بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
إِنَّآ أَعۡطَيۡنَٰكَ ٱلۡكَوۡثَرَ |
1 Wir haben dir die Fülle gegeben. |
فَصَلِّ لِرَبِّكَ وَٱنۡحَرۡ |
2 So bete zu deinem Herrn und opfere! |
إِنَّ شَانِئَكَ هُوَ ٱلۡأَبۡتَرُ |
3 Dein Hasser ist der Abgeschnittene. |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
ʾinnā ʾaʿṭaināka l-kauṯar] Vgl. die ebenfalls unmittelbar mit göttlicher Wir-Rede einsetzende Sure 97 (ʾinnā ʾanzalnāhu fī lailati l-qadr); s. a. – allerdings nicht in Form einer ʾinna-Aussage, sondern als rhetorische Frage – 94:1 (ʾa-lam našraḥ laka ṣadrak). Kauṯar „ist eigentlich ein Adjektiv und bedeutet ‚viel, reichlich, in Fülle’; [...] daher ist es der massenhafte Staub (Diwān der Huḏailiten 92 V. 44); also hier ‚das Reichliche, die Fülle’“ ( GdQ, Bd. 1, 92, Anm. 4 ; vgl. WKAS, s. v. k-ṯ-r , mit weiteren Belegen). Luxenberg (2000, 304–310) liest kūṯar statt kauṯar und betrachtet dies als Arabisierung von syr. kuttārā, womit die „Tugend der Beständigkeit“ gemeint sei. Tatsächlich bedeutet syr. kattar „bleiben, fortfahren, warten, verharren etc.“, doch ist das Substantiv kuttārā offenbar nur im temporalen Sinne von „Dauer, Frist“ und nicht in ethischen Zusammenhängen als Tugendbegriff belegt (vgl. Payne Smith 1879–1901, Bd. 1, 1859 f. ); hier macht sich auf fatale Weise Luxenbergs Tendenz bemerkbar, von ihm postulierte Bedeutungen eines Ausdrucks nicht durch konkrete Textbeispiele aus der vorkoranischen syrischen Literatur zu belegen, sondern stattdessen lediglich auf Wörterbucheinträge zu rekurrieren. Zudem hat Luxenbergs Emendation des Ausdrucks zu kūṯar zur Folge, dass der erste Vers das im textus receptus vorhandene Reimschema 3KK3r durchbrechen würde – zumindest in formaler Hinsicht hätte die Emendation also einen Verlust und nicht einen Gewinn an Kohärenz zur Folge. Angesichts der von Nöldeke angeführten Belegstelle aus der Dichtung ist deshalb an der traditionellen Übersetzung „Fülle“ festzuhalten. Hierfür spricht auch ein Vergleich von Q 108 mit den eng verwandten Trostsuren 93 und 94: Beide Texte enthalten Vergegenwärtigungen von dem Verkünder zuteil gewordenen göttlichen Gnadenerweisen (93:6–8, 94:1–4), die sich jeweils nicht auf die Ausstattung mit abstrakten Charaktertugenden, sondern auf die Linderung und Beseitigung konkreter Notlagen und Mangelzustände beziehen. Mit 108:1 ist auch die Verheißung in 93:5 (wa-la-saufa yuʿṭīka rabbuka fa-tarḍā) zu vergleichen, in der ebenfalls das Verb ʾaʿṭā, „geben“, verwendet wird, und zwar offensichtlich in Bezug auf materiellen Wohlstand. Die schon in der frühen islamischen Exegese anzutreffende Erklärung des Ausdrucks als Name eines der Ströme des Paradieses wertet Luxenberg zu recht als spätere legendarische Ausschmückung.
fa-ṣalli li-rabbika wa-nḥar] Die Aufforderung, der Prophet möge sich am vorislamischen mekkanischen Opferkultus beteiligen, war für islamische Exegeten anstößig genug, um dem Verb naḥara hier die sicherlich konstruierte Bedeutung „beim Gebet die Hand zur Kehle (naḥr) heben“ zuzuschreiben (vgl. Ṭabarī, ad loc., Nr. 38191 ff. ); auch die Erklärung, der Vers sei auf das islamische Opferfest zu beziehen ( ebd., Nr. 38195 f. ), wäre für einen frühmekkanischen Text anachronistisch. Tatsächlich erscheinen altarabische Riten auch in einem anderen frühmekkanischen Text als verpflichtend (107:4–6; s. den folgenden Absatz). – Luxenbergs Emendation von wa-nḥar zu wa-nǧar mit der analog zu syr. ngar unterstellten Bedeutung „verharren“ ( Luxenberg 2000, 309 ) stellt einen willkürlichen Eingriff in den Text dar: Naḥara im Sinne von „opfern“ ist keineswegs ein ‚dunkles’ Wort, während das von Luxenberg postulierte Verb naǧara = „verharren“ weder sonst im Koran noch in der altarabischen Dichtung bezeugt ist. Überdies hätte für dieselbe Bedeutung und durchaus reimkonform das koranisch belegte Verb ṣabara zur Verfügung gestanden, so dass für die angenommene Entlehnung von syr. ngar lexikalisch keinerlei Notwendigkeit bestand.
