بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
هَلۡ أَتَىٰ عَلَى ٱلۡإِنسَٰنِ حِينٌۭ مِّنَ ٱلدَّهۡرِ |
I11 Hat es einmal eine Zeit gegeben, |
لَمۡ يَكُن شَيۡـًۭٔا مَّذۡكُورًا |
in welcher der Mensch nichts war, was der Rede wert gewesen wäre? |
إِنَّا خَلَقۡنَا ٱلۡإِنسَٰنَ مِن نُّطۡفَةٍ أَمۡشَاجٍۢ نَّبۡتَلِيهِ |
2 Wir haben den Menschen aus einem Tropfen, einem Gemisch, geschaffen, um ihn zu prüfen; |
فَجَعَلۡنَٰهُ سَمِيعًۢا بَصِيرًا |
wir haben ihn hörend und sehend gemacht. |
إِنَّا هَدَيۡنَٰهُ ٱلسَّبِيلَ |
3 Wir haben ihn den Weg geleitet, |
إِمَّا شَاكِرًۭا وَإِمَّا كَفُورًا |
mag er nun dankbar oder undankbar sein. |
إِنَّآ أَعۡتَدۡنَا لِلۡكَٰفِرِينَ |
II24 Für die Ungläubigen halten wir |
سَلَٰسِلَا۟ وَأَغۡلَٰلًۭا وَسَعِيرًا |
Ketten, Fesseln und einen Brand bereit. |
إِنَّ ٱلۡأَبۡرَارَ يَشۡرَبُونَ مِن كَأۡسٍۢ |
5 Die Rechtschaffenen trinken aus einem Kelch, |
كَانَ مِزَاجُهَا كَافُورًا |
der mit Kampfer angemischt ist, |
عَيۡنًۭا يَشۡرَبُ بِهَا عِبَادُ ٱللَّهِ |
6 aus einer Quelle, aus der die Diener Gottes trinken |
يُفَجِّرُونَهَا تَفۡجِيرًۭا |
und die sie reichlich sprudeln lassen. |
يُوفُونَ بِٱلنَّذۡرِ |
37 Sie halten ihre Gelübde |
وَيَخَافُونَ يَوۡمًۭا كَانَ شَرُّهُۥ مُسۡتَطِيرًۭا |
und fürchten einen Tag, an dem sich überall Übel ausbreitet; |
وَيُطۡعِمُونَ ٱلطَّعَامَ عَلَىٰ حُبِّهِۦ |
8 sie geben ihr Essen – mag es ihnen auch noch so lieb sein – |
مِسۡكِينًۭا وَيَتِيمًۭا وَأَسِيرًا |
dem Armen, dem Waisen und dem Gefangenen: |
إِنَّمَا نُطۡعِمُكُمۡ لِوَجۡهِ ٱللَّهِ |
9 „Wir speisen euch um Gottes willen; |
لَا نُرِيدُ مِنكُمۡ جَزَآءًۭ وَلَا شُكُورًا |
wir wollen von euch kein Entgelt und keinen Dank. |
إِنَّا نَخَافُ مِن رَّبِّنَا يَوۡمًا عَبُوسًۭا قَمۡطَرِيرًۭا |
10 Wir fürchten uns vor einem finsteren, bedrohlichen Tag von unserem Herrn.“ |
فَوَقَىٰهُمُ ٱللَّهُ شَرَّ ذَٰلِكَ ٱلۡيَوۡمِ |
411 So bewahrt Gott sie vor dem Übel jenes Tages, |
وَلَقَّىٰهُمۡ نَضۡرَةًۭ وَسُرُورًۭا |
lässt ihnen Glückseligkeit und Freude zuteil werden |
وَجَزَىٰهُم بِمَا صَبَرُوا۟ جَنَّةًۭ وَحَرِيرًۭا |
12 und vergilt ihnen ihr geduldiges Ausharren mit einem Garten und mit Seide. |
مُّتَّكِـِٔينَ فِيهَا عَلَى ٱلۡأَرَآئِكِ ۖ |
13 Sie liegen auf Ruhebetten, |
لَا يَرَوۡنَ فِيهَا شَمۡسًۭا وَلَا زَمۡهَرِيرًۭا |
wo sie weder Sonnenhitze noch grimmige Kälte erleiden. |
وَدَانِيَةً عَلَيۡهِمۡ ظِلَٰلُهَا |
14 Die Schatten des Gartens senken sich auf sie herab |
وَذُلِّلَتۡ قُطُوفُهَا تَذۡلِيلًۭا |
und seine Früchte hängen tief herunter. |
وَيُطَافُ عَلَيۡهِم بِـَٔانِيَةٍۢ مِّن فِضَّةٍۢ |
15 Man macht unter ihnen die Runde mit Gefäßen aus Silber |
وَأَكۡوَابٍۢ كَانَتۡ قَوَارِيرَا۠ |
und mit Bechern, die Glasgefäße sind – |
قَوَارِيرَا۟ مِن فِضَّةٍۢ قَدَّرُوهَا تَقۡدِيرًۭا |
16 Glasgefäße aus Silber, die sorgfältig abgemessen wurden. |
وَيُسۡقَوۡنَ فِيهَا كَأۡسًۭا |
17 sie erhalten dort aus einem Kelch zu trinken, |
كَانَ مِزَاجُهَا زَنجَبِيلًا |
dem Ingwer beigemischt ist, |
عَيۡنًۭا فِيهَا تُسَمَّىٰ سَلۡسَبِيلًۭا |
18 aus einer Quelle dort, die man Salsabīl nennt. |
وَيَطُوفُ عَلَيۡهِمۡ وِلۡدَٰنٌۭ مُّخَلَّدُونَ |
