بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
سَأَلَ سَآئِلٌۢ بِعَذَابٍۢ وَاقِعٍۢ |
I11 Jemand fragt nach der Strafe, die hereinbricht – |
لِّلۡكَٰفِرِينَ لَيۡسَ لَهُۥ دَافِعٌۭ |
2 und die nichts von den Ungläubigen abwenden kann – |
مِّنَ ٱللَّهِ ذِی ٱلۡمَعَارِجِ |
3 von Gott, dem Herrn der Stufenleiter, |
تَعۡرُجُ ٱلۡمَلَٰٓئِكَةُ وَٱلرُّوحُ إِلَيۡهِ فِی يَوۡمٍۢ |
4 zu dem die Engel und der Geist emporsteigen an einem Tag, |
كَانَ مِقۡدَارُهُۥ خَمۡسِينَ أَلۡفَ سَنَةٍ |
der fünfzigtausend Jahre währt. |
فَٱصۡبِرۡ صَبۡرًۭا جَمِيلًا |
5 So fasse dich schön in Geduld – |
إِنَّهُمۡ يَرَوۡنَهُۥ بَعِيدًۭا |
6 sie sehen sie in der Ferne, |
وَنَرَىٰهُ قَرِيبًۭا |
7 wir aber sehen sie schon nahe! |
يَوۡمَ تَكُونُ ٱلسَّمَآءُ كَٱلۡمُهۡلِ |
II28 Am Tag, an dem der Himmel wie zähflüssige Schmelze wird |
وَتَكُونُ ٱلۡجِبَالُ كَٱلۡعِهۡنِ |
9 und die Berge wie Wollflocken, |
وَلَا يَسۡـَٔلُ حَمِيمٌ حَمِيمًۭا |
10 an dem kein Freund mehr seinen Freund fragt, |
يُبَصَّرُونَهُمۡ ۚ |
11 da bekommen sie einander zu sehen; |
يَوَدُّ ٱلۡمُجۡرِمُ |
der Übeltäter wünscht, |
لَوۡ يَفۡتَدِی مِنۡ عَذَابِ يَوۡمِئِذٍۭ بِبَنِيهِ |
er könnte sich von der Strafe jenes Tages mit seinen Söhnen loskaufen, |
وَصَٰحِبَتِهِۦ وَأَخِيهِ |
12 mit seiner Gefährtin, seinem Bruder, |
وَفَصِيلَتِهِ ٱلَّتِی تُـٔۡوِيهِ |
13 seiner Sippe, die ihm Zuflucht gewährt, |
وَمَن فِی ٱلۡأَرۡضِ جَمِيعًۭا ثُمَّ يُنجِيهِ |
14 und wem auch immer auf Erden, damit der ihn dann rette. |
كَلَّآ إِنَّهَا لَظَىٰ |
315 Doch nein, es ist eine lodernde Flamme, |
نَزَّاعَةًۭ لِّلشَّوَىٰ |
16 die einem die Kopfhaut abzieht |
تَدۡعُوا۟ مَنۡ أَدۡبَرَ وَتَوَلَّىٰ |
17 und den heranruft, der den Rücken kehrt und sich abwendet, |
وَجَمَعَ فَأَوۡعَىٰۤ |
18 der sammelt und hortet! |
إِنَّ ٱلۡإِنسَٰنَ خُلِقَ هَلُوعًا |
19 Der Mensch ist unzufrieden geschaffen; |
إِذَا مَسَّهُ ٱلشَّرُّ جَزُوعًۭا |
20 trifft ihn Schlechtes, ist er verdrießlich, |
وَإِذَا مَسَّهُ ٱلۡخَيۡرُ مَنُوعًا |
21 trifft ihn Gutes, ist er geizig. |
إِلَّا ٱلۡمُصَلِّينَ |
422 Nicht so die Beter, |
ٱلَّذِينَ هُمۡ عَلَىٰ صَلَاتِهِمۡ دَآئِمُونَ |
23 die beständig in ihrem Gebet sind |
وَٱلَّذِينَ فِیٓ أَمۡوَٰلِهِمۡ حَقٌّۭ مَّعۡلُومٌۭ |
24 von deren Besitz ein bestimmter Anteil |
لِّلسَّآئِلِ وَٱلۡمَحۡرُومِ |
25 für den Bettler und Armen bestimmt ist, |
وَٱلَّذِينَ يُصَدِّقُونَ بِيَوۡمِ ٱلدِّينِ |
26 die an den Tag des Gerichts glauben, |
وَٱلَّذِينَ هُم مِّنۡ عَذَابِ رَبِّهِم مُّشۡفِقُونَ |
27 die sich vor der Strafe ihres Herrn ängstigen – |
إِنَّ عَذَابَ رَبِّهِمۡ غَيۡرُ مَأۡمُونٍۢ |
28 vor der Strafe ihres Herrn ist keine Sicherheit –, |
وَٱلَّذِينَ هُمۡ لِفُرُوجِهِمۡ حَٰفِظُونَ |
529 die ihre Scham hüten – |
إِلَّا عَلَىٰۤ أَزۡوَٰجِهِمۡ أَوۡ مَا مَلَكَتۡ أَيۡمَٰنُهُمۡ |
30 außer gegenüber ihren Ehefrauen oder ihren Sklavinnen, |
فَإِنَّهُمۡ غَيۡرُ مَلُومِينَ |
da sind sie nicht zu tadeln; |
فَمَنِ ٱبۡتَغَىٰ وَرَآءَ ذَٰلِكَ |
31 diejenigen jedoch, die etwas darüber hinaus begehren, |
فَأُو۟لَٰٓئِكَ هُمُ ٱلۡعَادُونَ |
die begehen eine Übertretung – |
وَٱلَّذِينَ هُمۡ لِأَمَٰنَٰتِهِمۡ وَعَهۡدِهِمۡ رَٰعُونَ |
32 die anvertrautes Gut bewahren und Verträge halten, |
وَٱلَّذِينَ هُم بِشَهَٰدَٰتِهِمۡ قَآئِمُونَ |
33 die ihr Zeugnis leisten, |
وَٱلَّذِينَ هُمۡ عَلَىٰ صَلَاتِهِمۡ يُحَافِظُونَ |
34 und die ihr Gebet einhalten – |
أُو۟لَٰٓئِكَ فِی جَنَّٰتٍۢ مُّكۡرَمُونَ |
35 die werden ehrenvoll in Gärten empfangen. |
فَمَالِ ٱلَّذِينَ كَفَرُوا۟ قِبَلَكَ مُهۡطِعِينَ |
III636 Was ist mit den Ungläubigen, dass sie den Hals nach dir recken, |
عَنِ ٱلۡيَمِينِ وَعَنِ ٱلشِّمَالِ عِزِينَ |
37 in Grüppchen von rechts und links? |
أَيَطۡمَعُ كُلُّ ٱمۡرِئٍۢ مِّنۡهُمۡ |
38 Will etwa ein jeder von ihnen |
أَن يُدۡخَلَ جَنَّةَ نَعِيمٍۢ |
in einen Garten der Wonne eingehen? |
كَلَّآ إِنَّا خَلَقۡنَٰهُم مِّمَّا يَعۡلَمُونَ |
739 Doch nein! Sie wissen, woraus wir sie erschaffen haben! |
فَلَآ أُقۡسِمُ بِرَبِّ ٱلۡمَشَٰرِقِ وَٱلۡمَغَٰرِبِ |
40 Nein, ich schwöre beim Herrn des Ostens und des Westens! |
إِنَّا لَقَٰدِرُونَ |
Wir sind imstande, |
عَلَىٰۤ أَن نُّبَدِّلَ خَيۡرًۭا مِّنۡهُمۡ |
41 bessere an ihre Stelle zu setzen; |
وَمَا نَحۡنُ بِمَسۡبُوقِينَ |
niemand kann uns zuvorkommen. |
فَذَرۡهُمۡ يَخُوضُوا۟ وَيَلۡعَبُوا۟ |
42 Lass sie nur schwätzen und ihr Spiel treiben, |
حَتَّىٰ يُلَٰقُوا۟ يَوۡمَهُمُ ٱلَّذِی يُوعَدُونَ |
bis sie dem Tag begegnen, der ihnen angedroht ist! |
يَوۡمَ يَخۡرُجُونَ مِنَ ٱلۡأَجۡدَاثِ سِرَاعًۭا |
43 Der Tag, an dem sie eilig den Gräbern entsteigen, |
كَأَنَّهُمۡ إِلَىٰ نُصُبٍۢ يُوفِضُونَ |
als vollzögen sie den Lauf zu Opfersteinen, |
خَٰشِعَةً أَبۡصَٰرُهُمۡ تَرۡهَقُهُمۡ ذِلَّةٌۭ ۚ |
44 mit demütigem Blick, von Schmach bedeckt – |
ذَٰلِكَ ٱلۡيَوۡمُ ٱلَّذِی كَانُوا۟ يُوعَدُونَ |
das ist der Tag, der ihnen angedroht worden ist! |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
saʾala sāʾilun bi-ʿaḏābin wāqiʿ] Vgl. die in ähnlicher Diktion gehaltenen Drohungen 51:5, 52:7, 56:1.2, 69:15 und 77:7; zur Bezeichnung des Weltendes mit der Wurzel w-q-ʿ s. a. die Anmerkung zu 77:7. Zu ähnlichen Anspielungen auf herausfordernde Rückfragen nach dem Zeitpunkt des Weltendes s. die Anmerkung zu 79:42 mit weiteren Belegen. Ein Verweis auf eine konkrete soziale Interaktion liegt auch zu Beginn von Q 80 vor. – Neuwirth s ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 54 ) bezieht sich der Vers auf 75:6 zurück (yasʾalu ʾayyāna yaumu l-qiyāmah), doch weisen die beiden Verse keine markanten terminologischen Gemeinsamkeiten auf.
