بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
إِنَّآ أَرۡسَلۡنَا نُوحًا إِلَىٰ قَوۡمِهِۦٓ |
I11 Wir haben Noah zu seinem Volk gesandt: |
أَنۡ أَنذِرۡ قَوۡمَكَ |
„Warne dein Volk, |
مِن قَبۡلِ أَن يَأۡتِيَهُمۡ عَذَابٌ أَلِيمٌۭ |
bevor eine schmerzhafte Strafe über sie kommt!“ |
قَالَ يَٰقَوۡمِ |
2 Er sprach: „O mein Volk! |
إِنِّی لَكُمۡ نَذِيرٌۭ مُّبِينٌ |
Ich bin ein deutlicher Warner für euch, |
أَنِ ٱعۡبُدُوا۟ ٱللَّهَ |
3 dass ihr Gott dienen |
وَٱتَّقُوهُ وَأَطِيعُونِ |
und ihn fürchten und mir gehorsam sein sollt. |
يَغۡفِرۡ لَكُم مِّن ذُنُوبِكُمۡ |
4 Er vergibt euch manche eurer Schuldtaten |
وَيُؤَخِّرۡكُمۡ إِلَىٰۤ أَجَلٍۢ مُّسَمًّى ۚ |
und gewährt euch Aufschub bis zu einem bestimmten Termin; |
إِنَّ أَجَلَ ٱللَّهِ إِذَا جَآءَ لَا يُؤَخَّرُ ۖ |
wenn aber der Termin Gottes kommt, dann wird er nicht mehr aufgeschoben. |
لَوۡ كُنتُمۡ تَعۡلَمُونَ |
Wenn ihr nur wüsstet!“ |
قَالَ رَبِّ إِنِّی دَعَوۡتُ قَوۡمِی لَيۡلًۭا وَنَهَارًۭا |
II25 Er sprach: „Mein Herr! Tag und Nacht habe ich zu meinem Volk gerufen, |
فَلَمۡ يَزِدۡهُمۡ دُعَآءِیٓ إِلَّا فِرَارًۭا |
6 doch mein Rufen hat sie nur darin bestärkt, vor mir zu fliehen. |
وَإِنِّی كُلَّمَا دَعَوۡتُهُمۡ لِتَغۡفِرَ لَهُمۡ |
7 Jedesmal wenn ich sie rief, damit du ihnen vergeben mögest, |
جَعَلُوٓا۟ أَصَٰبِعَهُمۡ فِیٓ ءَاذَانِهِمۡ |
steckten sie sich ihre Finger in die Ohren |
وَٱسۡتَغۡشَوۡا۟ ثِيَابَهُمۡ |
und bedeckten sich mit ihren Kleidern |
وَأَصَرُّوا۟ وَٱسۡتَكۡبَرُوا۟ ٱسۡتِكۡبَارًۭا |
und verharrten in ihrem Hochmut. |
ثُمَّ إِنِّی دَعَوۡتُهُمۡ جِهَارًۭا |
8 Da rief ich sie in aller Öffentlichkeit. |
ثُمَّ إِنِّیٓ أَعۡلَنتُ لَهُمۡ |
39 Dann sprach ich sowohl öffentlich |
وَأَسۡرَرۡتُ لَهُمۡ إِسۡرَارًۭا |
als auch im Geheimen zu ihnen |
فَقُلۡتُ ٱسۡتَغۡفِرُوا۟ رَبَّكُمۡ |
10 und sagte: ‚Bittet euren Herrn um Vergebung – |
إِنَّهُۥ كَانَ غَفَّارًۭا |
er ist stets bereit zu vergeben –, |
يُرۡسِلِ ٱلسَّمَآءَ عَلَيۡكُم مِّدۡرَارًۭا |
11 auf dass er vom Himmel Regen auf euch herabsende, |
وَيُمۡدِدۡكُم بِأَمۡوَٰلٍۢ وَبَنِينَ |
12 euch mit Besitz und Söhnen versorge, |
وَيَجۡعَل لَّكُمۡ جَنَّٰتٍۢ |
euch Gärten beschere |
وَيَجۡعَل لَّكُمۡ أَنۡهَٰرًۭا |
und euch Bäche beschere! |
مَّا لَكُمۡ لَا تَرۡجُونَ لِلَّهِ وَقَارًۭا |
13 Was ist mit euch? Warum erhofft ihr von Gott keinen Großmut, |
وَقَدۡ خَلَقَكُمۡ أَطۡوَارًا |
14 wo er euch doch in verschiedenen Stufen geschaffen hat? |