19 Unter ihnen machen ewige Jünglinge die Runde; |
إِذَا رَأَيۡتَهُمۡ حَسِبۡتَهُمۡ لُؤۡلُؤًۭا مَّنثُورًۭا |
wenn man sie sieht, hält man sie für hingestreute Perlen. |
وَإِذَا رَأَيۡتَ ثَمَّ |
20 Und wenn man sich dort umsieht, |
so sieht man Wonne und große Herrlichkeit | |
عَٰلِيَهُمۡ ثِيَابُ سُندُسٍ خُضۡرٌۭ وَإِسۡتَبۡرَقٌۭ ۖ |
21 Sie tragen grüne Gewänder aus Seide und Brokat, |
وَحُلُّوٓا۟ أَسَاوِرَ مِن فِضَّةٍۢ |
sind geschmückt mit Armreifen aus Silber |
وَسَقَىٰهُمۡ رَبُّهُمۡ شَرَابًۭا طَهُورًا |
und ihr Herrn reicht ihnen reinen Trank dar. |
إِنَّ هَٰذَا كَانَ لَكُمۡ جَزَآءًۭ |
22 „Das steht euch als Entgelt zu; |
وَكَانَ سَعۡيُكُم مَّشۡكُورًا |
euer Streben findet Dank.“ |
إِنَّا نَحۡنُ نَزَّلۡنَا عَلَيۡكَ ٱلۡقُرۡءَانَ تَنزِيلًۭا |
III523 Wir sind es, die die Lesung auf dich herabgesandt haben. |
فَٱصۡبِرۡ لِحُكۡمِ رَبِّكَ |
24 So harre auf das Urteil deines Herrn |
وَلَا تُطِعۡ مِنۡهُمۡ ءَاثِمًا أَوۡ كَفُورًۭا |
und gehorche nicht den Sündern und Ungläubigen unter ihnen! |
وَٱذۡكُرِ ٱسۡمَ رَبِّكَ بُكۡرَةًۭ وَأَصِيلًۭا |
25 Rufe morgens und abends den Namen deines Herrn an, |
وَمِنَ ٱلَّيۡلِ فَٱسۡجُدۡ لَهُۥ |
26 wirf dich des Nachts vor ihm nieder |
وَسَبِّحۡهُ لَيۡلًۭا طَوِيلًا |
und preise ihn bis tief in die Nacht. |
إِنَّ هَٰٓؤُلَآءِ يُحِبُّونَ ٱلۡعَاجلَةَ |
27 Jene lieben das Flüchtige |
وَيَذَرُونَ وَرَآءَهُمۡ يَوۡمًۭا ثَقِيلًۭا |
und lassen einen schweren Tag außer acht. |
نَّحۡنُ خَلَقۡنَٰهُمۡ وَشَدَدۡنَآ أَسۡرَهُمۡ ۖ |
628Wir haben sie geschaffen und ihnen Kraft verliehen; |
وَإِذَا شِئۡنَا بَدَّلۡنَآ أَمۡثَٰلَهُمۡ تَبۡدِيلًا |
wenn wir wollen, so tauschen wir sie gegen andere ihresgleichen aus. |
إِنَّ هَٰذِهِۦ تَذۡكِرَةٌۭ ۖ |
729 Dies ist eine Mahnung; |
فَمَن شَآءَ ٱتَّخَذَ إِلَىٰ رَبِّهِۦ سَبِيلًۭا |
wer da will, der nimmt den Weg zu seinem Herrn. |
وَمَا تَشَآءُونَ إِلَّآ أَن يَشَآءَ ٱللَّهُ ۚ |
30 Doch ihr wollt nicht, es sei denn Gott will; |
إِنَّ ٱللَّهَ كَانَ عَلِيمًا حَكِيمًۭا |
Gott ist wissend und weise. |
يُدۡخِلُ مَن يَشَآءُ فِی رَحۡمَتِهِۦ ۚ |
31 Er lässt in seine Barmherzigkeit eingehen, wen er will |
وَٱلظَّٰلِمِينَ أَعَدَّ لَهُمۡ عَذَابًا أَلِيمًا |
und denen, die Unrecht tun, bereitet er eine schmerzhafte Strafe. |
Die Sure ist Einheit. Lediglich V. 30 (eine Ausnahmeformel, siehe KTS, S. 310-313), dessen erster Teil mit Q 81:29 identisch ist, dürfte späterer Einschub sein. Die begrenzte Willensfreiheit ist in den frühen Suren noch nicht Thema.
Versabteilungsdifferenzen
Die islamische Tradition verzeichnet keine Differenzen. In SKMS, S. 49 f. war dafür plädiert worden, V. 12 und V. 13 zusammenzuziehen, so dass ḥarīran keinen Versschluss gebildet hätte. Denn ḥarīr steht in V. 12 neben ǧanna isoliert. In Q 22:23 und Q 35:33 – wo es auch mit ǧannāt verbunden ist – ist es dagegen sinnvoll auf Kleidung bezogen: yuḥallauna fīhā min ʾasāwira min ḏahabin wa-luʾluʾan wa-libāsuhum fīhā ḥarīr („Sie sind geschmückt mit Armreifen aus Gold und Perlen, ihre Gewänder dort sind aus Seide“). Verslänge und der mit V. 13muttakiʾīna gegebene Neuanfang sprechen aber gegen die Zusammenziehung.