li-l-kāfirīna laisa lahū dāfiʿ] Zu kafara, kāfir vgl. die Anmerkung zu 84:22.
maʿāriǧ] Das Wort maʿāriǧ wird sonst nur noch in 43:33 (Mekka II), und zwar im Sinne profaner Treppen, verwendet. Bereits Horovitz (1919, 176) hat erkannt, dass der Ausdruck äthiop. maʿāreg entspricht (vgl. äthiop. ʿarga, yeʿrag, „hinaufsteigen“), womit in der äthiopischen Bibelübersetzung die Himmelsleiter bezeichnet wird, die Jakob in Genesis 28:10 ff. schaut: „Jakob zog aus Beerscheba weg und ging nach Haran. / Er kam an einen bestimmten Ort, wo er übernachtete, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. / Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. / Und siehe, der Herr stand oben und sprach: ...“ (s. a. Bell, Commentary, Bd. 2, 421 f. ). Eine solche Reminiszenz der Jakobsleiter würde allerdings schlecht in den Kontext passen, der offensichtlich drohend ist (vgl. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 446 ): Das Epitheton „Gott, der Herr der Stufenleiter“ aus V. 3 schließt mittels der Präposition min („durch“) an die im ersten Vers genannte „hereinbrechende Strafe“ an – der Ausdruck „Herr der Stufenleiter“ bezeichnet Gott also qua Ausgangspunkt und Urheber der eschatologischen Bestrafung der Verdammten. Denselben drohenden Tonfall weist auch die im Kerntext folgende Versgruppe 5–7 auf (V. 4 ist ein sekundäres Interpretament). Für die ursprüngliche Textgestalt mit ihrem eschatologischen Gesamtsinn scheidet eine Deutung der maʿāriǧ im Sinne der ganz anders konnotierten Jakobsleiter damit wohl aus. Neuwirth vermutet, das Bild sei ikonographisch inspiriert und verweise auf die in der „ostkirchlichen Ikonographie häufig dargestellte Leiter [...], die die Menschen erklimmen müssen, um ihren jenseitigen Aufenthaltsort zu erreichen, wobei die Frevler in den Abgrund stürzen“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 438 ). Alternativ könnte man den Vers mit dem von David Kiltz identifizierten Intertext Johannes 1:50 in Verbindung bringen, wo im Kontext des Jüngsten Tags von einem Auf- und Absteigen der Engel über Jesus Christus die Rede ist (vgl. ausführlicher TUK, Nr. 196): „Und er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn.“ Gegen eine solche Interpretation steht allerdings, dass Johannes 1:50 nicht von einer regelrechten Leiter spricht, wie sie das Substantiv maʿāriǧ impliziert.
taʿruǧu] Der später hinzugekommene Vers 4 (s. o., Literarkritik) deutet die maʿāriǧ aus dem vorangehenden Vers etymologisierend – unter Verwendung des wurzelverwandten Verbs ʿaraǧa – im Sinne des in Genesis 28:10–22 beschriebenen Auf- und Absteigens der Engel auf der Himmelsleiter aus (s. ausführlicher die Anmerkung zu 97:4). Vor dem Hintergrund des in der Anmerkung zu V. 3 zitierten Intertextes könnte man allerdings auch erwägen, 70:4 auf das in Johannes 1:50 geschilderte Auf- und Absteigen der Engel am Jüngsten Tag zu beziehen (vgl. a. Andrae 1926, 67 mit Hinweisen auf 4. Esra 7:43 sowie eine Stelle in den Sibyllinischen Orakeln, wo jeweils von der langen Dauer des Gerichtstages die Rede ist). Fasst man den Vers jedoch eschatologisch auf, so müsste sich auch die folgende Zeitangabe fī yaumin kāna miqdāruhū ḫamsīna ʾalfa sanah auf den Jüngsten Tag beziehen, was eher unwahrscheinlich ist (s. die Anmerkung zur zweiten Vershälfte weiter unten).
Weitere koranische Parallelstellen zu ʿaraǧa: Das dem äthiopischen ʿarga (s. die Anmerkung zu V. 3) korrespondierende arabische Verb ʿaraǧa, „hinaufsteigen“, erscheint noch in weiteren mittel- und spätmekkanischen sowie medinensischen Stellen (Mekka II: 15:14, Mekka III: 32:5, 34:2, Medina: 57:4). Subjekt des Aufstiegs ist dabei u. a. der göttliche ʾamr, eine zwischen Gott und Schöpfung vermittelnde, hypostaseähnliche Wesenheit (32:5: yudabbiru l-ʾamra mina s-samāʾi ʾilă l-ʾarḍa ṯumma yaʿruǧu ʾilaihi fī yaumin kāna miqdāruhū ʾalfa sanatin mimmā taʿuddūn, „Er lenkt den ʾamr vom Himmel zur Erde, und dann steigt sie wieder zu ihm empor an einem Tag, dessen Dauer nach eurer Berechnung tausend Jahre sind“; 34:2: yaʿlamu ... mā yanzilu mina s-samāʾi wa-mā yaʿruǧu fīhā, „Er weiß ... was vom Himmel herabkommt und was zu ihm emporsteigt“; s. a. 57:4; zum Verhältnis von ʾamr und dem targumischen Begriff des göttlichen מאמרא s. Speyer, Biblische Erzählungen, 24 ). In 70:4 ist demgegenüber von Engeln die Rede; das Gegenstück hierzu bildet der – ebenfalls sekundäre – Vers 97:4, wo vom Abstieg (tanazzala) der Engel in der lailat al-qadr die Rede ist.
Im Zusammenhang mit dem Verb ʿaraǧa ist noch von Interesse, dass eine Himmelfahrt menschlicher Wesen wie in der apokalyptischen Literatur im Koran nicht vorgesehen zu sein scheint: Zwar spricht 15:14 einen Aufstieg von Menschen an (wa-lau fataḥnā ʿalaihim bāban mina s-samāʾi fa-ẓallū fīhi yaʿruǧūn, „Und wenn wir ihnen ein Tor zum Himmel öffnen würden und sie dauernd in ihn hinaufsteigen könnten“), doch geschieht dies lediglich in polemischem Zusammenhang; in ähnlichem Tonfall fragt 52:38 die Ungläubigen, ob sie über eine Himmelsleiter (sullam) verfügen, um von ihr aus die göttlichen Ratschlüsse zu erlauschen. Selbst das in 17:93 an Muḥammad gerichtete Verlangen, er möge „in den Himmel aufsteigen“ (als Verb wird raqiya gebraucht, nicht ʿaraǧa) und von dort ein Buch „hinabsenden“ (nazzala), wird mit den Worten „Bin ich etwas anderes als ein menschlicher Gesandter?“ klar zurückgewiesen (gegen die Deutung von 17:1 im Sinne einer Himmelfahrt Muhammads spricht bereits die klare Zurückweisung einer solchen Vorstellung in 17:93; s. den Kommentar zu Q 17).