Was das Verb ṣallā betrifft, so wird es auch in 107:4–6 auf die vorkoranische mekkanische Kultpraxis angewendet (vgl. den Kommentar zu Q 107, Abschnitt Literarkritik). Ṣallā ist zweifellos kein genuin arabisches Wort, sondern ein Denominativum zu ṣalāt (vgl. 107:5 und 70:23.34; 73:20, wo explizit zur Verrichtung des Gebets aufgerufen wird, ist ein Einschub), das sich wiederum von aram. ṣloṯā ableitet ( Jeffery, Foreign Vocabulary, 198 f. ; vgl. auch das Verb sabbaḥa, dessen koranische Verwendung im Sinne von „loben, preisen“ ebenfalls nur durch semantische Interferenz des Syrischen erklärlich ist, s. die Anmerkung zu 87:1). Wie Spitaler 1998, 194, betont, dürfte die unmittelbare Verbindung zum Aramäischen über den Plural ṣalawāt verlaufen, der aram. ṣlauwāṯā entspricht und aus dem dann sekundär der – aramäisierend geschriebene – Singular ṣalāt gebildet wurde. Da das Wort schon in der vorkoranischen Dichtung nachweisbar ist, muss die Entlehnung bereits in vorkoranischer Zeit stattgefunden haben ( Jeffery, ebd. ). Im frühmekkanischen Koran bezeichnet das Verb ṣallā außer in 108:2 und der Kultkritik in 107:4–6 noch an drei weiteren Stellen eine exemplarische Tugend (75:31: fa-lā ṣaddaqa wa-lā ṣallā, 87:15: wa-ḏakara sma rabbihī fa-ṣallā, 96:10: ʿabdan ʾiḏā ṣallā). In den Gruppen IIIa und IIIb tritt die Kollektivbezeichnung al-muṣallūn auf (vgl. 74:43, 70:22), deren Erscheinen mit demjenigen weiterer partizipial gebildeter Gruppenbezeichnung wie al-kāfirūn (s. die Anmerkung zu 84:22) und al-muttaqūn (s. die Anmerkung zu 92:5) koinzidiert.
Zum Gottestitel rabb s. die Anmerkung zu 95:8.
ʾinna šāniʾaka huwa l-ʾabtar] Die islamische Tradition deutet V. 3 als Anspielung auf eine konkrete Begebenheit: Mit dem „Hasser“ (šāniʾ) sei ein bestimmter Gegner Muḥammads – von allerdings umstrittener Identität – gemeint, der Muḥammad mit der Äußerung beleidigt habe, er sei ʾabtar – „gestutzt“ bzw. „schwanzlos“ – im Sinne von „ohne männliche Nachkommen“ (vgl. GdQ, Bd. 1, 92 f. ). Gegenüber dieser für die frühe islamische Koranexegese charakteristisch anekdotischen Lesart (vgl. zur selben Problematik auch die Anmerkungen zu 93:3, 93:6–8 und 111:2) dürfte eine unspezifischere Deutung vorzuziehen sein, der zufolge „der Ausspruch [...] nicht gegen eine bestimmte Person gerichtet ist, sondern gegen jeden, der den Propheten etwa hassen sollte“ ( Paret, Kommentar, ad loc. ). Für diese Einschätzung Parets spricht auch der – von Paret nicht bemerkte – textreferentielle Charakter des Verses. So hat Neuwirth ( Frühmekkanische Suren, 108 ) auf den Anklang des Begriffs šāniʾ an psalmistische Klagen über Hasser hingewiesen (s. z. B. Psalm 9:14, 41:8, 55:13, 81:16, 86:17, 106:10, 119:85, 139:21). Die Gestalt des „Hassers“ begegnet allerdings auch in der altarabischen Dichtung (vgl. ʿAbīd b. al-Abraṣ in Jones 1996, Bd. 2 , 38 f.: wa-kam yaṣīran šāniʾan ḥabību, „wie oft wird ein Freund zu einem Hasser!“). Schließlich hat auch die dem Hasser mit dem Wort ʾabtar angedrohte Entwurzelung eine textreferentielle Dimension (vgl. den von Yousef Kouriyhe identifizierten Intertext Psalm 52:7: „Darum wird Gott dich verderben für immer, dich packen und herausreißen aus deinem Zelt, dich entwurzeln aus dem Land der Lebenden“).