Literaturliste
I Schöpfung des Menschen und Doppelbild | |
3 1-3 Schöpfung und Vollendung des Menschen; zwei mögliche Entwicklungen: Dank und Undank | |
1 4 Strafverheißung an Undankbare (Folterwerkzeuge, Feuer, saʿīr) | |
2 5-6 Lohnverheißung: Trank der Reinen im Paradiesgarten | |
II Tugendkatalog und Paradiesbeschreibung | |
4 07-10 Tugendkataloge | |
8 11-18 Luxuriös ausgestatteter Garten als Lohn: Sitze, Schatten, Trank | |
3 19-21 Aufwartende Jünglinge, kostbare Gewänder | |
1 22 Sinngebung: Paradies zum Dank für Bemühung der Guten | |
III Prophetentrost; Offenbarungsbestätigung, Zuspruch | |
4 23-26 qurʾān-Bestätigung, Zuspruch, Aufforderung zum Gottesdienst | |
2 27-28 Polemik gegen Diesseitigkeitsbezogenheit; Schöpfung in ernsthafter Absicht | |
2 29-31 Schlusserklärung: qurʾān als Mahnung (taḏkira), Lohn und Strafe nach Willen Gottes (V. 30 ist späterer Zusatz) |
Strukturformel/Proportionen:
Teil I: 6 Verse | Teil II: 16 Verse | Teil III: 8 Verse |
6 (3 + 1 + 2) | 16 (4 + 8 + 3 + 1) | 8 (4 + 2 [+ 1] + 2) |
hal ʾatā ʿala l-ʾinsāni ḥīnun mina d-dahri lam yakun šaiʾan maḏkūrā] Die Sure wird eingeleitet durch eine Einladung zur Reflexion über die Vorzeit des Menschen. Die Übersetzung mit „Hat es für den Menschen nicht einmal einen Zeitabschnitt gegeben? “ (Paret, KÜ, S. 415) oder „Gab es für den Menschen denn eine Zeit? “ (Bobzin 2010:537) wird jedoch dem Gewicht der Aussage nicht gerecht; denn dahr bedeutet zwar „Zeit“, diese ist aber schicksalhaft konnotiert; ʾatā ʿalā („kommen über“) deutet noch auf das Erleidenmüssen der Zeitphase hin. Es wurde deshalb mit „Musste der Mensch nicht einmal eine Zeit durchlaufen“ übersetzt. – Der frühmekkanisch zumeist unter dem Aspekt der ihm von der Schöpfung her eignenden Mangelhaftigkeit betrachtete Mensch (siehe Q 103:2: ʾinna l-ʾinsāna la-fī ḫusr, vgl. Q 100:6; Q 99:3; Q 96:6; Q 90:4; Q 89:23; Q 86:5; Q 80:17; Q 75:3, Q 5, Q 36 und Q 70:19) wird hier keinem entsprechenden Tadel ausgesetzt, vielmehr erscheint er als von Gott aus dem anfänglichen Zustand der Nichtigkeit in den Rang eines mündigen Wesens erhoben. Die Erinnerung an die niedrige Herkunft des Menschen dient früh seiner Erziehung zur Bescheidenheit (Q 80:19; Q 75:37; Q 53:46). Die Nennung von dahr, das hier für eine lange Dauer der Vergangenheit steht, von der die frühe embryonische Phase des Menschen nur einen kurzen Ausschnitt deckt, könnte polemisch gemeint sein: als Entwertung der in der vorislamischen Dichtung dominierenden Auffassung von Zeit als einer verzehrenden Macht, aus der die Zeit des Menschen mit der Entmachtung des Schicksals ausgegliedert wird (siehe dazu Tamer 2008:192 f.). Der Vers wird im allgemeinen als auf die embryonale Phase des Menschen bezogen verstanden, die in den folgenden Versen entwickelt wird. Angesichts der Erwähnung des dahr ist aber auch ein Verständnis im Sinne der kollektiven Menschenentwicklung nicht ausgeschlossen: „Musste der Mensch nicht einmal eine vom dahr beherrschte [d.h. pagane] Phase durchlaufen, in der er [so wie die frühmekkanischen Suren es konstatieren] ‚nichts‘ war? “ Diese Entwicklung beträfe die gesamte Gemeinde, die ja erst durch die Verkündigung auf das Niveau von Gläubigen gehoben wird.
ʾinnā ḫalaqna l-ʾinsāna min nuṭfatin amšāǧin nabtalīhi fa-ǧaʿalnāhu samīʿan baṣīrā] Die Geringfügigkeit seiner Anfänge – zunächst auf „nichts Nennenswertes“ (V. 1, wenn man ihn im konventionellen Sinne versteht), dann (V. 2) auf einen „[Sperma-]Tropfen“ herabgestuft – soll den Menschen vor Hochmut bewahren (siehe schon frühmekkanisch in Q 80:17-19: qutila l-ʾinsānu mā ʾakfarah / min ʾaiyyi šaiʾin ḫalaqah / min nuṭfatin ḫalaqahū fa-qaddarah, „Verflucht sei der Mensch! Wie undankbar ist er! / Woraus denn hat er ihn erschaffen? / Aus einem Tropfen erschuf er ihn, setzte ihm sein Maß“). Die Qualifikation von nuṭfa mit dem Hapaxlegomenon ʾamšāǧ („Gemisch“) ist dagegen neu. Sie könnte auf die Vorstellung von dem sich nach der Zeugung mischenden Sperma des Mannes und dem Sekret der Frau deuten (freundliche Mitteilung von Thomas Eich, Hamburg). Der Gedanke der göttlichen Prüfung kommt erst gegen Ende der frühmekkanischen Zeit auf (vgl. die Prüfung durch Wohlstand im Gartengleichnis, Q 68:17: ʾinnā balaunāhum ka-mā balaunā ʾaṣḥāba l-ǧannati, und den späteren Zusatz in Q 89:15: fa-ʾamma l-ʾinsānu iḏā ma btalāhū rabbuhū fa-ʾakramahū wa-naʿʿamahū fa-yaqūlu rabbī ʾakramanī, „Der Mensch aber, wenn sein Herr ihn prüft und ihn ehrt, spricht: ‚Mein Herr hat mich geehrt.‘ “). – An die zu moralisch verantwortlichem Handeln verpflichtende Ausstattung des Menschen mit Sinnesfähigkeiten wird schon früher mahnend erinnert (Q 90:8-9ʾa-lam naǧʿal lahū ʿainain / wa-lisānan wa-šafatain, „Haben wir ihm nicht zwei Augen eingesetzt und eine Zunge und zwei Lippen ‘…‚? “), auch hier explizit verbunden mit der offenen Wahl zwischen einer positiven und einer negativen Entscheidung (Q 90:10: wa-hadaināhu n-naǧdain, „und ihn die beiden hohen Wege hinaufgeführt“). – Samīʿ und baṣīr sind meist göttliche Attribute, die nun mit dem Menschen geteilt werden.
ʾinnā hadaināhu s-sabīla ʾimmā šākiran wa-ʾimmā kafūrā] Eine solche Wahl wurde dem Menschen auch in Q 91:9-10 eröffnet: qad ʾaflaḥa man zakkāhā / wa-qad ḫāba man dassāhā („Wohl dem, der sie [die Seele] reinhält! Weh dem, der sie mit Füßen tritt! “; vgl auch Q 90:10: wa- hadaināhu l-nağdain, „und [haben wir ihn nicht] die beiden hohen Wege hinaufgeführt? “, siehe dazu HK I, S. 236-252. In Sure 76 wird nun die Option zwischen „dankbar“ und „undankbar“ bzw. der Akt des Dankerweises als notwendige Anerkennung göttlicher Zuwendung zum Leitmotiv des gesamten Textes.