wa-r-rūḥu] Vgl. Q 97:4 (tanazzalu l-malāʾikatu wa-r-rūḥu fīhā bi-ʾiḏni rabbihim min kulli ʾamr), wo sich ebenfalls die Engel und der „Geist“ (rūḥ) gemeinsam zwischen Himmel und Erde bewegen, konkret: herabsteigen. Zu rūḥ s. die Anmerkung zu diesem Vers.
fī yaumin kāna miqdāruhū ḫamsīna ʾalfa sanah] Wie in 32:5 (yudabbiru l-ʾamra mina s-samāʾi ʾilă l-ʾarḍi ṯumma yaʿruǧu ʾilaihi fī yaumin kāna miqdāruhū ʾalfa sanatin mimmā taʿuddūn) wird auch in 70:4 die kosmische Dimension des Aufstiegs des ʾamr bzw. der Engel zu Gott hervorgehoben, der eine für menschliche Verhältnisse exzeptionelle Länge (tausend bzw. hier sogar fünfzigtausend Jahre) beansprucht, die aus göttlicher Perspektive jedoch nur einen einzigen Tag umfasst. Bereits Geiger und Hirschfeld haben erkannt, dass das Motiv des tausendjährigen Tages letzten Endes auf Psalm 90:4 zurückgeht („Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht“). In Reinform ist dieses psalmische Motiv koranisch noch in 22:47 – „Ein Tag bei deinem Herrn ist nach eurer Berechnung tausend Jahre“ – anzutreffen; auch die hyperbolische Aussage von 97:3 – „die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate“ – speist sich wohl aus demselben Topos (vgl. die Anmerkung ebd.). An den beiden Stellen 32:5 und 70:4 hat sich das psalmische Motiv offenbar mit der haggadischen Vorstellung verbunden, dass die Engel für das Zurücklegen des Wegs von der Erde bis zum Himmel fünfhundert Jahre benötigen. Die koranische Angabe von 50.000 Jahren kann man mit Speyer für eine Reminiszenz dieser Fünferzahl halten; s. hierzu mit weiteren Literaturangaben Speyer, Biblische Erzählungen, 25, 449, 455 . – In der islamischen Kommentarliteratur wird der in 70:4 erwähnte Tag mit dem Tag des Jüngsten Gerichts identifiziert (s. Ṭabarī, ad loc. ), wofür man auch die weiter oben angesprochene Überschneidung zwischen der ersten Hälfte von 70:4 und Johannes 1:50 anführen könnte (s. o. die Anmerkung zur ersten Vershälfte). Doch scheidet eine eschatologische Deutung des göttlichen „Tages“ zumindest für 22:47 aus. Eine einheitliche Interpretation des Motivs, die sowohl auf 70:4 und 32:5 wie auf 22:47 anwendbar ist, dürfte aber grundsätzlich vorzuziehen sein, so dass auch 70:4 wohl nicht eschatologisch zu verstehen ist.
Textkritik: Das Schlusswort von V. 4, sanah, reimt weder auf das Schema āK3K (V. 1–3) noch auf 2Kā (V. 5–7). Wohl deshalb zieht die Damaszener Verszähltradition Vers 4 mit V. 5 zusammen ( Spitaler, Verszählung, 65 ; vgl. Neuwirth, Studien, 27 ). Dagegen spricht jedoch, dass der Vers semantisch nicht mit dem folgenden verbindbar ist. Es ist deshalb an der Abteilungsweise der Mehrheit festzuhalten. Das Verlassen des Reimes erklärt sich daraus, dass es sich wohl um einen späteren Einschub handelt (s. o.).
fa-ṣbir ṣabran ǧamīlā] Neuwirth weist darauf hin, dass Anreden des Verkünders wie diese in späteren Suren normalerweise am Ende stehen, während sie hier wie in Vers 73:10 (wa-ṣbir ʿalā mā yaqūlūna wa-hǧurhum haǧran ǧamīlā) am Ende des Anfangsteils erscheinen ( stehen (Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 439 ). Neben dem Verb ṣabara findet sich in 73:10 auch die Qualifikation ǧamīl.
yaraunahū] Das Pronomen kann sich grammatisch sowohl auf die Strafe aus V. 1 als auch auf den Tag aus V. 4 zurückbeziehen. Liest man V. 4 als parenthetische Erläuterung zu V. 3, die vermutlich ein späterer Nachtrag ist (s. o.), so erscheint die erste Möglichkeit wahrscheinlicher.
yauma takūnu s-samāʾu ka-l-muhl] Die Bedeutung von muhl ist in der islamischen Exegese umstritten (vgl. den Überblick bei Ṭabarī zu 18:29 ). Die meisten westlichen Koranübersetzungen geben den Begriff mit „flüssiges Metall“ o. Ä. wieder (vgl. Lisān, s. v. m-h-l : mā ḏāba min ṣufrin ʾau ḥadīdin, „geschmolzenes Messing oder Eisen“; vgl. Ṭabarī zu 18:29, Nr. 23040 : kullu šaiʾin ʾuḏība wa-ʾinmāʿa, „Geschmolzenes jeder Art“), während Schreiner 1977 vorschlägt, muhl als „siedendes Öl“ zu deuten. Diese Deutung steht in gewisser Nähe zu der in islamischen Quellen begegnenden Umschreibung von muhl als „Bodensatz von Öl“ (durdī / ʿakar az-zait; s. Lisān, s. v. m-h-l ; vgl. Ṭabarī, 18:29, Nr. 23039 ; Zamaḫšarī, 70:8 ). Wenn manche Exegeten die Wendung bi-māʾin ka-l-muhli yašwĭ l-wuǧūha („mit Wasser wie muhl, welches die Gesichter brät“) aus 18:29 mit „Eiter, schwärzliches Blut“ paraphrasieren ( Ṭabarī, 18:29, Nr. 23041 ff. ), so leitet sich dies vielleicht ebenfalls von der Deutung muhl = „Bodensatz von Öl“ ab: Zumindest Ṭabarīs Überlieferung Nr. 23042 macht explizit, dass hier das māʾ ka-l-muhl zunächst als „Wasser, welches dem Bodensatz von Öl ähnelt“ verstanden wird und dies dann in einem zweiten Schritt als Beschreibung von geronnenem Blut aufgefasst wird. (Ein im Lisān, s. v. m-h-l , zitierter Gedichtausschnitt lässt vermuten, dass der Vergleich von Blut mit muhl ein Topos gewesen sein könnte: ka-ʾannamā ʾasalātuhum mahnūʾatun bi-l-muhli min nadabi l-kulūm, „als wären ihre Speerspitzen von den Narben der Wunden mit muhl geteert“.) Schließlich wird muhl auch als „Teer“ (qaṭirān; s. Lisān, s. v. m-h-l , Qāmūs, s. v. m-h-l; Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, zu 70:8 : ʿakar al-qaṭirān, „der Bodensatz von Teer“) identifiziert. Offenbar konnte der Ausdruck auf viskose Flüssigkeiten unterschiedlicher Art Anwendung finden. Verbindendes Bedeutungselement dürfte dabei die Konnotation von Zähflüssigkeit gewesen sein, welche sich auf einleuchtende Weise mit der Grundbedeutung der Wurzel m-h-l, „Langsamkeit“ in Verbindung bringen lässt (der Infinitiv des Grundstammes, mahl, wird im Lisān und bei al-Ǧauharī im Tāǧ al-luġa mit tuʾada, „Bedächtigkeit“, paraphrasiert). In den koranischen Verwendungen ist jedoch zusätzlich auch die Vorstellung von Hitze zentral, was insbesondere aus 18:29 (bi-māʾin ka-l-muhli yašwĭ l-wuǧūha, „mit Wasser wie muhl, welches die Gesichter brät“) ersichtlich ist. Welche genaue physische Konstitution der koranische muhl hat, ist deshalb wohl nicht zu eruieren. Angesichts des eschatologischen Kontextes, in dem der Ausdruck verwendet wird, ist es überdies unwahrscheinlich, dass den betreffenden Koranstellen an einer präzisen Bestimmung derjenigen Substanz gelegen ist, in die sich am Jüngsten Tag der Himmel verwandelt oder welche den Verdammten in der Hölle eingeflösst wird.