أَلَمۡ تَرَوۡا۟ كَيۡفَ خَلَقَ ٱللَّهُ سَبۡعَ سَمَٰوَٰتٍۢ طِبَاقًۭا |
415 Habt ihr denn nicht gesehen, wie Gott sieben Himmel in Schichten geschaffen hat |
وَجَعَلَ ٱلۡقَمَرَ فِيهِنَّ نُورًۭا |
16 und darin den Mond als Licht angebracht hat |
وَجَعَلَ ٱلشَّمۡسَ سِرَاجًۭا |
und die Sonne als Leuchte? |
وَٱللَّهُ أَنۢبَتَكُم مِّنَ ٱلۡأَرۡضِ نَبَاتًۭا |
17 Gott hat euch aus der Erde sprießen lassen; |
ثُمَّ يُعِيدُكُمۡ فِيهَا |
18 dann bringt er euch in sie zurück |
وَيُخۡرِجُكُمۡ إِخۡرَاجًۭا |
und holt euch wieder heraus. |
وَٱللَّهُ جَعَلَ لَكُمُ ٱلۡأَرۡضَ بِسَاطًۭا |
19 Gott hat euch die Erde zu einem ausgebreiteten Teppich gemacht, |
لِّتَسۡلُكُوا۟ مِنۡهَا سُبُلًۭا فِجَاجًۭا |
20 auf dass ihr darauf Wege und Bergpässe begeht.“ |
قَالَ نُوحٌۭ رَّبِّ إِنَّهُمۡ عَصَوۡنِی |
III521 Noah sprach: „Mein Gott! Sie haben sich mir widersetzt, |
وَٱتَّبَعُوا۟ مَن لَّمۡ يَزِدۡهُ مَالُهُۥ وَوَلَدُهُۥٓ إِلَّا خَسَارًۭا |
sind einem gefolgt, dem sein Besitz und seine Söhne nur zu einem um so größeren Verlust gereicht haben, |
وَمَكَرُوا۟ مَكۡرًۭا كُبَّارًۭا |
22 haben gewaltige Ränke ausgeheckt. |
وَقَالُوا۟ لَا تَذَرُنَّ ءَالِهَتَكُمۡ |
23 und gesagt: Verlasst eure Götter nicht! |
وَلَا تَذَرُنَّ وَدًّۭا وَلَا سُوَاعًۭا |
Verlasst nicht Wadd, nicht Suwāʿ, |
وَلَا يَغُوثَ وَيَعُوقَ وَنَسۡرًۭا |
nicht Yaġūṯ, Yaʿūq und Nasr!’ |
وَقَدۡ أَضَلُّوا۟ كَثِيرًۭا ۖ |
24 Sie haben viele in die Irre geführt; |
وَلَا تَزِدِ ٱلظَّٰلِمِينَ إِلَّا ضَلَٰلًۭا |
so lass die, die Unrecht tun, nur um so mehr in die Irre gehen! |
مِّمَّا خَطِيٓـَٰٔتِهِمۡ أُغۡرِقُوا۟ فَأُدۡخِلُوا۟ نَارًۭا |
625 Aufgrund ihrer Sünden wurden sie ertränkt und in ein Feuer gebracht; |
فَلَمۡ يَجِدُوا۟ لَهُم مِّن دُونِ ٱللَّهِ أَنصَارًۭا |
außer Gott fanden sie keine Helfer für sich. |
وَقَالَ نُوحٌۭ |
26 Noah sagte: |
ورَّبِّ لَا تَذَرۡ عَلَى ٱلۡأَرۡضِ مِنَ ٱلۡكَٰفِرِينَ دَيَّارًا |
„Lass auf der Erde keinen Bewohner zurück, der zu den Ungläubigen gehört! |
إِنَّكَ إِن تَذَرۡهُمۡ يُضِلُّوا۟ عِبَادَكَ |
27 Wenn du sie lässt, so führen sie deine Knechte in die Irre |
وَلَا يَلِدُوٓا۟ إِلَّا فَاجِرًۭا كَفَّارًۭا |
und zeugen nur Ungläubige und Sünder! |
رَّبِّ ٱغۡفِرۡ لِی وَلِوَٰلِدَىَّ |
728 Herr, vergib mir und meinen Eltern |
وَلِمَن دَخَلَ بَيۡتِیَ مُؤۡمِنًۭا |
und jedem, der als Gläubiger mein Haus betritt |
وَلِلۡمُؤۡمِنِينَ وَٱلۡمُؤۡمِنَٰتِ |
