichbedeutend, dann ergibt sich durchaus auch ein innerkoranisches Indiz dafür, dass raǧīm neben der innerarabisch durch seine Wurzel vermittelten Bedeutung „mit Steinwürfen vertrieben“ auch die Konnotation „verflucht“ beibehalten hat (dafür spricht auch die Verwendung von raǧīm in einem sehr wahrscheinlich authentischen Gedicht des Umayya b. abī ṣ-Ṣalt, s. TUK, Nr. 568). Gleichwohl bleibt auch in 15:35 und 38:77 eine Übersetzung von raǧīm mit „durch Steinwürfe vertrieben“ möglich. Letzten Endes schließen sich die beiden Bedeutungsalternativen nicht aus, sondern dürften sich durchaus überlagert haben – die Übersetzung „schmählich davongejagt“ versucht, dieser Tatsache Rechnung zu tragen.
Die Bezeichnung šaiṭān geht natürlich letzten Endes auf das biblische śāṭān zurück, doch bezeichnet das Wort an den obigen Koranstellen offensichtlich nicht eine einzelne Versucherfigur (diese nennt der Koran vielmehr Iblīs, wohl von gr. diabolos), sondern übernatürliche Wesen niederen Ranges, welche wohl mit den in V. 22 genannten Dschinnen identisch sind.
Abū Ǧaʿfar Yazīd b. al-Qaʿqāʿ setzt nach taḏhabūn keinen Versschluss ( Spitaler, Verszählung, 68 ). Reim, Syntax (V. 26.27 sind zwei selbständige Sätze) und Verslänge sprechen jedoch für die kufische Zählung ( Neuwirth, Studien, 31 ).
ʾin huwa ʾillā ḏikrun li-l-ʿālamīn] Zur frühmekkanischen Verwendung der Begriffe ḏikr, ḏikrā und taḏkira s. die Anmerkung zu 73:19 mit zahlreichen Verweisen. Zur Versstruktur (Bestimmung der koranischen Offenbarungen als Mahnung „für“, li- ...) vgl. den fast identischen Vers 68:52 (wa-mā huwa ʾillā ḏikrun li-l-ʿālamīn) sowie 69:48 (wa-ʾinnahū la-taḏkiratun li-l-muttaqīn), 56:73 (naḥnu ǧaʿalnāhā taḏkiratan wa-matāʿan li-l-muqwīn; bezieht sich auf das Feuerholz) und 74:31 (wa-mā hiya ʾillā ḏikrā li-l-bašar, gehört zu einem Einschub); s. a. die Anmerkung zum nächsten Vers. Zu ʿālamīn s. die Anmerkung zu 56:80. Zum Pronomen (huwa) vgl. die Anmerkung zu V. 19.
li-man šāʾa] Die Funktion der koranischen Offenbarungen als „Mahnung“ wird auch sonst vom Wollen der Angesprochenen abhängig gemacht, s. noch 80:11.12 (kallā ʾinnahā taḏkirah / fa-man šāʾa ḏakarah), 74:54.55 (kallā ʾinnahū taḏkirah / fa-man šāʾa ḏakarah) und 73:19 (ʾinna hāḏihī taḏkiratun fa-man šāʾa ttaḫaḏa ʾilā rabbihī sabīlā).
yastaqīm] Zur Übersetzung „auf geradem Weg wandeln“ vgl. insb. die mittelmekkanische Stelle 72:16: wa-ʾallawi staqāmū ʿală ṭ-ṭarīqati; vgl. Ambros, Dictionary, 232 .
ʾillā ʾan yašāʾa llāhu rabbu l-ʿālamīn] Zum Gottesnamen Allāh s. die Anmerkung zu 95:8, zur Gottesbezeichnung rabb al-ʿālamīn s. die Anmerkung zu 56:80.