ʾinnā ʾaʿtadnā li-l-kāfirīna salāsila wa-ʾaġlālan wa-saʿīrā / ʾinna l-ʾabrāra yašrabūna min kaʾsin kāna mizāǧuhā kāfūrā / ʿainan yašrabu bihā ʿibādu llāhi yufaǧǧirūnahā tafǧīrā] Es folgt logisch ein kurzes Doppelbild (siehe zur Textsorte SKMS, S. 191), das die Konsequenz aus der Dankbarkeit bzw. Undankbarkeit zieht. Es ist für die Verurteilten auf zwei hyperbolisch eingeführte Details reduziert: zu den Ketten siehe bereits frühmekkanisch Q 69:32: ṯumma fī silsilatin ḏarʿuhā sabʿūna ḏirāʿan fa-slukūh („Dann legt ihm eine Kette an, 70 Ellen lang! “); zu den Fesseln siehe Q 73:12: ʾinna ladaina ʾankālan wa-ǧaḥīmā („Denn wir halten Fesseln und Höllenbrand bereit“). Dagegen ist die Beschreibung der Seligen ausführlicher. In beiden Teilen wird mit der Mehrdeutigkeit der Wurzel KFR gespielt: Die Leugner, identisch mit den Undankbaren (kāfirūn deckt beide Bedeutungen), werden für ihre Haltung entehrt, die Dankbaren dagegen mit einer Auszeichnung versehen, die etymologisch wieder auf die Wurzel KFR zurückgreift: Der ihnen kredenzte Wein ist mit kāfūr („Kampfer“), duftendem Mischwasser, versetzt. Die Reinen erwartet Genuss – aus einer Quelle, die sie selbst immer wieder zum Sprudeln bringen können. Diese Qualifikation der Quelle wäre schwer verständlich, wenn man sie nicht als Antwort auf eine bereits in älteren Traditionen besonders ausgezeichneten Quelle verstehen könnte. David Kiltz und Nicolai Sinai (TUK, Nr. 0899) haben eine mögliche Traditionsverbindung für den Vers vorgeschlagen, bei der gerade die den Gerechten zugänglich gemachten Quellen besonders hervorgehoben sind: In Jes 49,10 heißt es: lo yirʿavu we-lo yiṣmaʾu we-lo yakkem šarav wa-šameš ki mereḥamam yenahagem we-ʿal mabbuʿe(y) mayyim yenahalem („Sie leiden weder Hunger noch Durst, Hitze und Sonnenglut schaden ihnen nicht. Denn er leitet sie voll Erbarmen und führt sie zu sprudelnden Quellen“). Dieser Text ist in Offb 7,16-17 wiederaufgenommen und christologisch gedeutet, wobei aus den ‚Wasserquellen‘ ‚Quellen des Lebens‘ werden: „Sie werden keinen Hunger und keinen Durst mehr leiden, und weder Sonnenglut noch irgendeine sengende Hitze wird auf ihnen lasten. Denn das Lamm in der Mitte vor dem Thron wird sie weiden und sie zu den Quellen führen, aus denen das Wasser des Lebens strömt ‘…‚.„ Der Gedanke der Bewahrung vor Hitze und Sonnenglut wird in V. 13 nachgetragen.
yūfūna bi-n-naḏri wa-yaḫāfūna yauman kāna šarruhū mustaṭīrā / wa-yuṭʿimūna ṭ-ṭaʿāma ʿalā ḥubbihī miskīnan wa-yatīman wa-ʾasīrā / ʾinnamā nuṭʿimukum li-waǧhi llāhi lā nurīdu minkum ǧazāʾan wa-lā šukūrā / ʾinnā naḫāfu min rabbina yauman ʿabūsan qamṭarīrā] Der Mittelteil, in mittelmekkanischen Suren in der Regel mit einer oder mehreren Erzählungen aus der Geschichte gefüllt und damit der Lesung in den monotheistischen Gottesdiensten entsprechend, nimmt hier eine im Koran einzigartige Gestalt an. Er setzt ein mit einem Tugendkatalog (siehe zur Textsorte SKMS, S. 191), der unvermittelt die Jetztzeit der Frommen einblendet: ihre Erfüllung von Gelübden, Furcht vor dem Jüngsten Tag und Armen- bzw. Waisen- und Gefangenenspeisung. Zur Hinwendung zu diesen drei Gruppen – ein auf Jes 58,6-7 und Mt 25,34 ff. zurückgehender Topos – vgl. Q 90:11-16: fa-la qtaḥama l-ʿaqabah / wa-mā adrāka ma l-ʿaqabah / fakku raqabah / ʾau ʾiṭʿāmun fī yaumin ḏī masġabah / yatīman ḏā maqrabah / ʾau miskīnan ḏā matrabah („Er aber hat den Steilweg nicht erklommen. / Weißt du, was ist der Steilweg? / Die Losbindung eines Nackens / oder die Speisung am Tag der Hungersnot / einer Waise aus der Verwandtschaft / oder eines Armen, der im Staub liegt“) und HK I zur Sure.
Die von den Übersetzern zumeist imperfektisch wiedergegebenen Aussagen – Paret, KÜ, S. 415; Bobzin 2010:537: „Sie erfüllten …“ – müssen nicht als Rückblende verstanden werden; mit den Präsens- Aussagen werden vielmehr die Frommen unter den Hörern beschrieben und damit indirekt angesprochen; dabei wird ihr Verhalten in einen eschatologischen Kontext gestellt. Ein ausführlicherer Tugendkatalog begegnet in dem späteren Zusatz zu Q 70:22-35, wo ebenfalls von der Erfüllung von Verpflichtungen (ʾamāna, ʿahd, V. 32), von der Zuwendung an Arme (ḥaqqun maʿlūm / li-s-sāʾili wa-l-maḥrūm, V. 24-25) sowie von der Gerichtsfurcht (min ʿaḏābi rabbihim mušfiqūn, V. 27) die Rede ist. – In ʿalā ḥubbihī ist das Suffix ein Objektsuffix, bezogen auf ṭaʿām. Die Gerechten weisen jedes Lohndenken von sich, vielmehr handeln sie „im Streben nach dem Antlitz deines Herrn, des Höchsten“ (vgl. Q 92:19-20; zu waǧh Allāh siehe Baljon 1953:254-266; Rippin 2000). Goitein 1958:156 (zitiert bei Paret, KÜ, S. 497): „sogar das Almosengeben wurde als Weg, das Angesicht Gottes zu suchen, wahrgenommen, wie die koranische Fomulierung es ausdrückt – wahrscheinlich als Echo der talmudischen Deutung von Ps 17.15. ‚Durch Almosengabe werde ich dein Angesicht sehen‘ (bBaba Bathra 10a).„ Das fünfradikalige qamṭarīr ist ein gesuchter Ausdruck, er lässt sich ableiten von iqmaṭarra (vom Skorpion: „den Schwanz zum Stich ausrichten“), ist also am ehesten mit „bedrohlich“ wiederzugeben; die morphologische Ausnahmeform reflektiert die existentielle Ausnahmesituation. Zur versprochenen „Frische“, einer festen Eigenschaft der Paradiesatmosphäre, siehe taʿrifu fī wuǧūhihim naẓrata n-naʿīm („Du erkennst in ihren Gesichtern die Frische des Wonnegartens“, Q 83:23) und wuǧūhun yaumaʾiḏin nāḍirah („Gesichter werden jenen Tags strahlend blicken“ Q 75:22). – ʿabūs gibt primär einen psychologischen Zustand wieder, siehe ʿabasa wa-tawallā („Er blickte finster und wandte sich ab“, Q 80:1), es steht im Gegensatz zu surūr.