und allen gläubigen Männern und Frauen! |
وَلَا تَزِدِ ٱلظَّٰلِمِينَ إِلَّا تَبَارًا |
Und lass denen, die Unrecht tun, nur noch mehr Schaden zuteil werden!“ |
Es ist eine Versumstellung zu erwägen. Die Erzähllogik legt die Annahme nahe, daß die Verse V. 26-27 mit dem Gebet für die Vernichtung des frevlerischen Volkes vorV. 25 gehören, der mit der das gesamte Volk treffenden Strafe des Ertrinkens ja bereits die Erfüllung des Gebets attestiert. Die Sure würde bei Umstellung der Verse V. 26-27 und V. 25 mit der Feststellung der eingetroffenen Strafe schließen. Allerdings würde dann mit V. 26 eine Fast-Dublette direkt auf V. 24 folgen. Da der Ton mit V. 26ff. deutlich schärfer wird, ist die Annahme der späteren Ergänzung des Schlusses V. 26-28 nicht auszuschließen. Diese Zuordnung drängt sich vor allem für V. 28 auf, bei dem die für Mittelmekka noch nicht vorauszusetzende Differenzierung zwischen männlichen und weiblichen Gemeindemitgliedern sonst auffallen würde.
Versabteilungsdifferenzen
Die Verszähltradition verzeichnet sechs Differenzen zwischen den Zählern. Keine dieser Abweichungen von der kufischen Zählung ist zu akzeptieren (siehe dazu SKMS, S. 48 f.).
Literaturliste
I Sendung Noahs | |
4 X-X Aufruf Noahs an sein Volk | |
II Rechenschaft Noahs, Referat seiner Predigt | |
4 5-8 Bericht Noahs über seine Predigt und ihre Ablehnung | |
6 009-014 Die dem Volk vorgehaltenen Wohltaten; Ermahnungen | |
6 15-20 ʾāyāt: Himmelsphänomene; Entstehung aus Erde, Rückkehr zu ihr, Erweckung aus ihr; Ebnung der Erde, Anlage von Wegen | |
III Gebete Noahs | |
4 21-24 Klage Noahs zu Gott, Insistieren der Frevler auf Götzendienst | |
1 25 Vernichtung des Volkes | |
2 26-27 Gebet Noahs um völlige Vernichtung der Ungläubigen insgesamt (wahrscheinlich vor V. 25 gehörig) | |
1 28 Gebet für Eltern, Haus, Gläubige insgesamt; gegen Frevler |
Strukturformel/Proportionen
Teil I: 4 Verse | Teil II: 16 Verse | Teil III: 8 Verse |
4 | (4 + 6 + 6) | (4 + 1 + 2 + 1) |
Literaturliste
V. 1ʾinnā ʾarsalnā nūḥan ʾilā qaumihī ʾan ʾanḏir qaumaka min qabli ʾan yaʾtiyahum ʿaḏābun ʾalīm] Die Sure beginnt sogleich mit einer Erzählung, die sonst in mittelmekkanischen Texten erst im Surenmittelteil zu erwarten ist. Noahs Auftrag nimmt die frühmekkanische Aufforderung an den Verkünder aus Q 74:2: qum fa-ʾanḏir („Steh auf und warne!“) wieder auf.