Literaturliste
Die einleitende ʾiḏā-Serie besteht größtenteils aus thematisch zusammenhängenden Verspaaren: V. 1.2 (Gestirne), V. 4.5 (Tiere), V. 8.9 (das lebendig begrabene Mädchen), V. 10.11 (Gerichtsvorbereitungen), V. 12.13 (Vorbereitungen zur Vergeltung). Stellt man überdies V. 6 hinter V. 3, so ergibt sich ein weiteres Paar. V. 7 scheint isoliert zu stehen, doch da V. 8.9 eigentlich eine einzige inhaltliche und syntaktische Einheit darstellen, könnte man – ohne die traditionelle Versabteilung nach V. 8 in Frage zu stellen – erwägen, V. 7–9 als ‚Paar’ mit überlangem zweiten Glied zu werten. Tatsächlich stellt die Erweckung des lebendig verscharrten Mädchens (V. 8.9) ja einen Einzelfall der allgemeinen Wiederzusammenführung von Seelen und Körpern, wie sie in V. 7 beschrieben wird, dar. Die ʾiḏā-Serie bildet damit einen kontinuierlichen Durchgang durch den Kosmos, der mit den Himmelskörpern beginnt, dann über die natürliche Ausstattung der Welt (Berge und Meere) und über die Tierwelt (V. 4.5) hin zum Menschen führt (V. 7–9). Dieser muss sich vor dem göttlichen Gericht verantworten (V. 10.11) und seine Werke werden ihm schließlich in der Hölle oder im Himmel (V. 12.13) vergolten. Einleitende ʾiḏā-Serien mit einer ähnlichen Verengung des Fokus vom natürlichen Makrokosmos zum Mikrokosmos des moralischen Subjekts weisen auch Q 82 und 84 auf; auch in der kurzen eschatologischen Szenerie zu Beginn von Q 99 ist zunächst vom eschatologischen Zerfall der Naturordnung die Rede (V. 1.2) und dann von der menschlichen Reaktion hierauf (V. 3.).
Angesichts der Länge der den ersten Teil ausfüllenden ʾiḏā-Serie (13 Verse + Apodosis) empfiehlt es sich, diese in mehrere Gesätze zu unterteilen. Dabei bilden zunächst V. 1–6 einen inhaltlich eng zusammengehörigen Abschnitt. Unter verschiedenen Gesichtspunkten wird hier die Umkehrung und Zerschlagung der voreschatologischen Weltordnung durchkonjugiert. Die Sonne, eigentlich zur Erleuchtung der Welt bestimmt, verliert ihre Leuchtkraft, die Sterne stürzen herab (V. 1.2). Die Berge, die in koranischen ʾāyāt-Passagen als Garanten von Stabilität gewertet werden (s. Anm.), werden von ihrem Ort gerückt – ein im Koran häufiger eschatologischer Topos, der als Abbreviatur für den Zerfall der festen Strukturen des Kosmos überhaupt zu lesen ist. Auch die Meeresfluten verlassen den ihnen zugedachten Ort, indem sie über die Ufer treten (V. 3.6). Ein weiteres Paar fokussiert Szenen der beduinischen, also nicht-städtischen Lebenswelt, die jedoch in endzeitlicher Inversion präsentiert wird: Trächtige Kamelstuten, eigentlich der wertvollste Besitz des Beduinen, werden vernachlässigt (V. 4). Umgekehrt werden die eigentlich allein lebenden Wildtiere zu Herden zusammengetrieben (V. 5; vgl. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 304 ).
Das zweite Gesätz des ersten Surenteils besteht aus V. 7–9, die ein neues Stadium der eschatologischen Vorgänge skizzieren: Jetzt werden die zu richtenden Menschen vorgeladen (V. 7), die – wie am besonders skandalösen Fall des lebendig verscharrten Mädchens demonstriert wird – zugleich auch als Zeugen fungieren (V. 8.9). Die letzten beiden Verse mit dem Referat der an die „Verscharrte“ gerichteten Frage durchbrechen das sonst vorherrschende Listenschema mit jeweils einem eschatologischen Phänomen pro Vers und bilden damit einen ersten Klimax der ʾiḏā-Serie vor der abschließenden Apodosis in V. 14.