fa-waqāhumu llāhu šarra ḏālika l-yaumi wa-laqqāhum naḍratan wa-surūrā / wa-ǧazāhum bi-mā ṣabarū ǧannatan wa-ḥarīrā] Die Erwähnung von ḥarīr („Seide“) steht isoliert, sie nimmt ein Detail der erst später folgenden Beschreibung der Bekleidung der Paradiesbewohner vorweg. Das Verdienst der Belohnten wird mit ṣabr („erdulden“) bezeichnet, einer Tugend, die frühmekkanisch vor allem vom Verkünder selbst verlangt wird (siehe fa-ṣbir, Q 74:7; Q 73:10; Q 70:5; Q 68:48; Q 52:48, so auch in V. 24) und die für die Gemeinde erst in mittelmekkanischer Zeit an Bedeutung gewinnt.
muttakiʾīna fīhā ʿala l-ʾarāʾiki lā yarauna fīhā šamsan wa-lā zamharīrā / wa-dāniyatan ʿalaihim ẓilāluhā wa-ḏullilat quṭūfuhā taḏlīlā] Paradiesbeschreibung, beginnend mit dem aus den frühmekkanischen Suren Q 56:16, Q 55:54, Q 76 und Q 52:20 bekannten Einsatz. Die Figura etymologica ḏullilat taḏlīla trägt zur Emphase bei. Das Angelehnt-Liegen auf den Thronsesseln (ʾarāʾik) verbindet sich auch anderswo mit dem Schauen (Q 83:23 = Q 83:35: ʿala l-ʾarāʾiki yanẓurūn). ʾArāʾik gehören seit Q 83 zum Inventar des Paradieses (siehe zur Herkunft des Wortes FVQ, S. 52 f.; Horovitz 1975:71). – Horovitz (1975:70) möchte in zamharīr nicht – wie üblich übersetzt – „Kälte“ (vgl. Ambros 2004:122, siehe auch die arabischen Nationallexika), sondern „Hitze“ erkennen, nämlich wörtlich „Strahl(ung)“, was auch dem Intertext aus Offb 7,16 (siehe oben zu V. 6: oude mē pesē ep’ autous ho hēlios oude pan kauma, „weder Sonnenglut noch irgendeine sengende Hitze wird auf ihnen lasten“) entsprechen würde. Dagegen vertritt ein spätsassanidischer apokalyptischer Text, das Ardā Wīrāz Nāmag 36:17-20 (TUK_1271), Kälte als eine Höllenstrafe. Das vierradikalige Wort zamharīr ist wieder Ausnahmeform, die eine Ausnahmesituation widergibt. – Die Deutung von A. S. Yahuda (1948), der statt ẓilāl („Schatten“) ẓulal (Plural von ẓulla, „Laubhütte“) liest, ist nicht zwingend, da die Erwähnung von Schatten angesichts der gleißenden Sonne hinreichend überzeugend ist. Siehe zur leichten Erreichbarkeit der Früchte auch Q 77:41, Q 56:30.
wa-yuṭāfu ʿalaihim bi-ʾāniyatin min fiḍḍatin wa-ʾakwābin kānat qawārīra / qawārīra min fiḍḍatin qaddarūhā taqdīrā / wa-yusqauna fīhā kaʾsan kāna mizāǧuhā zanǧabīlā / ʿainan fīhā tusammā salsabīlā ] Zu den zivilisatorischen Aspekten, der luxuriösen Ausstattung des Paradieses, vgl. Neuwirth 2014 und KTS, S. 711-716. Wenn man auch Horovitz’ Abhängigkeitsthese („Die Übereinstimmungen gehen in der Tat ‘…‚ so weit, dass die paradiesischen Gastmahlbilder des Koran sich ‘…‚ wie Nachahmungen der Beschreibungen der Dichter ausnehmen“) nicht als hinreichende Erklärung für die zentrale Stellung der Paradiesbeschreibungen im mekkanischen Koran akzeptieren kann, so bleibt seine Aufdeckung von Gemeinsamkeiten doch unverzichtbar für die Erklärung von einzelnen Phänomenen. Die V. 17-18 schwelgen in Beschreibungen der luxuriösen Ausstattung des Gartens, wobei den Getränken besondere Aufmerksamkeit gilt. Die Beschreibung der Trinkgefäße stellt ein Problem dar: Für qārūra gibt Ambros (2004:223) „möglicherweise eine Art Glasprodukt“ an, passend zum einzigen späteren Gebrauch in Q 27:44, wo von ṣarḥun mumarradun min qawārīrā die Rede ist. In Q 76:15-16 nimmt er „bestimmte Gefäße, eine Art von ʾakwāb (Bechern), aus Silber gemacht, überlicherweise als ‚Flaschen‘ gedeutet“ an. Zu ʾakwāb kommentiert Horovitz (1975:65 f.): „Der Becher heißt ‘…‚ kūb, und auch dieses Wort verwenden die Dichter manchmal, (etwa bei) al-Aʿša, wo er (Geyer 1905:56) vom Weine spricht: lahā zabanun baina kūbin wa-dann, ‚der zwischen Becher und Humpen schäumt‘ ‘…‚. “ Kub ist eventuell aus griechisch kymbē (vgl. lateinisch cupa) abgeleitet (siehe Horovitz 1975:66). Die Getränke betreffend fasst Horovitz zusammen: „Der Trank der Seligen erhält einen Zusatz von Mischwasser Q 83:27: Q 76:5, Q 17; mizāǧ = mezāgā), wie es auch die Dichter häufig erwähnen (siehe Geyer, Zwei Gedichte I, 87 ff.). Das Wort für Ingwer, zanǧabīl, letztlich aus dem Indischen stammend ‘…‚, hat im Arabischen die gleiche Form wie im Aramäischen, doch ist bei dem regen Verkehr, der von alters her zwischen Indien und Arabien bestand, nicht anzunehmen, dass in diesem Fall die arabische Form aus der aramäischen entlehnt wäre. “
Der Name der Quelle salsabīl ist wahrscheinlich ein Kunstwort, er verdankt sich der Reimassoziation zu zanǧabīl („Ingwer“), einer Lehnwortbezeichnung für ein Luxusgut (siehe FVQ, S. 153 f.).