Literaturliste
Islamische Kommentatoren verstehen den Text in der Regel als Verteidigung Muḥammads gegen die Beschimpfung, er sei „abgeschnitten“ (d. h. ohne männliche Nachkommen). Aus textimmanenter Perspektive ist eine solche historische Konkretisierung jedoch unsicher. Die Deutung des Textes sollte deshalb vor allem von der typologischen Nähe zu den beiden Suren 94 und 97 ausgehen, die ebenfalls mit göttlicher Wir-Rede einsetzen. Wie Q 93 und 94 ist die Sure in erster Linie ein Trostspruch. V. 1 vergegenwärtigt dem Angeredeten einen früheren göttlichen Gnadenakt, der ähnlich wie in Q 93 und 94 bewusst unbestimmt gelassen wird. V. 2 leitet hieraus die gottesdienstliche Verpflichtung zur Teilnahme am mekkanischen Gebets- und Opferkultus ab, der folglich einer durch biblische Motive inspirierten Ausdeutung offengestanden haben muss. V. 3 schließt noch eine Verheißung an, welche dem Angeredeten den letztendlichen Triumph über etwaige „Hasser“ zusichert; die diesen angedrohte „Abgeschnittenheit“ (ʾabtar) steht dabei im Gegensatz zu der dem Eingangsvers zufolge dem Verkünder zuteil gewordenen Fülle. Eine historische Konkretisierung des Textes ist zu seinem Verständnis folglich keineswegs erforderlich.
Die drei Trostsuren 93, 94 und 108 stellen sehr wahrscheinlich die frühesten Korantexte dar, die genuine Anreden an den Verkünder enthalten; Lehrfragen in der zweiten Person Singular – mā ʾadrāka ... – begegnen zwar bereits in 101:2.10 und 104:5 (vgl. a. die ebenfalls in der zweiten Person Singular formulierte rhetorische Frage in 95:7), doch sind diese für sich genommen jeweils auch als generische Hörerbezüge verstehbar, die nicht notwendigerweise den Verkünder als konkretes Individuum intendieren müssen. Wie auf andere Weise auch die Offenbarungsbestätigung Q 97 leisten die Trostsuren damit einen wichtigen Beitrag zur Autorisierung der bis dato vorliegenden koranischen Verkündigungen: Der Verkünder erscheint als eine unmittelbaren göttlichen Zuspruchs würdige Gestalt, etwaige Widerstände oder Einwände gegen die von ihm vorgetragenen Texte dagegen als unbegründete Anfeindungen durch missgünstige „Hasser“ (V. 3). Schilderungen derartiger Anfeindungen sowie Bekundungen des zu ihrer Bewältigung befähigenden Gottvertrauens begegnen auch in zahlreichen Psalmen (dort allerdings nicht als Gottesrede, sondern im Register menschlichen Gebete), zu denen, wie Angelika Neuwirth herausgearbeitet hat ( Frühmekkanische Suren, 78–86, 90–93, 108 f., ), die drei Trostsuren eine Reihe von terminologischen Bezügen enthalten; auch in struktureller Hinsicht lassen sich durchaus psalmische Korrespondenzen finden (vgl. neben den jeweils in den Anmerkungen vermerkten Psalmenanklängen insb. die Gegenüberstellung des Aufbaus von Q 93 und Psalm 13 im Kommentar zu Q 93. Muḥammad werden also Züge des bedrängten psalmischen Beters verliehen, doch erhält er im Unterschied zu diesem eine direkte göttliche Antwort; er wird so mit beträchtlichem religiösen Prestige ausgestattet.