V. 2-4qāla yā-qaumi ʾinnī lakum naḏīrun mubīn / ʾani ʿbudu llāha wa-ttaqūhu wa-ʾaṭīʿūn / yaġfir lakum min ḏunūbikum wa-yuʾaḫḫirkum ʾilā ʾaǧalin musamman ʾinna ʾaǧala llāhi ʾiḏā ǧāʾa lā yuʾaḫḫaru lau kuntum taʿlamūn] Die Rede setzt sich weitgehend aus Redeteilen von bereits in früheren Suren eingeführten Propheten zusammen: Die Selbstvorstellung des Gesandten in V. 2 entspricht Q 15:89 (vom Verkünder): wa-qul innī anā n-naḏīru l-mubīn („und spricht: Ich bin ein deutlicher Warner“). Eine ähnliche Formel begegnet etwas später stereotyp in Q 26: innī lakum rasūlun ʾamīn (Q 26:107, Q 26:125, Q 26:143, Q 26:162, Q 26:178), jeweils gefolgt von einem Auftrag zur Gottesfurcht und zum Prophetengehorsam (fa-ttaqū llāha wa-ʾaṭīʿūn, „So fürchtet Gott und leistet mir Gehorsam“). Die Forderung aus V. 3 begegnet erneut (siehe besonders Q 26:108, Q 26:110, ebenfalls im Munde Noahs) und wieder in Q 26:126, Q 26:144, Q 26:163, Q 26:179 (im Munde anderer Propheten). – Das Angebot der Sündenvergebung ist dagegen auffällig, da es im Munde eines Warners (V. 2: naḏīr), der üblicherweise zur Alleinverehrung Gottes aufruft, nicht zu erwarten ist. Der Fokus liegt hier bei dieser Szenerie, die an die biblische Jona-Geschichte erinnert, aber offenbar auf dem dringenden Aufruf zur Umkehr angesichts der drohenden innerweltlichen Strafe, vor der auch der Verkünder warnt. Das Streben nach Vergebung der Sünden (ḫaṭāyā) ist ein Gedanke, der vielleicht aus dem narrativen Kontext von Q 26, wo jeweils individuelle Beter die Sündenvergebung für sich selbst erhoffen (Q 26:51: die bekehrten ägyptischen Zauberer, und Q 26:82: Abraham), auf die Predigt Noahs übertragen worden ist. Zum Begriff der Sünde im Koran siehe Zaman 2006:19-28. – Auch im Talmud (bSanhedrin 108a) ruft Noah, der in Gen 6,9 nur als Gerechter unter Frevlern figuriert, zur Buße – freilich nicht zur Vergebungssuche – auf. – Die angestrebte Zusicherung der Frist erinnert an Q 15:5: mā tasbiqu min ʾummatin aǧalahā wa-mā yastaʾḫirūn („Keine Gemeinschaft kommt ihrer Frist zuvor, noch bleibt sie hinter ihr zurück“).
V. 5-7qāla rabbi ʾinnī daʿautu qaumī lailan wa-nahārā / fa-lam yazidhum duʿāʾī ʾillā firārā / wa-ʾinnī kullamā daʿautuhum li-taġfira lahum ǧaʿalū ʾaṣābiʿahum fī ʾāḏānihim wa-staġšau ṯiyābahum wa-ʾaṣarrū wa-stakbaru stikbārā] Mit der Rede Noahs springt der Reim von einfachem 2n/m auf das sonst im gesamten Koran nicht vorkommende -ārā über. – Die Bußpredigt Noahs hebt wieder auf die von den Frevlern anzustrebende Sündenvergebung ab. Die in ihrer Körpersprache besonders drastische Beschreibung der von Noah erfahrenen Ablehnung ist ohne Parallele im Koran. Das Mittel, sich die Ohren zu stopfen, um sich gegen unangenehme Nachrichten abzuschotten, begegnet auch im Talmud (bKetubbot 5a). In einem koranischen Gleichnis (Q 2:18, medinisch) stecken sich die Ungläubigen die Finger in die Ohren, um bedrohliche Donnerschläge nicht zu hören (siehe BEQ, S. 100).
V. 8-9ṯumma ʾinnī daʿautuhum ǧihārā / ṯumma ʾinnī ʾaʿlantu lahum wa-ʾasrartu lahum ʾisrārā] Noah setzt alle rhetorischen Mittel ein, der Aufruf erfolgt in lauter Anrede, dann begleitet von Reden ‚öffentlich und im geheimen‘ – ein Merismus, der etwas wie ‚in jeder denkbaren Weise‘ bedeuten dürfte. Die Frage nach dem offenen und eindeutig verbalisierten oder eher vor der Öffentlichkeit zu verbergenden religiösen Bekenntnis spielt in dieser Zeit auch sonst eine Rolle (vgl. dazu aus der verwandten Sure Q 20:7-8: wa-ʾin taǧhar bi-l-qauli fa-ʾinnahū yaʿlamu s-sirra wa-ʾaḫfā / allāhu lā ʾilāha ʾillā huwa lahu l-ʾasmāʾu l-ḥusnā, „Ob du laut hörbar oder leise sprichst, er kennt das Geheime und selbst das Verborgenste. / Gott – kein Gott außer ihm! Sein sind die schönsten Namen“).