Intertexte: Der Vers klingt deutlich an den Zweiten Clemensbrief 16:3 an: „Wisset aber, dass der Tag des Gerichtes bereits kommt wie ein brennender Ofen, und es werden Teile der Himmel und die ganze Erde schmelzen wie über dem Feuer geschmolzenes Blei …“ Ein Verbrennen des Himmels kündigt auch der Zweite Petrusbrief 3:10 an: „Der Tag des Herrn wird aber kommen wie ein Dieb. Dann wird der Himmel prasselnd vergehen, die Elemente werden verbrannt und aufgelöst …“ (vgl. Andrae 1926, 66 ). Im Hintergrund der frühchristlichen Stellen könnte Jesaja 34:4 stehen: „Alle Heere des Himmels zerfließen …“ (zu den zitierten Intertexten vgl. ausführlicher TUK, Nr. 233, 234, 235).
wa-takūnu l-ǧibālu ka-l-ʿihn] Vgl. ganz ähnlich den früheren Vers 101:5 (wa-takūnu l-ǧibālu ka-l-ʿihni l-manfūš); zum koranischen Hintergrund und einem möglichen Intertext aus der altarabischen Dichtung s. die Anmerkung ebd.
wa-lā yasʾalu ḥamīmun ḥamīmā] Zu der verwehrten Möglichkeit, Freunde um Hilfe anzugehen s. Q 69:35: fa-laisa lahu l-yauma hāhunā ḥamīm.
yubaṣṣarūnahum] Wörtl.: „Da bekommen sie sie zu sehen.“ Daneben existiert auch die Lesevariante yubṣirūnahum, die Qatāda b. Diʿāma zugeschrieben wird ( Muʿǧam, ad loc. ). yaumaʾiḏin] Zu yaumaʾiḏin vgl. die Anmerkung zu 102:8.
kallā ʾinnahā laẓā] Der Neueinsatz mit einem freischwebenden Personalpronomen ist nicht ungewöhnlich, solche elliptischen Ausdrücke betreffen sonst allerdings vor allem die koranischen Offenbarungen, s. etwa 74:54 und 86:13. Hier ist das Höllenfeuer (nār, im Arabischen weiblich) vorausgesetzt, vgl. 92:14: fa-ʾanḏartukum nāran talaẓẓā.
tadʿū man ʾadbara wa-tawallā] Zu tawallā vgl. die Anmerkung zu 88:23. Zu ʾadbara vgl. die Anmerkung zu 88:23.
wa-ǧamaʿa fa-ʾauʿā] Vgl. 104:2 (allaḏī ǧamaʿa mālan wa-ʿaddadah).
Rügen des Menschen stehen sonst zumeist als Schwuraussagen, vgl. 107:7, 90:4, 68:12 ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 441 ). Vgl. für eine ähnliche Beobachtung menschlicher Reaktionen auf gute und schlechte Erfahrungen 89:15.16.
ʾinna l-ʾinsāna ḫuliqa halūʿā] Zu ḫalaqa und seiner Zeitstufe s. die Anmerkung zu 96:1.2. Halaʿ bezeichnet den arabischen Lexika zufolge eine besonders gesteigerte Form von ǧazaʿ, „Bekümmernis, Verdruss“ (s. die Anmerkung zum folgenden Vers); V. 19 und 20 nennen also zwei weitgehend synonyme Attribute.
ǧazūʿā] Ǧazaʿ, „Bekümmernis, Entmutigung, Verdruss angesichts eines erlittenen Unglücks“, erscheint in der altarabischen Dichtung als eine negative Eigenschaft, deren Besitz der Dichter in der Regel emphatisch bestreitet: wa-ʾin fāza sahmun li-l-maniyyati lam ʾakun / ǧazūʿan wa-hal ʿan ḏāka min mutaʾaḫḫari, „Trifft ein Schicksalspfeil sein Ziel, so bin ich nicht bekümmert deswegen; kann das etwa aufgeschoben werden?“ (ʿUrwa b. al-Ward, Man huwa ṣ-ṣuʿlūk, V. 6; s. Jones 1982, 131 ).
Zu dem gesamten Tugendkatalog vgl. den z. T. wörtlich übereinstimmenden Passus 23:1–11 (mittelmekkanisch). Zu V. 24.25 (wa-llaḏīna fī ʾamwālihim ḥaqqun maʿlūm / li-s-sāʾili wa-l-maḥrūm) vgl. a. 51:19 (wa-fī ʾamwālihim ḥaqqun li-s-sāʾili wa-l-maḥrūm). Ähnliche Ausnahmesätze wie hier finden sich auch in 103:2.3, 95:4–6 und 84:24.25.
ʾillā] Ist hier emphatisch mit „nicht so“, „anders aber“ zu übersetzen (vgl. auch 74:39, in Mekka II 37:160). Für diesen Gebrauch gibt es auch in der vorkoranischen Dichtung Belege, vgl. etwa aš-Šanfarā, Lāmiyyat al-ʿarab, V. 24 ( Jones 1982, 155 f. ): wa-lākinna nafsan murratan lā tuqīmu bī / ʿală ḍ-ḍaimi ʾillā raiṯamā ʾataḥawwalu, „Doch ein unnachgiebiger Geist lässt mich nicht ruhen / wenn mir Unrecht angetan wird. Nicht so, wenn ich umherziehe.“
al-muṣallīn] Zur Wurzel ṣ-l-y (ṣallā, ṣalāt) vgl. die Anmerkung zu 108:2.
wa-llaḏīna fī ʾamwālihim ḥaqqun maʿlūm / li-s-sāʾili wa-l-maḥrūm] Vgl. den in der Diktion fast identischen Vers 51:19: wa-fī ʾamwālihim ḥaqqun li-s-sāʾili wa-l-maḥrūm. Vgl. a. in mittelmekkanischer Zeit 17:26.
wa-llaḏīna yuṣaddiqūna bi-yaumi d-dīn] Vgl. die Anmerkung zu 107:1.
ʾinna ʿaḏāba rabbihim ġairu maʾmūn] Vgl. mittelmekkanisch 12:107: ʾa-fa-ʾaminū ʾan taʾtiyahum ġāšiyatun min ʿaḏābi llāhi ...
Die beiden Verse sind als Parenthese zu V. 29 zu verstehen; der Hauptstrang der Rede setzt sich erst in V. 32 fort.
mā malakat ʾaimānuhum] Wörtl.: „das, was ihre rechten Hände besitzen“.
ʾulāʾika fī ǧannātin mukramūn] Vgl. mittelmekkanisch 37:41–43: ʾulāʾika lahum rizqun maʿlūm / fawākihu wa-hum mukramūn / fī ǧannāti n-naʿīm. Zu ǧanna vgl. die Anmerkung zu 81:13.
fa-mā li-llaḏīna kafarū qibalaka muhṭiʿīn] Neben dem vorliegenden Vers weist der Koran nur noch zwei weitere Vorkommnisse des Verbs ʾahṭaʿa auf. Beide beschreiben, wie die Ungläubigen am Tag des Jüngsten Gerichts ihren Gräbern entsteigen; wie in 70:36 wird dabei jeweils das Partizip Aktiv gebraucht (14:42.43: ... ʾinnamā yuʾaḫḫiruhum li-yaumin tašḫaṣu fīhi l-ʾabṣār / muhṭiʿīna muqniʿī ruʾūsahum lā yartaddu ʾilaihim ṭarfuhum wa-ʾafʾidatuhum hawāʾ, „er gewährt ihnen Aufschub bis zu einem Tag, an dem die Blicke starr werden / muhṭiʿīn mit erhobenen Köpfen, ohne dass ihr Blick zu ihnen zurückkehrt, und mit leeren Herzen“; 54:7.8: ḫušaʿan ʾabṣāruhum yaḫruǧūna mina l-ʾaǧdāṯi ka-ʾannahum ǧarādun muntašir / muhṭiʿīna ʾilă d-dāʿī yaqūlu l-kāfirūna hāḏā yaumun ʿasir, „mit gesenkten Blicken kommen sie aus den Gräbern wie ausschwärmende Heuschrecken, muhṭiʿīn zum Rufer. Die Ungläubigen sagen: ‚Das ist ein schwerer Tag’“). Die tafsīr-Literatur gibt zwei Deutungsalternativen: „hasten, eilen“ und „unverwandt blicken, starren“ (vgl. Ṭabarī, zu 14:43 : musriʿīna vs. mudīmĭ n-naẓar). Dabei werden beide Bedeutungen auch von den Lexika bezeugt, scheinen also nicht lediglich um die betreffenden Koranstellen herumkonstruiert zu sein (s. etwa Lisān, s. v. h-ṭ-ʿ ). Es ist denkbar, dass diese Doppelbedeutung von ʾahṭaʿa auf die nachträgliche Aufspaltung einer mutmaßlichen ursprünglichen Bedeutung „mit vorgebeugtem Haupt und (z. B. vor Schreck) starrem Blick vorwärts hasten“ zurückgeht, „prob. originally applied to a terrified horse or camel“ ( Ambros, Dictionary, 279 ).