Das dritte Gesätz leitet zum Gericht und der anschließenden Bestrafung und Belohnung der Auferweckten über. Die eigentlichen Gerichtsprozeduren beginnen mit dem Entrollen der Tatenregister (V. 10) und dem Wegziehen des Himmels (V. 11); Höllenbrand und Paradies, die Instrumente der jenseitigen Bestrafung und Belohnung, stehen unmittelbar bereit (V. 12.13). Dramatischer Schlusspunkt der ʾiḏā-Serie ist der knappe Hauptsatz V. 14, der die – wohl als Resultat des Gerichtsprozederes gedachte – Einsicht der Auferweckten in ihre Verdienste und Verfehlungen ankündigt. An der ʾiḏā-Serie fällt neben ihrer streng anaphorischen Gestaltung vor allem auf, dass sie der apokalyptischen Tradition entlehnte Motive wie die Verdunkelung der Sonne, das Herabstürzen der Sterne, die Verrückung der Berge und die Entfaltung von Tatenregistern (s. Anmerkungen) mit Szenen von altarabischem Lokalbezug (V. 4: vernachlässigte Kamele, V. 8.9: verscharrtes Mädchen) verknüpft. Arabizität vermittelt auch die sprachliche Gestaltung der ʾiḏā-Serie mit nachgestelltem Verb, die poetischer Konvention folgt. Obwohl sich die Sure also in ihrer eschatologischen Kernaussage und Motivik offensichtlich in die Tradition biblischer Apokalyptik stellt, präsentiert sie sich doch zugleich als genuin arabische Ausdrucksform derselben.
Der zweite Surenteil ist eine polemische Auseinandersetzung mit der Unterstellung einer Dämonen-Inspiration nach Art der Dichter. Er antwortet damit sicherlich auf real gegen den Verkünder erhobene Vorwürfe: Weil die Gerichtsbotschaft früherer Korantexte offenbar eine polemische Debatte um die Person des Verkünders und die Modalität seines Offenbarungsempfangs ausgelöst hat, kann sie nicht einfach nur wiederholt und ausgestaltet werden, sondern bedarf einer starken Autorisierung. Typologisch stellt dieser zweite Teil eine Vorform der in mittel- und spätmekkanischen Zeit häufigen Ausleitung einer Sure durch eine Offenbarungsbestätigung dar. Auffällig ist die sorgfältige strukturelle Gestaltung von V. 15–28. Der Abschnitt besteht aus vier Gesätzen, von denen die beiden äußeren vierversig und die beiden inneren dreiversig sind. Die auf ein Visionserlebnis des Verkünders anspielenden Verse 22–24 stehen dabei parenthetisch zwischen zwei die koranischen Offenbarungen charakterisierenden Abschnitten, die in verschiedener Hinsicht miteinander korrespondieren: Der „mit Steinwürfen vertriebene“ Satan (šaiṭān raǧīm) aus V. 25 bildet das Gegenstück zum rasūl karīm aus V. 19 (vgl. Ahrens 1935, 41 ), und beide Gesätze nehmen mit ‚frei schwebenden’ Personalpronomen (-hū, huwa – „es“) auf das koranische Offenbarungsgeschehen Bezug (V. 19.25.27).