wa-yaṭūfu ʿalaihim wildānun muḫalladūna iḏā raʾaitahum ḥasibtahum luʾluʾan manṯūrā / wa-ʾiḏā raʾaita ṯamma raʾaita naʿīman wa-mulkan kabīrā ] Die unsterblich gemachten aufwartenden Knaben (siehe auch Q 56:17; Q 52:24) sind von Walid Saleh (2010) mit antiken Vorgängen in Verbindung gebracht worden, etwa Ganymed, dem olympischen Schenken. Der Perlenvergleich betraf in Frühmekka (Q 55:58) die Huris, um ihre Unberührtheit zum Ausdruck zu bringen: ka-ʾannahunna l-yāqūtu wa-l-marǧān („als wären sie Rubine und Korallen“), vgl. auch Q 56:22 und siehe Horovitz 1975:68. Er wird in Q 76 auf Jünglinge übertragen. Yousef Kouriyhe (TUK_0181) macht auf einen ähnlichen Perlenvergleich in christlich-syrischen Beschreibungen von im Kindesalter verstorbenen Jungen aufmerksam, siehe Jakob von Sarug (451-521): „O Verständiger, der du diesen Toten, der voller Vorzüge ist, auf das Begräbnis vorbereitet hast! Warum weinst du über den Schönen, der ohne Fehl ist? Wer weint über eine Perle, die aus den Wellen des Meeres emporgestiegen ist? Denn siehe, sie wurde in die Krone des Königs gesetzt.“ (siehe TUK_0181) – Die Zusammenfassung des Anblicks (V. 20) gipfelt in der Identifikation des Paradieses mit mulk, von Bobzin (2010:538) mit „Pracht“, von Paret (KÜ, S. 416) mit „Herrlichkeit“ übersetzt. Die Festversammlung erinnert an diejenige des göttlichen Hofstaats, die in der jüdischen apokalyptischen (Hekhalot-)Literatur von Sehern beschrieben wird, die das himmlische Heiligtum besuchen (siehe Schäfer 2011), die aber auch in der Offenbarung des Johannes wieder projiziert wird.
ʿāliyahum ṯiyābu sundusin ḫuḍrun wa-ʾistabraqun wa-ḥullū ʾasāwira min fiḍḍatin wa-saqāhum rabbuhum šarāban ṭahūrā / ʾinna hāḏā kāna lakum ǧazāʾan wa-kāna saʿyukum maškūrā] Das Paradiesszenario hat sich seit der großen Beschreibung in Q 55 geändert, dort wie auch noch in den wenig späteren Beschreibungen in Q 56 und Q 52 waren die Seligen selbst nicht Akteure, sie waren nicht selbst in Festgewänder gekleidet, sondern wurden nur zum paradiesischen Gastmahl zugelassen, ohne dass eine Integration in das himmlische Personal stattgefunden hätte. Ihre in Q 76 dargestellte Einkleidung in besonders preziöse Gewänder stellt eine deutliche Steigerung des Status der Seligen dar. Die Vorstellung orientiert sich hier an der Hekhalot-Literatur („Palastmystik“, vgl. Schäfer 1988 und Schäfer 1991); denn wie Horovitz (1975) betont, ist diese Ausstattung in den altarabischen Gelageszenen nicht geläufig. Die Einkleidung markiert ihre nunmehr erreichte Zugehörigkeit zum himmlischen Hofstaat (vgl. V. 20: mulk), der in der Sure allerdings ausgeblendet bleibt, wie auch von keiner zeremoniellen Funktion der Seligen die Rede ist; anders in dem hier vielleicht verhandelten Text Offb 7,13-14, in dem ebenfalls eine Einkleidung stattgefunden hat, hier sind die Erwählten allerdings gerade nicht in Prachtgewänder, sondern in weiße Stoffe gehüllt: „Da fragte mich einer der Ältesten: Wer sind diese, die weiße Gewänder tragen (hoi peribeblēmenoi tas stolas tas leukas), und woher sind sie gekommen? Sie haben ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht. “ Die Einkleidung dient hier nicht ihrer Ehrung, sondern ihrer Aufnahme unter die Engel (Offb 7,15): „Deshalb stehen sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm bei Tag und Nacht in seinem Tempel; und der, der auf dem Thron sitzt, wird sein Zelt über ihnen aufschlagen. “
ʾinnā naḥnu nazzalnā ʿalaika l-qurʾāna tanzīlā / fa-ṣbir li-ḥukmi rabbika wa-lā tuṭiʿ minhum ʾāṯiman ʾau kafūrā] Abschließende Offenbarungsbestätigung, wie sie seit mittelmekkanischer Zeit als Schlußteil üblich wird (vgl. KTS, S. 145-152), mit Ermutigung, das Urteil des Herrn abzuwarten, ohne sich von einem Frevler (zu ʾaṯīm vgl. die Lasterkataloge Q 83:10-13 und Q 68:10-12) oder Undankbaren – ein nochmaliger Rückverweis auf den Surenanfang – verleiten zu lassen. Die paronomastische Konstruktion lässt verschiedene Deutungen zu. Betont werden soll die Herabsendung; eine Übersetzung mit „immer wieder“ im Sinne eines kontinuierlichen Vorgangs scheint dem Gemeinten am nächsten zu kommen.