Unter allen drei Stellen legt Q 14:43 am deutlichsten ein optisches Verständnis des Wortes nahe: Sowohl in V. 42 als auch in V. 43 ist vom „Blick“ (baṣar, ṭarf) der Ungläubigen die Rede, und die Pointe des folgenden ḥāl-Satzes lā yartaddu ʾilaihim ṭarfuhum, „ohne dass ihr Blick zu ihnen zurückkehrt“, liegt geradezu darin, dass die Ungläubigen trotz ihres angestrengten Starrens nicht in der Lage sind, die ihnen wiederfahrenden Ereignisse geistig zu verarbeiten („mit leeren Herzen“). Insofern 54:8 dieselbe Situation beschreibt wie 14:43, liegt es prima facie nahe, diese Bedeutung von ʾahṭaʿa auch für Sure 54 anzusetzen. Zwar spricht 54:7 zunächst von „gesenkten Blicken“ der Auferweckten, doch ist wohl gemeint, dass sie, nachdem sie zunächst zu Boden blicken, beim Auftreten des eschatologischen „Rufers“ (V. 8) aufschauen und ihr Entsetzen äußern („Das ist ein schwerer Tag“). Im vorliegenden Vers 70:36, der offenbar von neugierigen Gaffern spricht, wären prinzipiell beide Bedeutungen („sich herandrängen an“ und „hinstarren zu“) denkbar. Die Übersetzung („den Hals recken“) folgt Paret.
ʿizīn] Gilt als Plural von ʿiza, „Gruppe von Menschen“ ( Lane, Bd. 5, 2039a ).
ʾa-yaṭmaʿu kullu mriʾin minhum ʾan yudḫala ǧannata naʿīm] Zu kullu mriʾin s. die Anmerkungen zu 80:37 und zu 78:40, zu ǧannat ʾan-naʿīm s. die Anmerkung zu 81:13.
kallā ʾinnā ḫalaqnāhum mimmā yaʿlamūn] Gemeint ist in Analogie zu 86:5–7 (fa-l-yanẓuri l-ʾinsānu mimma ḫuliq / ḫuliqa min māʾin dāfiq / yaḫruǧu min baini ṣ-ṣulbi wa-t-tarāʾib, 80:18.19 (min ʾayyi šaiʾin ḫalaqah / min nuṭfatin ḫalaqahū fa-qaddarah) und 77:20 (ʾa-lam naḫluqkum min māʾin mahīn) die Erschaffung eines jeden Menschen aus einem Spermatropfen. Zum Verb ḫalaqa s. die Anmerkung zu 96:1.2.
fa-lā ʾuqsimu bi-rabbi l-mašāriqi wa-l-maġāribi] Wörtlich: „Nein, ich schwöre beim Herrn der Sonnenaufgänge und -niedergänge!“ Vgl. insb. 73:9 (rabbu l-mašriqi wa-l-maġribi lā ʾilāha ʾillā huwa fa-ttaḫiḏhu wakīlā) und 55:17 (rabbu l-mašriqaini wa-rabbu l-maġribain). Zu grundsätzlichen Hinweisen zu den koranischen Schwüren sowie ihrer wahrscheinlichen, aber bis dato noch nicht hinreichend untersuchten Anlehnung an ein charakteristisches Ausdrucksmittel altarabischer Seher (kuhhān) s. die Anmerkung zu 100:1–5; zu Aufbau und Funktion des hier vorliegenden Schwurtypus s. die Anmerkung zu 93:1.2 mit zahlreichen Parallelstellen. Zu Schwüren im Sureninnern vgl. die Anmerkung zu 86:11–14 mit weiteren Stellenangaben. Durch fa-lā eingeleitete Schwüre stehen sonst noch in 90:1, 84:16, 81:15, 75:1, und 69:38; zur Bedeutung vgl. die Anmerkung zu 84:16.
ʿalā ʾan nubaddila ḫairan minhum wa-mā naḥnu bi-masbūqīn] Vgl. 56:60.61 (naḥnu qaddarnā bainakumu l-mauta wa-mā naḥnu bi-masbūqīn / ʿalā ʾan nubaddila ʾamṯālakum wa-nunšiʾakum fī mā lā taʿlamūn).
fa-ḏarhum yaḫūḍū wa-yalʿabū] Der Vorwurf des leichtfertigen Geschwätzes Geredes wird auch in 43:83 (mittelmekkanisch) erhoben: fa-ḏarhum yaḫūḍū wa-yalʿabū ḥattā yulāqū yaumahumu llaḏī yūʿadūn; vgl. a. 52:11.12fa-wailun yaumaʾiḏin li-l-mukaḏḏibīn / allaḏīna hum fī ḫauḍin yalʿabūn sowie die Selbstbezichtigung in 74:45–47 (wa-kunnā naḫūḍu maʿa l-ḫāʾiḍīn / wa-kunnā nukaḏḏibu bi-yaumi d-dīn / ḥattā ʾatānă l-yaqīn).
ka-ʾannahum ʾilā nuṣubin yūfiḍūn] Vgl. die ebenfalls mit ka-ʾannahum formulierte Beschreibung des Zustands der Auferweckten in 79:46 (ka-ʾannahum yauma yaraunahā lam yalbaṯū ʾillā ʿašiyyatan ʾau ḍuḥāhā) ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 444 ). Zu nuṣub s. Wellhausen 1897, 101 : „Der Name nuçb, nuçub (Plural nçâb) oder mançab ... entspricht dem hebräischen maççeba (für mançeba). Der Nuçb dient als Altar, das Opferblut wird darauf gestrichen ... Er ist aber mehr als Altar, er repräsentiert die Gottheit, und zwar jede beliebige männliche oder weibliche Gottheit, nicht nur eine einzige, bestimmte, identische.“ Die Verbindung des Verbs ʾafāḍa mit dem Wort nuṣub legt eine rituelle Bedeutung von ʾafāḍa nahe. So soll ein als ʾifāḍa bezeichneter ritueller Lauf von ʿArafāt nach Muzdalifa (bei Sonnenuntergang) und weiter nach Minā (am Sonnenaufgang des folgenden Tags) bereits in vorislamischer Zeit Bestandteil des ḥaǧǧ gewesen sein (s. Lewis / Wensinck, „Ḥadjdj“, EI2 ). Er wird später in dem medinensischen Vers 2:198.199 erwähnt und als Teil des islamischen Pilgerritus sanktioniert.
ḫāšiʿatan ʾabṣāruhum tarhaquhum ḏillatun] Vgl. im Wortlaut identisch 68:43 und außerdem 88:2 (wuǧūhun yaumaʾiḏin ḫāšiʿah), 80:40–42 (wa-wuǧūhun yaumaʾiḏin ʿalaihā ġabarah / tarhaquhā qatarah / ʾulāʾika humu l-kafaratu l-faǧarah) und 79:9 (ʾabṣāruhā ḫāšiʿah).