Eröffnet wird der zweite Teil durch ein Schwurgesätz (V. 15–18), das mit dem zyklischen Umlauf der Planeten (V. 15.16) und der Aufeinanderfolge von Nacht und Morgen (V. 17.18) die angesichts des im ersten Surenteil geschilderten Weltendes nur als vorläufig erscheinende Stabilität des Kosmos evoziert: „The cosmic cycle elicited in the oaths contrasts with the cosmic disintegration described in the prelude“ ( Robinson 2003, 131 ). Wie bereits in der ausgedehnten ʾiḏā-Serie des ersten Teils sticht dabei der Parallelismus der Schwurpassage hervor; und wie die ʾiḏā-Serie mit ihrer auf die Dichtung verweisenden Wortstellung (s. o.) weist auch der zweite Teil poetisierende Stilmittel auf, nämlich die metonymische Umschreibung der Schwurgegenstände in V. 15.16 (vgl. auch noch V. 20, wo Gott als ḏŭ l-ʿarš paraphrasiert wird).
Die als Schwuraussage stehende Offenbarungsbestätigung in V. 19 ff. bringt zunächst eine positive Qualifizierung der Botschaft, die mit dem auffälligen ‚schwebenden’ Personalpronomen -hū statt einer expliziten Bezeichnung eingeführt wird: Die Botschaft geht zurück auf einen „edlen Gesandten“. Dieser steht bei dem paraphrastisch als ḏŭ l-ʿarš (wiederum ein poetisches Stilmittel, das auch in der Visionsbeschreibung in Q 53 erscheint) umschriebenen himmlischen Herrscher hoch in Ehren. Damit wird die für den gesamten zweiten Teil zentrale Thematik der Herkunft der koranischen Offenbarungen eingeführt.
Mit der vorangehenden Beteuerung, Muḥammad habe die koranischen Verkündigungen von einem „edlen Gesandten“ empfangen, wendet sich der Text, wie die in V. 22 folgende Negativbestimmung deutlich macht, insbesondere gegen die Unterstellung, der Verkünder sei maǧnūn, d. h. seine Inspirationsquelle seien die traditionell mit Dichtern assoziierten Dschinne (s. oben die Anmerkung zu V. 22). Instruktiv ist ein Vergleich dieser Aussage mit dem etwas späteren Passus 37:36.37 (wa-yaqūlūna ʾa-ʾinnā la-tārikū ʾālihatinā li-šāʿirin maǧnūn / bal ǧāʾa bi-l-ḥaqqi wa-ṣaddaqa l-mursalīn). Dort steht der zurückgewiesene Vorwurf, der Verkünder sei ein „von Dschinnen besessener Dichter“, im Gegensatz zu der Bekräftigung, er habe „die Wahrheit gebracht“; die Dschinne erscheinen damit als unzuverlässige Inspirationsquelle, welche nicht die Richtigkeit der empfangenen Eingebungen zu garantieren vermag. In der vorliegenden Sure wird mit dem Hinweis auf eine Visionserfahrung des Verkünders (V. 23) – die angesichts von 53:10 sicherlich als mit einer Eingebung von Offenbarungstexten verbunden gedacht wird – die im vorherigen Gesätz angeschnittene Frage nach der Herkunft und Übermittlungsmodalität der koranischen Offenbarungen beantwortet. Es liegt nahe, als gemeinsamen Hintergrund von 37:36.37 und 81:22.23 eine polemische Debatte anzunehmen, die sich sowohl um die Herkunft und Rezeptionsweise als auch um die Zuverlässigkeit und inhaltliche Richtigkeit von sprachlich ‚dichten’ bzw. poetisch gestalteten Verlautbarungen drehte: Kann die offenbar von beiden Seiten der Debatte vorausgesetzte übernatürliche Herkunft solcher Texte auch einen Wahrheitsanspruch begründen? Dem vorliegenden Passus zufolge ist dies bei durch Dschinnen vermittelten Eingebungen nicht der Fall, bei den koranischen Offenbarungen aufgrund der ihnen eigentümlichen Herkunft und Übermittlungsmodalität jedoch sehr wohl.