V. 10-12fa-qultu staġfirū rabbakum ʾinnahū kāna ġaffārā / yursili s-samāʾa ʿalaikum midrārā / wa-yumdidkum bi-ʾamwālin wa-banīna wa-yaǧʿal lakum ǧannātin wa-yaǧʿal lakum ʾanhārā] Die Buße bzw. Verzeihungssuche ist versprechend, da Gott der Vergebende schlechthin (ġaffār) ist. Sie soll Segnungen veranlassen; anderswo sind solche Segnungen Auslöser einer dankbaren Hinwendung zu Gott. So erinnert die Segnung mit Regen an Q 80:25; Q 78:14 und öfter, die mit Vermögen an Q 74:12, mit Söhnen an Q 71:12, die Ausstattung mit Gärten und Wasserläufen, d.h. bewässerten Plantagen, an Q 71:12. – V. 11 wird später in Q 17:6 wiederaufgenommen.
V. 13mā lakum lā tarǧūna li-llāhi waqārā] waqar, arabisch für „Würde, Gravität“, könnte hier auch (nach Horovitz 1925:226) im Sinne der jüdischen Entsprechung yeqar als „Herrlichkeit, Glorie“ verstanden werden.
V. 14-16wa-qad ḫalaqakum ʾaṭwārā / ʾa-lam tarau kaifa ḫalaqa llāhu sabʿa samāwātin ṭibāqā / wa-ǧaʿala l-qamara fīhinna nūran wa-ǧaʿala š-šamsa sirāǧā] ʾĀyāt-Serie (siehe zur Textsorte SKMS, S. 195-197), wie sie sonst außerhalb von Erzählungen als eigenständiger Surenteil begegnet. Sie beginnt konstatierend mit der göttlichen Formung des Menschen in Phasen (V. 14), diese wurden bereits frühmekkanisch determiniert: Q 75:37-39: ʾa-lam yaku nuṭfatan min maniyyin yumnā / ṯumma kāna ʿalaqatan fa-ḫalaqa fa-sawwā / fa-ǧaʿala minhu z-zauǧaini ḏ-ḏakara wa-l-ʾunṯā („War er nicht einmal ein Tropfen ausgegossenen Samens / und wurde dann ein Gerinnsel, bis Gott ihn formte und bildete / und die beiden Geschlechter, männlich und weiblich, aus ihm werden ließ?“). Die ʾāyāt-Serie nimmt dann aber mit V. 15-16 die übliche Form rhetorischer Fragen an. Zu V. 15 siehe schon frühmekkanisch Q 78:12: wa-banainā fauqakum sabʿan šidādā („haben wir nicht über euch sieben Festen eingesetzt“) und später Q 67:3: allaḏi ḫalaqa sabʿa samāwātin tibāqan mā tarā fī ḫalqi r-raḥmāni min tafāwutin ‚…‘ („der die sieben Himmel übereinander erschuf, so daß du in der Schöpfung des Erbarmers keinen Mangel erkennst“), vgl. BEQ, S. 1f. – V. 16 rekurriert auf Q 78:13: wa-ǧaʿalnā sirāǧan wahhāǧā („und [wir setzten an ihn] eine hell leuchtende Lampe“), siehe dazu BEQ S. 11.
V. 17-18wa-llāhu ʾanbatakum mina l-ʾarḍi nabātā / ṯumma yuʿīdukum fīhā wa-yuḫriǧukum ʾiḫrāǧā] Die paronomastischen Konstruktionen in V. 17 und V. 18 sind in der Übersetzung nicht wörtlich wiederzugeben. Das Bild der Hervorbringung der Menschen nach der Art von Pflanzen aus der Erde ist neu. Doch wurde die Erschaffung des Menschen aus Erde bereits in einer Predigt Moses an Pharao thematisiert (siehe Q 20:55: minhā ḫalaqnākum wa-fīhā nuʿīdukum wa-minhā nuḫriǧukum tāratan ʾuḫrā, „Aus ihr erschufen wir euch, und in sie bringen wir euch zurück, und aus ihr bringen wir euch abermals hervor“).
V. 19-20wa-llāhu ǧaʿala lakumu l-ʾarḍa bisāṭā / li-taslukū minhā subulan fiǧāǧā] Die flache Ausbreitung der Erde begegnete bereits in der an Ps 104 angelehnten Sure Q 78 (siehe dazu HK 1 zu Q 78), auf die Q 71 schon mit V. 15 und V. 16 zurückgriff (siehe Q 78:6: ʾa-lam naǧʿali l-ʾarḍa mihādā, „Haben wir die Erde nicht zur ebenen Fläche ausgebreitet?“), vgl. für Mittelmekka auch Q 20:53: allaḏī ǧaʿala lakumu l-ʾarḍa mahdan wa-salaka lakum fīhā subulan („Der euch die Erde zu einem Lager machte und für euch Wege auf ihr bahnte“). Der Blick, der eben noch der sich öffnenden Erde bei der Erweckung der Toten galt, wird jetzt auf die integre Erde als Habitat des Menschen gelenkt. In Frühmekka ist die Reihenfolge zumeist umgekehrt, die im Schöpfungspreis soeben noch als fest und beständig gepriesene Erde wird im Moment der Auflösung des Kosmos in ihrer Kontingenz erkennbar.