wa-ḏkuri sma rabbika bukratan wa-ʾaṣīlā / wa-mina l-laili fa-sǧud lahū wa-sabbiḥhu lailan ṭawīlā] Die Aufforderung zum Gotteslob betrifft hier die drei Zeiten früher Morgen, Abend und – besonders lange – die Nacht. Siehe zu den Gebetszeiten Neuwirth 1996. Die hier hervorgehobene Vigil war bereits in Q 73:2 eingeführt worden: qumi l-laila illā qalīlā („Wache die Nacht über, den größten Teil“). Das Morgen- und das Abendlob – das in der etwas späteren Sure Q 19:11 von dem Priester Zacharias seiner Gemeinde auferlegt wird: sabbiḥū bukratan wa-ʿašīyyā – dürfte an das jüdische shaḥarit (entsprechend christlichem orthros) und minḥah (entsprechend christlichem hesperinos) anknüpfen. Aufforderungen zum Gotteslob finden sich am Surenanfang: sabbiḥi sma rabbika l-ʾaʿlā („Preise den Namen deines Herrn, des Höchsten“, Q 87:1) wie auch am Surenschluß: fa-sabbiḥ bi-ḥamdi rabbika wa-kun mina s-sāǧidīn / wa-ʿbud rabbaka ḥattā yaʾtiyaka l-yaqīn („So lobpreise deinen Herrn und sei einer der sich Niederwerfenden“). Die surenabschließenden Aufforderungen zum Gotteslob scheinen auf eine Fortsetzung des mit der Surenrezitation begonnenen Gottesdienstes durch das mit „Lob sei Gott“ beginnende Gemeindegebet, die Fātiḥa, zu deuten. – Gotteslob ist auch die Funktion der Engel (vgl. Q 37:1, Q 3: wa-ṣ-ṣāffāti ṣaffā / ‘…‚ / fa-t-tāliyāti ḏikrā, „bei den in Reihen Schreitenden / / ‘…‚ / und Gotteslob Vortragenden“). Die Engel werden im monotheistischen Milieu als gleichzeitig mit der Gemeinde Gottesdienst Abhaltende vorgestellt. Dagegen wird das Gotteslob nicht von den neu in den Hofstaat Gottes aufgenommenen Seligen praktiziert, die deutlich keinen Engelstatus erhalten, sondern bleibt Pflicht des Verkünders und der irdischen Gemeinde.
ʾinna hāʾulāʾi yuḥibbūna l-ʿāǧilata wa-yaḏarūna warāʾahum yauman ṯaqīlā / naḥnu ḫalaqnāhum wa-šadadnā ʾasrahum wa-ʾiḏā šiʾnā baddalnā ʾamṯālahum tabdīlā] Wie in Q 75:16 wird die Erwähnung der – als gemessen vorzustellenden und die Verbindung zur ewigen Welt herstellenden – Koranrezitation und der Tadel der Zeitgenossen, die ‚die Eilige‘, d.h. die flüchtige Welt vorziehen, kombiniert. Nachdem Schöpfung und Stärkung – šadadnā ʾasrahum („wir machten sie stark“) ist ein neues Bild – auch der Undankbaren von Gott ausgingen, kann er sie als Empfänger auch gegen andere „austauschen“, eine mehrfach geäußerte Drohung.
V. 29-31ʾinna hāḏihī taḏkiratun fa-man šāʾa ttaḫaḏa ʾilā rabbihī sabīlā / wa-mā tašāʾūna ʾillā ʾan yašāʾa llāhu ʾinna llāha kāna ʿalīman ḥakīmā / yudḫilu man yašāʾu fī raḥmatihī wa-ẓ-ẓālimīna ʾaʿadda lahum ʿaḏāban ʾalīmā] Schlußruf wie in Q 80:11, Q 84:54 und Q 73:19. Er ist erweitert durch eine – die eschatologische Rede zusammenfassende – Prophezeiung mit Drohung an die Unrechttuenden. V. 30, dessen erster Teil mit Q 81:29 identisch ist, dürfte späterer Einschub sein. V. 31: ʾaʾadda lahum ʾaḏaban ʾalīmā erinnert an Q 19:84, wo allerdings naʿuddu lahum ʿaddan begegnet, das auch im Sinne von „er zählt ihnen ihre noch verbleibenden Jahre“ verstanden wird.
Literaturliste
Die Sure gehört zu einer Gruppe von kürzeren Suren, die aus dem für die mittelmekkanischen Suren charakteristischen dreiteiligen Schema herausfallen und statt dessen einem einzigen Gegenstand gewidmet sind. Zu diesen gehören Q 72 „Die Ǧinnen“ und Q 76 „Noah“, die jeweils ein Thema aus einer vorausgehenden längeren Sure vertiefen. Es sind ihre Versstruktur – mit zumeist zweigliedrigen Versen (siehe SKMS, S. 153-156) – und ihr Rückgriff auf erst in mittelmekkanischer Zeit entwickelte Vorstellungen, die sie dieser und nicht der frühesten Periode zuweisen. Q 76 ist dem Thema Dankesschuld und jenseitige Ehrung des Menschen gewidmet, einem Thema, das häufig behandelt wird. Der bereits frühmekkanische Topos der Geringwertigkeit der Schöpfungsmaterie, aus der der Mensch geformt wurde, bildet den Ausgangspunkt – der Mensch schuldet seine vor diesem Hintergrund wunderbar erscheinende Entwicklung göttlicher Zuwendung. Dem Menschen steht jedoch die eigene Option zwischen Dank und Undank offen.
Der Kausalzusammenhang zwischen seiner Entscheidung und der jenseitigen Vergeltung eröffnet die Möglichkeit zu besonders ausführlichen Beschreibungen der jenseitigen Aufenthaltsorte, die den – schon aus eschatologisch geprägten frühen Suren bekannten – Elementen nun signifikante neue hinzufügen. Denn es hat sich seit der großen Paradiesbeschreibung in Q 55 eine deutliche Verschiebung des Interesses ergeben: Die Seligen kommen nicht nur in den Genuß der bereits bekannten paradiesischen Freuden von kulinarischen bis hin zu erotischen, sie sind vor allem selbst ihrem erhabenen Aufenthaltsort angepaßt, tragen höfische Gewänder. Diese Integration in das himmlische Personal, der allerdings keine zeremoniellen Funktionen entsprechen, erinnert an die Berichte der Gerechten aus der Hekhalot-Literatur. Es geht jetzt nicht mehr vorwiegend um sinnlichen Genuß, sondern um Rangerhöhung. Die Ausstattung der im Paradies anwesenden Jünglinge mag, wie Saleh (2010) annimmt, an antike Vorstellungen olympischer Götter, die von Schenken umgeben sind, angelehnt sein; sie lassen aber auch die Assoziation an junge Liturgen zu, die in der byzantinischen Kirche zeremonielle Kleidung aus kostbaren Stoffen tragen und deren Abbildungen auf Ikonen geläufig gewesen sein dürften.