Der letzte Vers des Gesätzes, der dem Verkünder Wissen um das „Verborgene“ (al-ġaib) zuschreibt, greift einen Ausdruck auf, der bereits in der vorkoranischen Dichtung die Rolle einer Abbreviatur für die Begrenztheit irdischen Wissens und Wahrnehmens spielt: Während alle anderen Menschen und Tiere davon ausgeschlossen sind, Einblick in das „Verborgene“ zu nehmen, kann der durch göttliche Offenbarungen privilegierte Verkünder generös darüber verfügen (wa-mā huwa ʿală l-ġaibi bi-ḍanīn).
An das den Vorwurf der Besessenheit abwehrende Gesätz 6 schließt der gleichfalls eine Negativcharakterisierung der koranischen Offenbarungen enthaltende Anfangsvers des Schlussgesätzes an (V. 25), dem ein ausdrücklich an die Hörer appellierender Zwischenruf (V. 26) folgt. Auch hier geht es offensichtlich darum zu etablieren, dass die koranischen Rezitationen ihrem Verkünder auf authorisierte, ihre Zuverlässigkeit verbürgende Weise zugehen, und nicht, wie man aus V. 25 in Verbindung mit weiteren Koranstellen (s. o.) herauslesen kann, durch als „Satane“ bezeichnete Dämonen, die versuchen, die himmlische Ratsversammlung zu belauschen und mit Steinwürfen davongejagt (raǧīm) werden. Wie mit dem Attribut maǧnūn aus V. 22 wird damit auf einen Kommunikationskanal zum Übernatürlichen angespielt, dem jedoch – anders als die Vermittlung der koranischen Verkündigungen durch einen hochgestellten, in der Gegenwart Gottes hochangesehenen Engel (V. 19–21) – Zuverlässigkeit und göttliche Autorisierung mangeln. Wahrscheinlich sind die hier erwähnten Satane als identisch mit den in V. 22 genannten Ǧinnen vorzustellen. V. 25 würde dann eine Erklärung der traditionell angenommenen Inspirationstätigkeit der Ǧinnen unter monotheistischen Vorzeichen liefern: Auch diese beziehen ihr Wissen letzten Endes vom göttlichen Hofstaat, den sie zu belauschen versuchen. Da sie jedoch mit Steinwürfen daran gehindert werden, ist das von ihnen vermittelte Wissen nur ein fragmentarisches und verzerrtes.
Die auf V. 19 zurückverweisende zweimalige Verwendung eines ‚frei schwebenden’ Personalpronomens (V. 25.27) erzeugt im Schlussgesätz einen merklichen Steigerungseffekt: Die Bestimmungen der koranischen Botschaften folgen jetzt dicht aufeinander, es entsteht der Eindruck eines finalen Crescendos, welches die einzigen direkten Anreden an die Hörer enthält (V. 26.28). Dabei werden die ‚logischen Vorzeichen’ der vorangehenden beiden Gesätze (V. 19–21 affirmativ, V. 22–24 negativ) chiastisch invertiert: Nach der Negativbestimmung V. 25 (mit paränetischem Zwischenruf in V. 26) folgt in V. 27.28 eine letzte Positivbestimmung. Während bisher Herkunft und Übermittlung der koranischen Rezitationen im Mittelpunkt standen, wird jetzt ihr kommunikatives Telos als „Mahnung für die Weltenbewohner“ (V. 27) festgehalten. Diese allgemeine Bestimmung wird in V. 28 sogleich auf die Hörer zugespitzt: „für den unter euch, der auf geradem Weg wandeln will“. Das abschließende Verspaar schreibt den Korantexten so eine immanente kerygmatische Ausrichtung zu. Es setzt damit den Appell in V. 26 fort und rechtfertigt zugleich nachträglich, warum Muḥammad diese Verkündigungen in der Tat nicht ‚geizig’ zurückhalten darf (vgl. V. 24).