V. 21-22qāla nūḥun rabbi ʾinnahum ʿaṣaunī wa-ttabaʿū man lam yazidhu māluhū wa-waladuhū ʾillā ḫasārā / wa-makarū makran kubbārā] Die Rede Noahs wendet sich nun zu Gott, das Folgende ist ein Gebet – eine Textsorte, die in Mittelmekka häufiger begegnet. Die eben noch als zu erbittende Segnungen Gottes erklärten sozialen Privilegien, Vermögen und zahlreicher Clan (siehe V. 12), erscheinen nun als ambivalente Gaben: Sie verleiten zu Hochmut. Die Verirrung der Gegner wird auf den Typus des begüterten und angesehenen Landsmannes als Anstifter zurückgeführt; die Opposition dieser sozialen Elite in Mekka, die hier in die Zeit Noahs projiziert wird, spiegelte sich schon in Frühmekka (siehe HK 1 zu Q 96).
V. 23-24wa-qālū lā taḏarunna ʾālihatakum wa-lā taḏarunna waddan wa-lā suwāʿan wa-lā yaġūṯa wa-yaʿūqa wa-nasrā / wa-qad ʾaḍallū kaṯīran wa-lā tazidi ẓ-ẓālimīna ʾillā ḍalālā] Dieser hochmütigen Führungsschicht wird eine emphatische Aufforderung (wohl an die Abhängigen) zum Festhalten an den alten Göttern in den Mund gelegt. Die Aufzählung der altarabischen Götter im Kontext der Noah-Begebenheit spiegelt wieder die Technik der Rückprojektion der mekkanischen Situation in die Zeit der alten Gottgesandten. Die einzig an dieser Stelle bei Namen genannten altarabischen Götter sind jedoch nicht spezifisch mekkanisch, sondern fremd, so daß die Noah-Situation wieder in eine gewisse Distanz zur mekkanischen gerückt wird. Die Namen sind auch außerkoranisch bezeugt und werden zum Teil als südarabisch klassifiziert (zu wadd siehe Horovitz, KU, S. 150, zu dem aus epigraphischen Bezeugungen in Süd- und Nordarabien bekannten Nasr siehe Horovitz, KU, S. 144, zu Yaġūṯ und Yaʿūq siehe Horovitz, KU, S. 153 sowie allgemein Wellhausen 1897:19-22).
Der Gottesbote wird einzig in dieser Sure mit seinem Gebet selbst instrumental bei der Vernichtung seines Volkes, die übrigen Noah-Erzählungen kommen ohne diese emotional gesteigerte Reaktion aus.
V. 25mimmā ḫaṭīʾātihim ʾuġriqū fa-ʾudḫilū nāran fa-lam yaǧidū lahum min dūni llāhi ʾanṣārā] Die Bestrafung durch Ertrinken in der Flut wird – betont durch emphatisches mimma statt einfachem min – auf ihre Sündhaftigkeit zurückgeführt, womit offenbar auf die verfehlte Bitte um Sündenvergebung rekurriert wird. Die Feststellung der Strafe ist eine Standardform des Schlusses von Straflegenden.
V. 26-27wa-qāla nūḥun rabbi lā taḏar ʿala l-ʾarḍi mina l-kāfirīna dayyārā ʾinnaka ʾin taḏarhum yuḍillū ʿibādaka wa-lā yalidū ʾillā fāǧiran kaffārā] Daß nach der Vernichtungsnachricht noch einmal eine Strafe für die nun als Ungläubige identifizierten Volksgenossen erfleht wird, könnte als Zeugnis für die besonders heftige Gegnerschaft, die der Verkünder seinen ungläubigen Zeitgenossen entgegenbringt, gedeutet werden. Es ist jedoch naheliegender anzunehmen, daß die Verse V. 26-27 vor V. 25 gehören; dann wäre das Geschick ihres Ertrinkens, das ja tatsächlich die Übeltäter von der Erde auslöscht, die Erfüllung des Noah-Gebets.