Literaturliste
Die Sure setzt mit einer figura etymologica (saʾala sāʾilun) ein, die eine polemische Herausforderung heraufbeschwört: eine ungläubige oder spöttische Rückfrage nach der in frühen Korantexten verkündeten „hereinbrechenden Strafe“, wobei es wohl konkret um den Zeitpunkt derselben geht. Die Bezugnahme auf eine an den Verkünder gerichtete Frage macht es wahrscheinlich, dass sich der Text in eine von früheren Koransuren ausgelöste Debatte einschaltet. Nöldeke und Schwally verweisen auf die Anfangsverse von Q 56: „Vielleicht fragte ein Ungläubiger Muhammed spöttisch um Aufklärung über jene Verse, und erhielt nun in dieser Offenbarung eine donnernde Antwort.“ ( GdQ, Bd. 1, 106 ). Tatsächlich stehen in 56:1.2 dreimal Formen des auch in 70:1 gebrauchten Verbs waqaʿa, „eintreten, hereinbrechen“. Doch gehört dieses bereits seit frühmekkanischer Zeit zur gängigen eschatologischen Terminologie des Korans (vgl. neben Q 52 und 56 auch 51:6: wa-ʾinna d-dīna la-wāqiʿ; 69:15: fa-yaumaʾiḏin waqaʿati l-wāqiʿa; und 77:7: ʾinnamā tūʿadūna la-wāqiʿ), so dass seine Verwendung kaum ausgereicht haben dürfte, spezifische Koranstellen zu evozieren. Plausibler ist deshalb Bells Vermutung ( Commentary, Bd. 2, 421 ), der einen Rückbezug auf 52:7.8 (ʾinna ʿaḏāba rabbika la-wāqiʿ / mā lahū min dāfiʿ, „Die Strafe deines Herrn bricht herein; nichts kann sie abwenden“) annimmt. Denn dieser Passus weist neben der Verwendung des Partizips Aktiv von waqaʿa in Verbindung mit ʿaḏāb (in V. 7) auch eine fast wörtliche Übereinstimmung mit 70:2 (in V. 8) auf; insbesondere das Vorkommen von wāqiʿ und dāfiʿ als Reimwörter zweier aufeinanderfolgender Verse stellt eine so markante, im Gegensatz zu dem Verb waqaʿa nur auf Q 70:1.2 und 52:7.8 beschränkte Übereinstimmung dar, dass sie in der Tat als literarisches Signal intendiert sein dürfte. Q 70 ist insofern als Komplement zu Sure 52 zu lesen: Während dort eine Fülle von eschatologischen Detailschilderungen ausgebreitet wird, konzentriert sich die Durchführung des Themas in Q 70 auf den Aspekt sozialer Beziehungen. Dieser bestimmt die übergreifende Perspektive, aus der sowohl das Verhalten der Verdammten am Jüngsten Tag (V. 11 ff.) wie das der „Betenden“ in der Gegenwart (V. 22 ff.) geschildert werden. Da sowohl Q 70 als auch Q 52 zu Gruppe IIIb der frühmekkanischen Texte gehören, dürften Sure 70 nur kurze Zeit später als Sure 52 verkündet worden sein.
Die „hereinbrechende Strafe“ des Einleitungsverses geht, wie V. 3 deutlich macht, „von Gott, dem Herrn der Stufenleiter“ (mina llāhi ḏĭ l-maʿāriǧ) aus. Dabei knüpft die Präposition min direkt an den ʿaḏāb wāqiʿ aus V. 1 an; V. 2 ist eine Parenthese, die gemeinsam mit der Wendung ʿaḏāb wāqiʿ dazu dient, den Bezug auf den im Hintergrund der Debatte stehenden Passus 52:7.8 zu verdeutlichen. Bei dem Ausdruck „Herr der Stufenleiter“ ist vielleicht mit Neuwirth an die christliche Vorstellung von einer Himmelsleiter zu denken, auf der die Seligen sicher emporsteigen, während die Verdammten in den Abgrund stürzen. Der nachträglich hinzugefügte V. 4 konkretisiert die maʿāriǧ jedoch im Sinne des Szenarios der auf der Jakobsleiter auf- und absteigenden Engel: Anstelle einer Androhung eschatologischer Strafe steht nun das Bild einer geordneten kosmischen Prozession hin zu Gott, wie es auch in Q 97:4 nachträglich mit der lailat al-qadr verbunden wurde. Dabei ist in 97:4 nicht von einem Aufstieg, sondern – komplementär zu 70:4 – von einem Herabsteigen der Engel die Rede. Zusammen genommen ergeben die beiden Einschübe die Vorstellung eines durch Engel in Gang gehaltenen Kommunikationszirkels zwischen Himmel und Erde, der Gott trotz seiner majestätischen Unnahbarkeit eng mit allem irdischen Geschehen verknüpft. Der Aspekt der göttlichen Transzendenz wird durch das zweite Kolon von 70:4 noch unterstrichen: Die mit 50.000 Jahren angegebene Dauer der zwischen Himmel und Erde zurückzulegenden Wegstrecke sprengt alles menschliche Fassungsvermögen, reduziert sich aber in der Perspektive Gottes auf einen einzigen Tag. Wie in Psalm 90:4 wird so in Form einer Zeitliches mit Zeitlichem kontrastierenden Hyperbole die prinzipielle Überzeitlichkeit Gottes ausgesagt.
In der zweiten Hälfte des Einleitungsgesätzes, die ursprünglich direkt auf V. 3 folgte, interveniert Gott selbst in die Debatte zwischen dem Verkünder und seinen Gegnern. Erst jetzt wird eine Antwort auf die in den ersten drei Versen referierte Rückfrage gegeben. Dies geschieht in Form einer Mahnung Muḥammads zur Geduld (V. 5) und einer daran anschließenden Begründung, welche die Meinung der Widersacher, die Strafe sei – wenn überhaupt – noch weit entfernt, mit dem göttlichen Wissen um ihre drängende Nähe kontrastiert (V. 6.7). Diese als Abschluss des Anfangsgesätzes an prominenter Stelle stehende Begründung hebt sich auch stilistisch durch eine antithetische Konstruktion heraus: Die eschatologische Sorglosigkeit der Ungläubigen („sie“, V. 6) wird widerlegt, ja geradezu überschrieben durch die den Verkünder und seine Anhänger ins Recht setzende Perspektive des göttlichen „wir“ (V. 7). Das Gesätz kulminiert so in seinem Schlussvers in einer Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Zeitpunkt des Weltendes. Zwar enthält diese Entgegnung keine präzise zeitliche Vorhersage, dennoch trifft sie eine für den Koran ansonsten eher untypische und insbesondere über die der Eingangsfrage unterliegende Sure 52 hinausgehende zeitliche Verortung des Gerichtstags, indem sie diesen als zumindest sujektiv „nahe“ beschreibt. 70:6.7 ist damit eine der wenigen Koranstellen, die u. U. als Beleg dafür angeführt werden könnten, dass sich die frühmekkanische Anschubphase der koranischen Verkündigung aus einer realen Naherwartung speiste (vgl. noch 54:1: „Die Stunde ist nahegerückt und der Mond hat sich gespalten“). Im Gegensatz dazu ist für die Eschatologie mittel- und spätmekkanischer sowie medinensischer Texte vor allem die jederzeit gegebene Möglichkeit eines innergeschichtlichen oder endzeitlichen göttlichen Strafgerichts prägend, dessen fundamentale Relevanz für den Menschen sich nicht an der Kürze oder Länge der noch verbleibenden Zeitspanne bemisst.
Nachdem der in der Eingangsfrage anklingende Zweifel an der Realität des Jüngsten Gerichts durch eine göttliche Ansage seines nahen Bevorstehens überboten wurde, wendet sich das zweite Gesätz einer weiteren Konkretisierung des angekündigten Weltendes zu. Ab V. 11 treten dabei wieder die bereits in V. 6 nur pronominal („sie“) eingeführten Widersacher auf, die jetzt aber in den Kontext des von ihnen bestrittenen Endgerichts transportiert werden. Zunächst wird in V. 8.9 – in Anknüpfung an den früheren Vers 101:5 – eine Auflösung der scheinbar dauerhaftesten Elemente des Kosmos – Himmel und Berge, die sich beide in hochgradig instabile Stoffe verwandeln – beschworen. Der Zerfall von Himmel und Bergen setzt sich im Folgenden dann in einer gänzlichen Außerkraftsetzung aller sozialen und sogar familiären Bindungen fort. Diese wird in Form einer eindrücklichen Szene vorgeführt, deren Einsatz in V. 10 (wa-lā yasʾalu ḥamīmun ḥamīmā) stilistisch durch ein Polyptoton, die Wiederholung eines Wortes in einer anderen Beugungsform, markiert wird. Angesichts des drohenden Gerichts ist der Sünder sogar bereit, seine engsten Verwandten, beginnend mit seinen Söhnen und seiner Frau, zu opfern, um sich selbst zu retten.