Zugleich werden in einem – direkt von gegenwärtigen Frommen sprechenden – Tugendkatalog noch einmal die wichtigsten der bereits in Frühmekka erhobenen Ansprüche an die Hörer – das Einhalten von Gelübden, die Furcht vor dem Gericht, die Speisung von Armen, Waisen und Gefangenen – zusammengetragen. Was die Sure aber vor allem von thematisch entsprechenden frühmekkanischen Suren abhebt, ist ein neues Denken: Das aus Frühmekka bekannte grundsätzlich negative Menschenbild wird in Q 76 korrigiert: Der einsichtige Mensch ist gerade nicht mit Mängeln befleckt, sondern imstande, sich mit der – im Zentrum von Q 76 stehenden – Tugend der Ausdauer und Geduld (ṣabr) und der Selbstbescheidung als dankbar zu erweisen. Die deutlich hervorgehobene Tugend der Wohltätigkeit steht in einem eschatologischen Zusammenhang: Wie der Tugendkatalog V. 7-10 zeigt, wird sie – wie es auch im monastischen Kontext üblich ist (siehe Andrae 1926) – in der Furcht vor dem Jüngsten Tag praktiziert. Trotz der Entsprechung zur christlichen Praxis ist aber zu betonen, dass hier nicht – wie in Q 90 der Fall (siehe HK I, S. 236-252) – ein Gegenmodell zur christlich empfohlenen Wohltätigkeit „um Christi willen“ konstruiert werden soll. Die Sure nimmt also nicht eindeutig auf eine individuelle frühere Sure Bezug, gehört aber in den Kontext derjenigen Texte, die einen Zusammenhang mit apokalyptischen Traditionen (Annäherung an den göttlichen Hofstaat wie Q 54) herstellen.
Literaturliste
Die Sure kommt ohne Erzählung aus und kreist sachlich um ein einziges Thema, den Gott geschuldeten Dank, der sich nicht zuletzt auf Gottes Entmachtung der im paganen Kontext beherrschenden „Schicksalszeit“ (dahr) bezieht. Die Sure verfolgt daher als Nebenthema Manifestationen von Zeit: die von Gott allein dirigierte Zeit, die den Menschen aus der Nichtigkeit zum Mündigsein geführt hat, und die seitens des Menschen zu ziehende moralische Konsequenz aus seiner Mündigkeit. Liest man V. I als Aussage nicht über den embryonischen Zustand des Menschen, sondern über seine Zeit vor der ‚Konversion‘, ist die Sure eine Antwort auf das Rätsel des in den frühmekkanischen Suren durchweg als mangelhaft erachteten Menschen, ein Verdikt, von dem aber – wie es die späteren Zusätze darstellen – die Angesprochenen ausgenommen werden. Sie haben offenbar durch ihre religiöse Akkulturation die vorher beklagten Mängel abgelegt. Sie unterstehen nach ihrer ‚Konversion‘ nicht mehr dem dahr. Der Mensch ist nun vor die Alternative zwischen Dank und Undank, d.h. zwischen Einsicht in die erhaltenen Wohltaten Gottes und Verstocktheit, gestellt. Der damit konstatierte Antagonismus durchzieht den ganzen Text, der zwischen Lohn und Strafe, jenseitigem Luxus und jenseitigen Qualen – wobei das Interesse am Positiven weit überwiegt –, und zwischen eschatologisch bewußtem Verhalten und gedankenloser Diesseitsbezogenheit hin-und herpendelt. Der Mittelteil der Sure – sonst in der Regel narrativ, von einer Erzählung besetzt – ist hier mit eschatologischen Bildern ausgefüllt, denen ein Lob auf die gegenwärtigen Gerechten, ein Tugendkatalog, vorgeschaltet ist. Diese Struktur ist in den mekkanischen Suren einzigartig.
Der Text schließt wie in Mittelmekka üblich mit einer Offenbarungsbestätigung, die noch einmal zum Gedanken der Zeit zurückkehrt. Denn die koranische Lesung wird als Manifestation der beständigen, überzeitlichen Wahrheit mit der Diesseitsverfallenheit der Gegner, ihrer Präferenz für die ‚flüchtige Zeit‘, kontrastiert. Zeit wird signifikant als liturgische Zeit, die sich mit bestimmten Tageszeitabschnitten verbindet. Wie relevant diese mit sakralen Handlungen besetzten Tagesabschnitte sind, zeigt ein Überblick über die den sehr frühen mekkanischen Suren vorausgestellten Schwüre, die oft auf Tageszeiten verweisen (siehe Neuwirth 1991 “Der Horizont der Offenbarung”). – Dass einzig die mündliche Lesung (qurʾān), nicht die Schrift (kitāb) im Blick ist, deutet auf eine frühe Entstehung der Sure hin.
Literaturliste
Zwar scheint sich schon der über gegenwärtige Fromme sprechende Tugendkatalog V. 7ff. an anwesende Hörer zu wenden, eindeutig ist aber erst der Schlussteil an sie gerichtet. In V. 23 wird dem Propheten Trost zugesprochen. Er wird weiterhin zu verschiedenen Formen von – wohl zusammen mit den Hörern zu praktizierendem – Gottesdienst aufgefordert. Erstmals. werden auch die Uneinsichtigen, denen aber noch einmal die Option der Umkehr eröffnet werden soll, direkt als „ihr“ angesprochen. (Die einmalige direkte Anrede in V. 30 könnte jedoch späterer Zusatz sein, siehe „Literarkritik“.) – Die am Surenende stehende Offenbarungsbestätigung bleibt auch in dieser Phase noch ein wichtiges Mittel der Autorisierung der Botschaft.