V. 28rabbi ġfir lī wa-li-wālidayya wa-li-man daḫala baitiya muʾminan wa-li-l-muʾminīna wa-l-muʾmināti wa-lā tazidi ẓ-ẓālimīna ʾillā tabārā] Das Gebet – vielleicht nicht mehr Noahs, sondern das eines jeden Gläubigen für seine ungläubig gestorbenen Eltern – erinnert an die Fürbitte Abrahams für den ungläubigen Vater in Q 26:86. Beide reflektieren die – mit der Differenzierung zwischen Gläubigen und Ungläubigen inzwischen eingetretenen – Statusunterschiede zwischen Familienangehörigen im Umkreis des Verkünders. Die Wahrnehmung der Differenz zwischen gläubigen Männern und Frauen setzt allerdings bereits Gemeindestrukturen voraus, wie sie vor Sure 71 in Mittelmekka nicht reflektiert werden. Der Vers dürfte – vielleicht zusammen mit den beiden vorausgehenden, die auch nicht mehr die Zeitgenossen Noahs betreffen – später hinzugefügt worden sein.
Literaturliste
Mit Sure 71 haben wir einen in mehrerer Hinsicht auffälligen Text vor uns: Stilistisch lehnt sie sich mit ihrer ʾĀyāt-Serie eng an die frühmekkanische Sure Q 78 an, deren seltenen Reim auf āCā (meist mit explosivem Schlußkonsonant) sie ab V. 5 mit dem im Koran einzigartigen -ārā zumindest anklingen läßt. Auch gedankliche Rückgriffe auf Q 78 fallen auf. Offenbar soll die Stimmung der Mahnpredigt des Verkünders in Frühmekka heraufbeschworen werden. Sure 71 ist – wie später auch Q 76 und Q 50 – eine Sure ohne Erzählteil. Sie könnte – angesichts der ungewöhnlich scharfen Verurteilung der Ungläubigen – auf den ersten Blick spätmekkanisch sein. Dagegen spricht aber nicht nur ihre Versstruktur, sondern auch ihre enge gedankliche Verbindung zu mittelmekkanischen Suren; sie ähnelt deutlich Q 26, mit der sie den prophetischen Anspruch auf den Gehorsam der Gläubigen teilt, der dort mehrfach nachdrücklich artikuliert wird. Ebenso klingen in ihren Gebeten um Vergebung der Sünden Formulierungen aus Q 26 an. Welche der beiden Suren ist früher anzusetzen? Für Q 71 spricht, daß sie anders als Q 26 noch keine formularische Einleitung aufweist. Solche Einleitungen wie tilka ʾāyātu l-kitābi l-mubīn („Das sind die Zeichen der klaren Schrift“) werden mit Q 26 Standard. Andererseits könnte die einleitungslose Sure 71 einfach eine Entfaltung der Noah-Geschichte aus Q 26 darstellen sollen. Einige gemeinsame Elemente erscheinen in Q 26 funktional, in Q 71 dagegen nur als Referenzen plausibel. Während etwa das Gebet um Sündenvergebung in Q 26 als Ausdruck individueller Frömmigkeit überzeugend begründet ist, wirkt es in Q 71 im Kontext von starrsinnigen Ungläubigen weniger einleuchtend.
Das Problem der Bitte um Vernichtung der Gegner in V. 26, nachdem diese laut V. 25 bereits vernichtet sind, läßt sich am ehesten durch die Annahme einer Versverschiebung lösen: Die extrem animosen Verse V. 26-27, die eine weit über das bei Straflegenden Übliche hinausgehende Feindseligkeit zum Ausdruck bringen, gehören wahrscheinlich vor den Vers V. 25, der die Strafe als Erfüllung des Noah-Gebets erscheinen läßt. Dagegen bleibt das Gebet für ungläubig gestorbene Eltern im Noah-Kontext auffällig. Gebete für die Eltern begegnen – nach Abrahams in Q 26 gegebenem Vorbild, der allerdings für einen vorher als Götzendiener eingeführten Vater betet – erst wieder in Spätmekka. Für eine späte Entstehung des Verses spricht aber vor allem die Differenzierung zwischen gläubigen Männern und Frauen, die ja bereits soziale Funktionsunterschiede voraussetzt; sie wird sonst erst in Spätmekka getroffen (vgl. Q 14:41). Der Vers, eventuell zusammen mit den beiden vorausgehenden, könnte am ehesten spätmekkanischer Zusatz sein.