An V. 27.28 knüpft der sekundäre Schlussvers terminologisch durch Aufnahme der Bezeichnung „Weltbewohner“ (ʿālamīn) aus V. 27 an: Zwar rufen die Korantexte als universale Mahnrede die „Weltbewohner“ auf, sich für das moralisch-religiöse ‚Geradlinige’ zu entscheiden (V. 28). Weil Gott jedoch der Herr dieser „Weltbewohner“ ist, hängt die menschliche Entscheidung für oder wider Muḥammads Verkündigungen von einem vorgängigen Wollen Gottes ab. Der moralische Appell von V. 27.28 wird so durch eine theologische Reflexionsfigur gebrochen.
Literaturliste
Die Sure (durchschnittliche Verslänge: 9 Silben) gehört stilistisch und vom Aufbau her zu Gruppe II der frühmekkanischen Suren. Besonders nahe steht sie den ebenfalls zu Gruppe II gehörenden Suren 82 und 84, die wie Q 81 von eschatologischen ʾiḏā-Serien eröffnet werden. Gestützt wird diese chronologische Platzierung auch dadurch, dass sich die Jenseitsbilder aus Q 81, 82 und 84 thematisch als Fortentwicklungen der zu Gruppe I zählenden kürzeren eschatologischen Bilder Q 99, 100 und 101 verstehen lassen; insbesondere zu Sure 99 mit ihrer ʾiḏā-Einleitung besteht eine offenkundige Kontinuität, wobei Q 81 auch wegen ihrer den ganzen zweiten Surenteil ausfüllenden Reflexionen über Herkunft und Autorität der koranischen Offenbarungen – der wiederum strukturelle Bezüge zu gleichfalls Gruppe II zuzuordnenden Sure 86 aufweist (s. die Anm. zu 81:15–28) – den Eindruck des späteren Textes macht (zur Beziehung von Q 81 und Q 99 s. a. den kursorischen Kommentar unten).
Sure 81 spielt in V. 19 ff. auf ein Visionserlebnis des Verkünders an und ist von daher mit der ausführlicheren Visionsschilderung in 53:1–18 (Gruppe IIIa) zu vergleichen. Richard Bell 1934 hat darauf aufmerksam gemacht, dass die in Q 53 beschriebene Vision Gott selbst zum Gegenstand hat (s. insb. 53:10), während Q 81 nur eine Engelsvision beschreibt (das Objektsuffix in 81:23 bezieht sich sicher auf den „edlen Gesandten“ aus V. 19 zurück). Er betrachtet Q 81 deshalb als den späteren Text und führt als zusätzliches Indiz für diese Datierung die Tatsache an, dass die Vorstellung, die koranischen Offenbarungen würden Muḥammad durch einen Engel übermittelt, erst medinensisch sei ( ebd., 97 ): „There is no doubt that in Medina Muhammad let it be understood that it was Gabriel who conveyed the revelations to him. But we are hardly justified in reading that back into the early Meccan period.“ Gegen die Annahme, bereits in Mekka habe ein Engel als Übermittler der Korantexte gegolten, spräche auch 6:8: „Und sie sagen: ‚Warum ist denn kein Engel auf ihn herabgesandt worden?’ Doch wenn wir einen Engel herabgesandt hätten, so wäre die Angelegenheit entschieden; es würde ihnen dann kein Aufschub gewährt“. Bell kommentiert diese Stelle ( ebd. ): „When the objection was raised that an angel should have been sent as a messenger, or that at least an angel should have been conjoined with him, his reply is, not that an angel is actually conveying the messages to him, but simply that [...] if an angel had been sent, that would have been the end of the matter, and there would have been no respite“. Auch Q 6:103 (spätmekkanisch), wo explizit bestritten wird, dass Gott „von den Blicken erreicht“ wird, wertet Bell als Indiz dafür, dass 81:19–24 die theologisch reflektiertere und somit jüngere Visionsbeschreibung sei. Er will jedoch nicht die gesamte Sure 81 nach Medina datieren, sondern nur einzelne Verse ( ebd., S. 97 f., Anm. 10 ): „Surah lxxxi:19–27 is probably composite, having been adapted to Muhammad’s later theory of how the revelation came to him by the addition vv. 20, 21, and perhaps 23, 24.“