An die Darstellung der Reaktion des Ungläubigen am Jüngsten Tag schließt sich eine Höllenbeschreibung an, deren prominente Position ebenfalls durch ein sprachliches Stilmittel, hier durch ein Enjambement (V. 15.16: ... laẓā / nazzāʿatan li-š-šawā), unterstrichen wird. Neuwirth hebt die kurzen Bauelemente der Höllenbeschreibung und ihr rhythmisches Tempo hervor ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 450 ) und weist darauf hin, dass in dem kurzen Lasterkatalog V. 17.18, wie etwa auch in 107:1–3, die Ablehnung der koranischen Botschaft (V. 17) Hand in Hand mit einer Vernachlässigung sozialer Pflichten (V. 18) geht. Die zweite Hälfte des Gesätzes, ein dreiversiger ʾinsān-Spruch (V. 19–21), verurteilt den Menschen, der auf gute wie schlechte Erfahrungen gleichermaßen defizitär reagiert. Die hier dem Menschen insgesamt zugeschriebenen Untugenden – ǧazaʿ und das habgierige Zurückhalten empfangenen Reichtums – sind bereits in der altarabischen Dichtung ausgesprochen negativ besetzt; sie werden hier jedoch zu anthropologischen Grundeigenschaften verallgemeinert, während der altarabische Heros der Dichtung von ihnen frei ist. Vor der Erweiterung des Mittelteils um die beiden Zusatzgesätze V. 22–35 stellte das dritte Gesätz den dramatischen Höhepunkt der Sure dar. Es schlossen sich ursprünglich nur noch die beiden Schlussgesätze V. 36–44 an, welche zusammen mit dem Anfangsgesätz den eschatologischen Mittelteil V. 8–21 polemisch rahmten.
Die beiden Zusatzgesätze verleihen der in ihrer anfänglichen Gestalt gänzlich auf die Schwächen – insbesondere den Unglauben – der Menschen und ihre eschatologische Bestrafung zielenden Sure nachträglich eine versöhnliche Note ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 448 ). Sie ergänzen das im zweiten und dritten Gesätz entfaltete Negativbild um einen positiven Gegenentwurf in Gestalt eines langen, sich über 13 Verse erstreckenden Tugendkatalogs mit abschließender Verheißung. Insofern der Tugendkatalog aus fast durchgehend parallel strukturieren Aussagen besteht (er weist 8 allaḏīna-Prädikationen auf), weist er geradezu litaneiartigen Charakter auf (vgl. auch 23:1–11) ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 450 ). Die Einfügung von V. 22–35 hat damit eine ähnliche Stoßrichtung wie der Einschub von V. 4, welcher der sonst düsteren Einleitung einen von der angedrohten Strafe ablenkenden feierlichen Ton unterlegt. Neuwirth bringt die Ergänzung von V. 22–35 in Zusammenhang mit der Herausbildung einer koranischen regelrechten koranischen Gemeinde (s. Neuwirth 1996 ), deren Angehörige eine entsprechende Milderung der Drohung im Anfangsteil sowie eine Entlastung von dem Verdikt des Wankelmuts erwartet haben könnten. Wie Andrae gezeigt hat, nehmen die beiden Zusatzgesätze zugleich Elemente christlicher Mönchsfrömmigkeit auf (s. Andrae 1932, 67 ). Dazu gehören insbesondere die regelmäßige und ausgiebige Gebetsverrichtung, die sogar mehrmals genannt wird (V. 22.23 und V. 34) sowie das Almosengeben (V. 24.25) und die Furcht vor dem Gericht (V. 26–28; s. hierzu Andrae 1932, 68 , der die Furcht als „eigentliches Kennzeichen der Frömmigkeit“ bei den Mönchen hervorhebt). Akzeptiert man die weiter oben vorgetragene Hypothese, dass V. 30.31 erst nachträglich – vielleicht in Medina – zu dem Tugendkatalog hinzugekommen sind, so könnte in V. 29 sogar das Ideal sexueller Enthaltsamkeit durchscheinen. Die von Tor Andrae angesichts der sonstigen Parallelen zwischen der eschatologischen Frömmigkeit der frühen Korantexte und der christlichen Mönchsethik gestellte Frage, warum der Koran „nirgends [...] die Haupttugend des Mönches, die von der westlichen wie auch von den meisten östlichen Kirchen so hoch gefeierte Virginität erwähnt“ ( Andrae 1926, 186 ), wäre dann dahingehend zu qualifizieren, dass sich sowohl in 70:29 als auch in der ebenfalls nachträglich qualifizierten Parallelstelle 23:5 zumindest ein Echo des Enthaltsamkeitsideals erhalten hat. – Wie an verschiedenen Stellen im Rest der Sure (vgl. V. 15.16, V. 36.37, V. 40.41) enthält auch der Zusatzteil ein Enjambement (V. 24.25: ḥaqqun maʿlūm / li-s-sāʾili wa-l-maḥrūm), welches jedoch nicht an positionell oder inhaltlich prominenter Stelle begegnet und lediglich dazu dienen dürfte, die Kürze der Verse des ursprünglichen Textes zu akkommodieren; in 51:19 (wa-fī ʾamwālihim ḥaqqun li-s-sāʾili wa-l-maḥrūm) wird denn auch eine fast identische Formulierung in einem einzigen Vers untergebracht.
Ohne den Zusatz V. 22–35 gelesen schließt die polemische Hinwendung zu den Hörern zu Beginn des Schlussteils (V.36 ff.) logisch an den ʾinsān-Spruch V.19–21 an. Zwei polemische Fragen (V. 36.37 und V. 38) blenden – wie bereits der Einleitungsvers – eine Situation aus der mekkanischen Gegenwart ein: Grüppchen von Neugierigen, vielleicht auch Spöttern, drängen sich um Muḥammad, doch wird ihnen eine genuin religiöse Motivation abgesprochen (V. 38: „Will etwa ein jeder von ihnen in den Garten der Wonne eingehen?“). Mit dem Hinweis auf den „Garten der Wonne“ in V. 38 enthält bereits der Ausgangstext von Q 70 – dessen Mittelteil ja ursprünglich nur aus der negativen Gesätzfolge V. 8–21 bestanden haben dürfte – eine zumindest indirekte Referenz auf die positive Vergeltung als Gegenstück zu der Höllenbeschreibung V. 15 ff. Der auf die beiden Fragen V. 36–38 folgende Ausruf V. 39 – der wie V. 15 und gleich darauf noch V. 40 mit der emphatischen Interjektion „Nein!“ beginnt – spielt auf die Geschaffenheit des Menschen aus „verächtlichem“ Sperma (vgl. 77:20) an, die Gottes uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Menschen belegt (V. 40.41). Die Sure schließt mit einer Aufforderung zur Standhaftigkeit und einem eschatologischen Temporalsatz, welcher die Verdammten hastig ihren Grüften entsteigen und mit niedergeschlagenen Augen dem Gericht entgegeneilen lässt. Der die Sure insgesamt abschließende Ausruf „Das ist der Tag, der ihnen angedroht worden ist!“ führt zu der im Eröffnungsvers zitierten Hörerfrage zurück. – Sowohl im sechsten als auch im siebten Gesätz fällt wie bereits in V. 15.16 die Verwendung von Enjambements auf, nämlich in (V. 36.37: muhṭiʿīn / ʿani l-yamīni wa-ʿani š-šimāli, und in V. 40.41: ʾinnā la-qādirūn / ʿalā ʾan nubaddila ḫairan minhum).
Literaturliste
Die von Nöldeke und Schwally als frühmekkanisch klassifizierte Sure ist genauer Gruppe IIIb zuzuordnen: Mit durchschnittlich 13,5 Silben pro Vers weist sie deutlich längere Verse auf als die Texte der Gruppe IIIa, ist dabei jedoch mit ursprünglich 29 Versen (ohne die Einschübe V. 4 und 22–35) ungewöhnlich kurz. Dennoch weist sie bereits eine dreiteilige Gliederung in Hauptteile auf, wobei sich die thematische Abfolge Einleitung – Eschatologie – Polemik noch in den ebenfalls zu IIIb zu zählenden Suren 52 und 69 findet ( Neuwirth, Studien, 213 ). 70:1.2 überschneidet sich in auffälliger Weise mit 52:7.8 (ebenfalls IIIb); da in Q 70 explizit von einer auf die „hereinbrechende Strafe“ bezogenen Hörerfrage die Rede ist (saʾala sāʾilun ...), ist wohl anzunehmen, dass in Q 70 ein Rückbezug auf Q 52 vorliegt (s. ausführlicher den kursorischen Kommentar zu 70:1–7). – Neuwirths Datierung der Sure geht davon aus, dass sich 70:1 auf 75:6 (yasʾalu ʾayyāna yaumu l-qiyāmah) zurückbezieht. Sie nimmt deshalb an, die beiden Texte müssten kurz nacheinander vorgetragen worden sein ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 54 ). Eine solche Datierung ist allerdings Einwänden ausgesetzt: 1) Die Konstatierung eines Rückbezugs von 70:1 auf 75:6 würde auf festerem Boden stehen, wenn zwischen den beiden Versen eine Überlappung im Wortlaut und nicht lediglich eine thematische Nähe bestünde; 2) selbst wenn beide Verse sich terminologisch berührten, so müssen sich deshalb nicht unbedingt derselben chronologischen Subgruppe zugehören, sondern es könnte sich um einen späteren Rückbezug handeln; 3) aus rein formaler und stilistischer Perspektive wäre Sure 70, wie Neuwirth selbst zugesteht, wohl später als Sure 75 anzusetzen.