Eine weitere Kernaussage sowohl der drei Trostsuren als auch der früheren Suren 105 und 106 besteht darin, dass bestimmte historische Ereignisse und Zustände – die sowohl der kollektiven Lebenswirklichkeit der Mekkaner (Q 105 und 106) als auch der individuellen Biographie Muḥammads (Q 93, 94, 108) zugehören – als Wirkungen gütiger Zuwendungen Gottes lesbar gemacht werden (vgl. ausführlicher und in Auseinandersetzung mit Birkeland Müller 1988 ). In den genannten Suren manifestiert sich damit ein Umdeutungsprozess, welcher zuvor als Sphären von Kontingenz angesehene Realitätsbereiche zu Wirkungsfeldern eines personalen Akteurs transformiert. Diese innerweltliche Aktivität Gottes engagiert wiederum das ethische und kultische Handeln des Menschen; die göttliche Aktion verlangt eine bestimmte menschliche Reaktion. Es bietet sich an, dies mit der genau umgekehrten Rollenverteilung im altarabischen Opferkult zu kontrastieren: Dort ist es der Mensch, von dem durch Darbringung eines Opfers oder Vollbringung einer sonstigen religiösen Handlung die Initiative ausgeht, während die Gottheit reagiert – vgl. die pointierten Charakterisierungen des altarabischen Polytheismus bei Ammann, 2001, 18 und 33 : „Kultstätten sind Wunschstätten, an denen man opfert, um Gott um etwas anzurufen“; „Religion ist bei den alten Arabern kein Glaubenssystem, kein Ort der Reflexion, sie ist im Grunde nicht mehr als ein käuflicher Nothelfer. Der Dichter Labīd bringt den Sachverhalt auf den Punkt: ‚Ich halte die Furcht und das Lob [Gottes] für das beste und gewinnbringendste Geschäft, wenn man in arge Bedrängnis gerät’.“
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Eine Zuweisung zum Frühstadium der Korangenese, genauer zu Gruppe I der frühmekkanischen Texte, liegt aufgrund der Kürze der Verse (durchschnittliche Silbenzahl: 9), der Kürze des Textes insgesamt und auch angesichts seiner Nähe zu Q 93 und 94 nahe. Inhaltlich macht V. 2 („So bete zu deinem Herrn und opfere!“) eine Einordnung der Sure zu Beginn der koranischen Textgenese wahrscheinlich: Will man die Sure nicht als medinensisch auffassen und auf das islamische Opferfest beziehen – was aufgrund der obigen Gesichtspunkte als ausgesprochen unwahrscheinlich gelten muss – so dürfte sich der Vers auf den vorislamischen mekkanischen Opferkult beziehen, der in späteren Korantexten als Götzendienst verurteilt wird. Der Text wurde also zu einem Zeitpunkt verkündet, zu dem sich Muḥammad noch nicht grundsätzlich von der religiösen Praxis Mekkas distanziert hatte (vgl. Paret, Kommentar, ad loc. ). Formal und inhaltlich ist Q 108 mit Q 93 und 94 verwandt, die ebenfalls tröstende Anreden an den Verkünder darstellen, allerdings merklich länger sind und eine komplexere Binnenstruktur aufweisen (vgl. insb. Q 93: Schwureinleitung, Zuspruch, Rückblick auf Gnadenerweise, ethische Folgerungen). Birkeland 1956 will diese drei Trostsuren zusammen mit Q 105 und 106 an den Anfang der koranischen Textgenese stellen, da er in allen fünf Suren ein gemeinsames theologisches Profil zu erkennen glaubt. Allerdings erweist sich die Gruppe der von Birkeland behandelten fünf Kurzsuren bei näherer Betrachtung als recht heterogen. Während Q 105 und 106 das Kollektiv der Quraiš in den Mittelpunkt rücken und noch keine grundlegende Störung des Verhältnisses zwischen Gott und Menschen erkennen lassen, steht in Q 93, 94, 108 der individuelle Zuspruch an die Person des Verkünders im Vordergrund: Gott erscheint hier nicht als Schirmherr des mekkanischen Gemeinwesens, sondern als eine in die Biographie des Einzelnen eingreifende Macht. Tatsächlich stehen die drei Trostsuren in erheblich größerer Kontinuität zu anderen frühmekkanischen Texten: 93:4 spielt auf das Jenseits und damit mittelbar auch auf das Jüngste Gericht an, und Anreden des Verkünders am Surenanfang finden sich auch in Q 73, 74, 87 und 96 (wobei es sich dort allerdings nicht um Trostreden, sondern um hymnische Aufrufe zum Gottesdienst o. Ä. handelt). Vor diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, Birkelands Vermutung einer chronologischen Vorgängigkeit der von ihm untersuchten fünf Suren auf Q 105 und 106 einzuschränken, die sich in ihrem Gottesbild und in ihrer Haltung