V. 20.21.23.24 fallen jedoch weder stilistisch noch längenmäßig irgendwie aus dem Rahmen. Eine Ausscheidung der Verse aus rein inhaltlichen Gründen erscheint damit hochgradig arbiträr. Da Sure 81 in Gesätzzahl, Verszahl, Verslänge und in ihrer einleitenden ʾiḏā-Serie eng mit Q 82 und 84 verwandt ist, darf man sie auch nicht als ganze nach Medina setzen, wie es van Ess (1999, 50) vorschlägt. Wie sind dann aber die von Bell angeführten Stellen zu deuten? Zunächst einmal ist die Feststellung, erst in Medina habe ein Engel als Übermittler der koranischen Offenbarungen gegolten, durchaus fragwürdig: 26:193 (mittelmekkanisch) stellt fest, dass „der vertrauenswürdige Geist (ar-rūḥ al-ʾamīn) es herabgebracht hat“; und auch 16:2 und 40:15 (beide spätmekkanisch) sprechen davon, dass Gott den Geist herabkommen lässt (ʾalqā, nazzala) „auf wen unter seinen Dienern er will“. Es ist wenig überzeugend, diese Passagen allesamt als medinensisch auszusondern. Eine vorgefasste Theorie über die Eigentümlichkeit des koranischen Offenbarungsverständnisses in Medina würde dann zum Maßstab für folgenschwere literarkritische Entscheidungen. Der rūḥ dürfte folglich bereits in Mekka als Offenbarungsmittler gegolten haben, so dass die fraglichen Verse aus Q 81 gegen Bell auch mekkanisch sein können. Tatsächlich muss 6:8 nicht notwendigerweise im Widerspruch zu einer solchen Auffassung stehen: Die dort referierte Frage zielt ihrem Sinn nach auf eine öffentliche, Muḥammads Wahrhaftigkeit unwiderleglich untermauernde Engelserscheinung ab. In diesem dialektischen Kontext wäre der Verweis auf eine private Engelsvision kaum ein überzeugendes Argument gewesen.
Damit bleibt die Frage nach dem chronologischen Verhältnis von Q 81 und Q 53 insgesamt. Tatsächlich ist – gegen Bell und van Ess – die Reihenfolge (i) Bericht über eine Engelsvision (Q 81) – (ii) Bericht über eine Gottesvision (Q 53) durchaus vorstellbar: Die Tatsache, dass Q 81 im Gegensatz zu Q 53 eine Engels- und keine Gottesvision schildert, muss sich nicht unbedingt aus theologischen Reflexionen wie 6:103 („die Blicke erreichen ihn nicht“) erklären ¬bzw. dass eine Gottesvision in späteren Texten als problematisch gilt (vgl. a. 7:143, wo Mose eine solche verwehrt wird), impliziert nicht schon, dass Q 81 erst in einem solchen Kontext verkündet worden sein könnte. Für eine Priorität von Q 81 sprechen aber insbesondere stilistisch-formale Erwägungen (Vers- und Surenlänge, Aufbau), wie sie Bells chronologische Rekonstruktionen in der Regel ignorieren. Zudem erscheint die Visionsschilderung in Q 53 als die terminologisch entwickeltere: Während in 81:19–27 eine Beschreibung des Gehörten als waḥy noch fehlt und stattdessen von qaul und ḏikr die Rede ist, verwendet Q 53 gleich viermal den Ausdruck waḥy bzw. das zugehörige Verb ʾauḥā (53:4.10, je 2mal). Und schließlich stellt die zweite in Q 53 geschilderte Vision (V. 13–18) einen impliziten Bezug zur Berufung des Mose her (vgl. Q 53, Analyse), was ebenfalls für eine Späterdatierung von Q 53 spricht. Es ist deshalb anzunehmen, dass die Visionsschilderung in Q 53 eine spätere Radikalisierung von Q 81 darstellt, die dann jedoch aufgrund theologischer Bedenken keine weiteren Konsequenzen für die koranische Offenbarungslehre gehabt hat. S. zur Reihenfolge der beiden Suren auch Sinai 2011a .