V. 4 ist ein sekundäres Interpretament (so bereits Nöldeke/Schwally, GdQ, Bd. 1, 106 , und – allerdings mit einer wenig einleuchtenden Begründung – Bell, Commentary, Bd. 2, 421 ). Der Vers, der mit 30 Silben überlang ist (wiewohl auch der sicherlich ursprüngliche V. 11 mit 27 Silben ungewöhnlich lang ist), trägt eine Erläuterung des enigmatischen Attributs ḏŭ l-maʿāriǧ im Sinne des kontinuierlichen Auf- und Absteigens der Engel zwischen Himmel und Erde nach; Nöldeke und Schwally sprechen geradezu von einer „Glosse“. Ohne V. 4 ergibt sich für das Einleitungsgesätz V. 1–7 ein symmetrischer Aufbau aus zwei auch reimlich voneinander abgesetzten Dreiergruppen (V. 1–3: Referat einer gegnerischen Frage, V. 5–7: Entgegnung darauf).
Die durch ʾillā eingeleitete Versgruppe 22–35 ist wohl ebenfalls später hinzugekommen (vgl. Neuwirth, Studien, 201 f. ). Dafür spricht in erster Linie, dass eine spätere Qualifizierung von kategorischen ʾinsān-Sprüchen auch in anderen frühmekkanischen Texten zu beobachten ist (vgl. 95:6, 103:3; s. a. 84:25, wo die ʾillā-Einschränkung auf eine Strafankündigung folgt, und 74:39), auch wenn solche kurzen einversigen Zusätze nicht an den Umfang von 70:22–35 heranreichen. Einen Einschub legen außerdem die Tatsachen nahe, dass sich 70:36 bruchlos an 70:21 anschließt ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 442 ) und dass 70:22–35 z. T. wörtlich mit 23:1–11 (mittelmekkanisch) identisch sind. Die Erweiterung des Mittelteils von Q 70 von zwei auf vier Gesätze ist deshalb wohl wie Q 23 insgesamt in mittelmekkanische Zeit zu datieren, wo sich für die hier genannten Tugenden noch weitere Entsprechungen aufweisen lassen. Die Versgruppe baut den ursprünglich wohl nur aus einer Höllenbeschreibung bestehenden Mittelteil zu einer doppelbildartigen Kontrastierung von Bösen und Guten aus. Zusätzlich verkompliziert wird die Sachlage allerdings noch dadurch, dass dieser ausgedehnte Einschub seinerseits eine nachträgliche Erweiterung erfahren zu haben scheint: Sowohl bei Q 70:30–31 als auch bei den damit übereinstimmenden Versen 23:6–7 dürfte es sich, wie auch Neuwirth vermutet ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 442 ), um erst medinensische Zusätze handeln; als Argument für ihre Hypothese lässt sich vor allem der Befund ergänzen, dass die Umschreibung des Wortes „Sklave“ durch die Wendung „was ihre Rechte besitzt“ (mā malakat aymānuhum / aymānuhunna) ansonsten nur in spätmekkanischen (16:71) und medinensischen Texten begegnet (24:31, 33:50, 33:55).
Neuwirth ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 435 ) weist darauf hin, dass der Schlussteil (V. 36–44) längere Verse als die ersten drei Gesätze aufweisen; insbesondere V. 40–44 bestehen „durchweg aus zwei oder mehr Sätzen“; überdies stellt das zweite Kolon von V. 41 (wa-mā naḥnu bi-masbūqīn) bereits eine Klausel dar, also eine semantisch nicht zum „Hauptstrang des Redeverlaufs“ gehörige Gottesprädikation (zu den koranischen Klauseln s. allg. Neuwirth, Studien, 157–170 ). Die abschließenden Versgruppen zeigen damit bereits den „Übergang von streng poetischen Strukturen zu diskursiver, ein Argument formulierender Rede an“, sind deswegen jedoch nicht notwendig als Zusätze anzusehen, sondern passen vielmehr in die Endphase der frühmekkanischen Periode.
Die Sure ist insgesamt wohlproportioniert: Eingerahmt von einem Anfangsteil von 6 Versen und einem dazu im Verhältnis 3:2 stehenden Schlussteil von 9 Versen steht ein aus mehreren gleich langen Versgruppen bestehender Mittelteil. Auch der später eingefügte Zusatz nimmt auf diese Proportionen Rücksicht, indem er den beiden Siebenergruppen zwei weitere Siebener hinzufügt. Die Reimschemata markieren – außer zwischen Gesätz 6 und 7 – nicht nur die Gesätzgrenzen, sondern in den ersten drei Gesätzen auch Binnengrenzen. Die nachträglich eingefügten Gesätze 4 und 5 (s. o.) übernehmen den Reim des zweigesätzigen Schlussteils.
Teil I setzt ein mit einer aktuellen Frage, wohl nach dem Zeitpunkt der angedrohten Strafe (vgl. Q 77:7; 69:15; 52:7f.; 51:5f.), die von Gott, dem „Herrn der Stufenleiter“, verhängt wird. Die Frage wird in Gestalt einer Anrede des Verkünders beantwortet, welche diesen zur Geduld mahnt und die Nähe des zu erwartenden Strafgerichts festhält. Der im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehende Jüngste Tag wird dann in Teil II näher geschildert, wo insbesondere die endzeitliche Außerkraftsetzung sogar von Verwandtschaftsbanden hervorgehoben wird; ein nachträglich eingefügter Tugendkatalog (V. 22–35) „reflektiert Ideale der christlichen monastischen Frömmigkeit“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 447 , auf der Grundlage von Andrae 1932, 67 ). Teil III polemisiert gegen die Ungläubigkeit und Leichtfertigkeit einer offenbar skeptischen Hörerschaft und überblendet ihre gegenwärtige Unbekümmertheit (V. 36.37, V. 42) mit ihrer letztendlichen Demütigung am Jüngsten Tag (V. 43.44). Der abschließende Feststellung „Das ist der Tag, der ihnen angedroht worden ist!“ lässt sich als finale Entgegnung auf die einleitend referierte Frage nach der „hereinbrechenden Strafe“ verstehen.
Überblick
I Polemik | |
1–3 āK3K | 1 1–3 gegnerische Frage |
[4 anah] | [4 erklärender Zusatz: Erläuterung zu maʿāriǧ] |
5–7 2Kā | 5–7 Antwort: Mahnung zur Standhaftigkeit (mit Begründung: Nähe der Strafe) |
II Eschatologie | |
8–9 3KK, 10 2mā, | 2 8–10 eschatologischer Temporalsatz (yauma) |
11–14 3K(K)īh | 11–14 eschatologischer Nachsatz |
15–18 3K(K)ā, | 3 15–18 Höllenbeschreibung mit Lasterkatalog (V. 17.18) |
19–21 ūʿā | 19–21 ʾinsān-Spruch |
22–44 2n/m | [4 22–27 eingeschobenes Gesätz: Tugendkatalog, V. 28: parenthetische theologische Prädikation |
5 29–35 eingeschobenes Gesätz: Forts. Tugendkatalog, abschließende Verheißung an die Gläubigen (V. 35)] | |
III Polemik | |
6 36–38 polemische Fragen | |
7 39 Werkaffirmation | |
40.41 Schwur (V. 40a), theologische Prädikation als Schwuraussage (V. 40b.41) | |
42 Mahnung zur Abkehr von den Ungläubigen (fa-ḏarhum) | |
43.44 eschatologischer Temporalsatz (yauma) mit Nachsatz |
Proportionen (ohne V. 22–35):
Teil I: 6 Verse | Teil II: 14 Verse | Teil III: 9 Verse |
7+7 | 3+6 |