Ganz offenbar ist Q 71 vor allem eine Abbildung der Verhältnisse um den Verkünder selbst. Denn die Sure rekurriert zwar auf ältere Suren, nicht aber direkt auf die frühere, sehr viel detaillierter erzählte Noah-Geschichte in Q 37. Sie weist vor allem ein hohes Maß an Gegenwartsreferenzen auf: Nicht nur stellen die Namen der alten Gottheiten eine unverkennbare Verbindung zum altarabischen Pantheon dar, wenn auch die Götter selbst nicht spezifisch mekkanisch eingeordnet werden können; auch die Heftigkeit der Klage Noahs und seine unversöhnliche Gegnerschaft zu seinem Volk reflektieren am ehesten die Erfahrung des Propheten selbst. Es geht also weniger um Noah als um einen Spiegel der Situation zur Zeit des Verkünders.
Die Sure entspricht strukturell dem narrativ gefüllten Mittelteil der für Mittelmekka charakteristischen dreiteiligen Suren. Anstelle der sonst den Erzählungen vorangestellten Einleitungen mit Ausführungen zur Gegnerschaft der Ungläubigen – etwa in Q 26:1-9 – sind diese polemischen Elemente in Q 71 in die Erzählung selbst eingebaut. Die Geschichte Noahs, deren Ausgang, die Flut, nur angedeutet wird – von dem schon in Q 54:13 erwähnten Bau der Arche ist gar nicht die Rede –, besteht weitgehend aus seiner Predigt (V. 2-4, V. 10-20) bzw. seiner Klage über ihre Vergeblichkeit. Die Gegner Noahs sind zum einen ‚Typoi‘ der Gegner des Verkünders, sie werden zum anderen aber auch als Prototypen verderbter Menschen allgemein stilisiert, die bekämpft und vernichtet werden müssen. Mit dieser radikalen Haltung reflektiert die Geschichte die biblische Vorlage, die die Vernichtung der gesamten verderbten Menschheit thematisiert. Nicht um diese geht es aber in Q 71, sondern um konkrete Gegner. Anstoß genommen wird zwar auch an kultischen Freveln, der Verehrung von mehreren – aus dem zeitgenössischen Arabien auf Noahs Milieu übertragenen – Göttern, noch mehr aber an der Verstocktheit der Ungläubigen. Daß diese in den ideologischen Fängen von Angehörigen der sozialen Elite sind, entspricht ganz dem auch sonst von den mekkanischen Suren vermittelten Bild der Ungläubigen; man denke etwa an das in Q 96 gezeichnete Szenario der Einmischung eines Mächtigen in den Gebetsritus der Anhänger des Verkünders.
Interessant ist die an die Hörer gerichtete Forderung der Gottesfurcht (taqwā) im Streben nach Sündenvergebung. Die dem christlichen eusebeia auch etymologisch nahestehende Haltung der taqwā wird dabei mit dem für die christliche Paränese charakteristischen Gedanken der Sündenvergebung verbunden. Noah, biblisch nicht mehr als ein Gerechter, der gegenüber den Frevlern seiner Zeit die Ausnahme bildet, wird so – wie schon vorher in einigen jüdischen und christlichen Traditionen – zu einem Bußprediger und damit wiederum zum Typus des Verkünders.
Auch die Vorstellung von einem gläubigen Hausstand, von der Sitte, gläubigen Männern und Frauen das Haus zu öffnen, reflektiert eine für die Spätantike charakteristische Situation, die in der (wohl spätmekkanischen) Umwelt des Verkünders verwirklicht worden sein mag.
Die Sure bewegt sich vollständig in dem von der Einleitung abgesteckten Erzählrahmen, ohne daß zeitgenössische Hörer direkt angesprochen werden. Doch ist die gesamte Predigt Noahs eine Projektion der Predigt des Verkünders in die biblische Vergangenheit. Allerdings dürfte mit dem abschließenden Gebet eine allgemein in der Gemeinde zu gebrauchende Formel vorliegen. Von der in Wir-Rede gehaltenen Einleitung (V. 1) und dem Strafbericht (V. 25) abgesehen ist der Text äußerlich fast ganz Rede Noahs, eines Alter Ego des Verkünders. Den mit Noah/dem Verkünder zeitgenössischen Gegnern wird keine eigene Stimme gegeben. Der einzig Sprechende ist der Prophet selbst.