zum mekkanischen Gemeinwesen merklich von späteren Texten abheben (vgl. die Kommentare zu Q 105 und 106), und die drei Trostsuren in ein späteres Stadium der frühmekkanischen Periode zu setzen. Am ehesten wäre ihre Verkündigung gegen Ende von Gruppe I der frühmekkanischen Texte, also im Anschluss an die kurzen Droh- und Scheltworte Q 95, 102, 103, 104 und 107 (und wohl auch Q 111) denkbar (zur Kritik an Birkeland und zur Datierung der Sure s. ausführlicher Sinai 2010, 427–429 . Neuwirth übernimmt im Wesentlichen die Ansicht Birkelands und stellt die von ihm behandelten fünf Suren, erweitert um Q 97, allen anderen Koransuren voran ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 45 ). Sie ordnet die „noch exklusiv an ein ‚Du‘ gerichteten Suren“ 93, 94, 97, 107 und 108 einem „vor-kerygmatischen“ Stadium der Korangenese zu, auf welches erst sekundär eschatologisch geprägte Mahn- und Drohworte wie etwa Q 102 und 107 gefolgt seien. Ob eine solchermaßen lineare Hintereinandersetzung des Materials wirklich zwangsläufig ist, lässt sich jedoch bezweifeln. Schließlich wechseln sich auch in späteren Texten Du-Anreden des Verkünders mit Ihr- und Sie-Anreden einer breiteren Hörerschaft ab. Entsprechend ist auch für die Frühphase der koranischen Verkündigungen keineswegs auszuschließen, dass individuelle Anreden des Verkünders wie Q 108 im Wesentlichen zeitgleich mit ein allgemeineres Hörerkollektiv ansprechenden Texten wie Q 102 und 107 anzusetzen sind. Die Redekonstellationen beider Surentypen sind keineswegs so unvereinbar miteinander, dass sie eine Zuordnung zu zwei aufeinanderfolgenden Textstadien erfordern würden, sondern ergänzen sich vielmehr: Indem Q 93, Q 94und Q 108 Muhammad als Gegenstand besonderer göttlicher Fürsorge und als Teilnehmer an einem intimen Zwiegespräch mit Gott erscheinen lassen, statten sie ihn mit beträchtlichem Prestige aus (s. u. den kursorischen Kommentar) und untermauern so mittelbar auch die Autorität der von diesem Verkünder zeitgleich verlautbarten „kerygmatischen“ Suren. Die Verkünderanreden Q 93, Q 94und Q 108 reflektieren insofern nicht nur der privaten Selbstvergewisserung dienende „‚Gespräche‘ zwischen dem noch von seiner Berufungserfahrung überwältigten Propheten und seinem göttlichen Gegenüber“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 44 ), sondern sie leisten vor allem einen unübersehbaren Beitrag zur Autorisierung der in Suren wie Q 102 artikulierten Gerichtsverkündigung, haben also gerade durch die Intimität der in ihnen dargestellten Gesprächssituation eine öffentliche Signifikanz.
„Wie die andern mit ʾinna ([...] = ‚fürwahr wir’) beginnenden Suren (48.71.97.108) könnte auch diese ihren ursprünglichen Anfang verloren haben.“ ( GdQ, Bd. 1, 92–93 ) Ggf. wäre dabei an eine Schwureinleitung wie in Q 93:1–3 zu denken. Die Existenz von immerhin vier mit ʾinna einsetzenden Suren macht den Wegfall einer Einleitung in allen Fällen jedoch recht unwahrscheinlich; die Unmittelbarkeit des Einsatzes wird man deshalb innerhalb der koranischen Formensprache durchaus als literarische Möglichkeit akzeptieren müssen.
Zusammen mit Q 93 und 94 gehört Sure 108 zu den frühmekkanischen Trostsuren, welche dem Verkünder zuteil gewordene göttliche Gnadenerweise aufzählen, ihm zukünftige Erleichterung verheißen und abschließend sich daraus ergebende ethisch-religiöse Verpflichtungen benennen. Dieser Doppelschritt aus göttlichen Gnadenerweisen und daraus folgenden Normen – der sich ebenfalls in der wohl früheren, an das Kollektiv der Quraiš und nicht an das Individuum des Verkünders gerichteten Sure 106 findet (V. 1.2: Gnadenerweis Gottes gegenüber den Quraiš, V. 3: Verpflichtung zur Verehrung Gottes) – erscheint in Q 108 in extrem verdichteter Form (V. 1 und V. 2), während er in Q 93 (V. 1–8: Schwur, Zuspruch, Rückblick auf erwiesene Wohltaten; V. 9–11: daraus folgende ethische und religiöse Verpflichtungen) und Q 94 (V. 1–4: Rückblick auf Gnadenerweise; V. 7.8: Verpflichtung zum Gottesdienst) jeweils als Aufriss umfangreicherer Textstücke dient. Anders als in Q 93 und 94 folgt in der vorliegenden Sure auf die Benennung einer religiösen oder ethischen Verpflichtung des Angeredeten noch eine abschließende Verheißung.