Bells These, V. 20.21.23.24 seien als Einschub auszuscheiden, wurde bereits im letzten Abschnitt referiert. Da die Verse stilistisch und terminologisch durchaus nicht aus dem Rahmen fallen, sind sie als integraler Bestandteil der Sure anzusehen.
Der Schlussvers ist ein Zusatz, der wie Q 74:56 den vorangehenden Vers – der von einem freien menschlichen Willen zu sprechen scheint – unter den Vorbehalt eines vorgängigen Wollens Gottes stellt (vgl. Neuwirth, Studien, 202 ; zum Prädestinationsgedanken s. allgemein Ettinghausen 1934, 35 ). Bemerkenswert ist dabei, dass ähnliche Wendungen anderswo (73:19, 74:37, 78:39, 80:12) ohne Korrektur geblieben sind (s. a. Ahrens 1935, 83 ).
Die Sure gliedert sich in zwei (ohne die nachträgliche Ergänzung V. 29) gleichlange Teile (je 14 Verse), von denen der erste – eine eng mit Q 82 und 84 verwandte ʾiḏā-Serie mit abschließendem Hauptsatz (V. 14) – die unmittelbar dem Jüngsten Gericht vorausgehenden Vorgänge schildert. Die Serie, bestehend aus insgesamt zwölf Momentaufnahmen, wird größtenteils in Paaren entfaltet, die zunächst den Aufbau des Kosmos durchlaufen und dann die unmittelbaren Gerichtsvorbereitungen präsentieren. Den zweiten Teil leitet ein Schwur ein, der das Szenario einer wohl im Gebet durchwachten Nacht entwirft und in mehreren Anläufen die Herkunft, Vermittlungsweise und schließlich die Funktion (V. 27.28) der koranischen Verkündigungen bestimmt. Die Sure kombiniert so Gerichtsbotschaft (Teil 1) mit diese autorisierenden Metaaussagen (Teil 2); dabei nimmt sich der in V. 15–28 unterstrichene Geltungs- und Weisungsanspruch der Korantexte vor dem Hintergrund des in V. 1–14 entworfenen Gerichtsszenarios nur um so drängender aus, denn die noch für eine „Ermahnung“ (V. 27) zur Verfügung stehende Zeit ist, obzwar nicht genau bestimmbar, auf jeden Fall endlich.
Überblick
1–14 3(K)K3Kat mit vorherrschenden Sonoren | I 1 1–6 eschatologische Temporalsätze: ʾiḏā-Serie (Gestirne, Meere und Berge, Tiere) |
2 7–9 Forts. ʾiḏā-Serie (Seelen, lebendig begrabenes Mädchen) | |
3 10–13 Forts. ʾiḏā-Serie (Vorbereitungen zum Gericht) | |
14 eschatologischer Nachsatz | |
15–18 3GG3s (in V. 18 variiert zu 3KK3s) | II 4 15–18 Schwüre (Gestirne, Nacht, Morgen) |
19–29 2n/m | 5 19–21 Offenbarungsbestätigung (positiv) |
6 22–24 Beglaubigung des Verkünders (negativ) | |
7 25–28 Offenbarungsbestätigung (25 negativ, 26 polemische Frage, 27.28 positiv) | |
[29 einschränkender Zusatz] |
Proportionen (ohne V. 29): [6(=2+2+2)+3+5]+[4+3+3+4] = 14+14.