بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
أَرَءَيۡتَ ٱلَّذِی يُكَذِّبُ بِٱلدِّينِ |
11 Was meinst du von dem, der das Gericht leugnet? |
فَذَٰلِكَ ٱلَّذِی يَدُعُّ ٱلۡيَتِيمَ |
2 Das ist der, der die Waise wegstößt |
وَلَا يَحُضُّ عَلَىٰ طَعَامِ ٱلۡمِسۡكِينِ |
3 und nicht zur Speisung des Armen anhält. |
فَوَيۡلٌۭ لِّلۡمُصَلِّينَ |
24 Wehe den Betenden, |
ٱلَّذِينَ هُمۡ عَن صَلَاتِهِمۡ سَاهُونَ |
5 die nicht auf ihr Gebet achtgeben, |
ٱلَّذِينَ هُمۡ يُرَآءُونَ |
6 die nur gesehen werden wollen |
وَيَمۡنَعُونَ ٱلۡمَاعُونَ |
7 und Hilfeleistung verweigern! |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
ʾa-raʾaita] Vgl. 96:9.11.13 (ʾa-raʾaita llaḏī yanhā / ʿabdan ʾiḏā ṣallā / ʾa-raʾaita ʾin kāna ʿală l-hudā / ʾau ʾamara bi-taqwā / ʾa-raʾaita ʾin kaḏḏaba wa-tawallā) und 53:33.34 (ʾa-fa-raʾaita llaḏī tawallā / wa-ʾaʿṭā qalīlan wa-ʾakdā).
allaḏī yukaḏḏibu bi-d-dīn] Zu den verschiedenen Gebrauchsweisen von kaḏḏaba vgl. die Anmerkungen zu 95:7, 92:16 und 73:11. Ad-dīn bzw. yaum ad-dīn erscheinen frühmekkanisch vor allem als Gegenstand des Glaubens (ṣaddaqa) oder Unglaubens (kaḏḏaba; vgl. die Anmerkung zu 95:7), wie die folgenden Stellen dokumentieren (die es auch nahelegen, gegen die von Ibn Masʿūd überlieferte Lesart allaḏī yukaḏḏibu d-dīna – vgl. Muʿǧam, ad loc. – am textus receptus festzuhalten): 95:7 (fa-mā yukaḏḏibuka baʿdu bi-d-dīn), 83:11 (allaḏīna yukaḏḏibūna bi-yaumi d-dīn), 82:9 (kallā bal tukaḏḏibūna bi-d-dīn), 74:46 (wa-kunnā nukaḏḏibu bi-yaumi d-dīn) und 70:26 (wa-llaḏīna yuṣaddiqūna bi-yaumi d-dīn).
Birkelands Hypothese, dīn werde in 107:1 nicht in der Bedeutung von „Gericht“ (d. h. äquivalent mit yaum ad-dīn) gebraucht, sondern im Sinne von „Religion“, scheitert bereits daran, dass ad-dīn und yaum ad-dīn als präpositionale Objekte von kaḏḏaba offensichtlich synonym sind (vgl. insb. 82:9.15.17.18, wo abwechselnd dīn und yaum ad-dīn stehen; derselbe Wechsel lässt sich in 51:6.12 beobachten: wa-ʾinna d-dīna la-wāqiʿ; yasʾalūna ʾayyāna yaumu d-dīn). Dīn dürfte deshalb frühmekkanisch generell mit „Gericht“ zu übersetzen sein und nicht, wie Nöldeke und Schwally offenbar annehmen ( GdQ, Bd. 1, 77 ), mit „Religion“. Auch Birkelands Gedanke, dass in Q 107 die Bedeutung „Gericht“ noch nicht sinnvoll sei, weil Muḥammad zu diesem Zeitpunkt (wie V. 4 ff. implizieren) noch am vorislamischen mekkanischen Gebetsritual teilgenommen habe, ist nicht zwingend: Es ist durchaus denkbar, dass die Kultseparierung zwischen der koranischen Urgemeinde und den heidnischen Mekkanern erst zu einem Zeitpunkt stattgefunden hat, zu dem die Gerichtsthematik bereits fester Bestandteil der Korantexte geworden war.
Dennoch bleibt natürlich richtig, dass der Ausdruck dīn in späteren Korantexten durchaus „Religion“ bedeutet, vgl. nur 109:6: lakum dīnukum wa-liya dīn(-i). Der Hintergrund für diese Bedeutungsverschiebung ist in der komplexen Etymologie des Wortes zu suchen: Unter dem Einfluss von aram. dīnā, „Gericht“ und insbesondere „Jüngstes Gericht“ (und zwar sowohl in rabbinischem wie in syrisch-christlichem Sprachgebrauch), hat das arabische Verbalsubstantiv dīn im Koran zunächst einen eschatologischen Sinn, wie er erstmals in 95:7 und 107:1 dokumentiert ist; durch Interferenz mit mittelpers. dēn nimmt das Wort später jedoch auch die Bedeutung „Religion“ an ( Jeffery, Foreign Vocabulary, 131–133 ; Birkeland 1937, 217 , erwägt eine rein innerarabische Rekonstruktion der Bedeutung von dīn, die jedoch wenig überzeugend ist). Der Übergang von einer aramäisch bestimmten Semantik von dīn zu einer mittelpersisch bestimmten ist dabei nicht allein linguistisch erklärbar: Denn das koranische Wort dīn konnte nach seiner zunächst ausschließlich eschatologischen Verwendung wohl nur deshalb überhaupt in den Sog von mittelpers. dēn geraten, weil der zu Beginn der koranischen Verkündigungen so zentrale Gerichtsgedanke nach und nach zugunsten der Ausbildung einer eigenständigen und umfassenden Religion in den Hintergrund trat. – Ein interessantes Schlaglicht auf die vorkoranische Semantik von dīn ergibt sich aus einem wahrscheinlich authentischen Gedicht Umayya b. abī ṣ-Ṣalts (TUK, Nr. 525), welches dīn bereits im Sinne von „Religion“ verwendet. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass ein vom Persischen bestimmter Gebrauch des arabischen Wortes dīn eine lexikalische Innovation der medinensischen Koransuren darstellt.
fa-ḏālika llaḏī yaduʿʿu l-yatīm / wa-lā yaḥuḍḍu ʿalā ṭaʿāmi l-miskīn] Vgl. den zu V.2.3 parallelen Teil des Lasterkatalogs in 89:17.18: kallā bal lā tukrimūna l-yatīm / wa-lā taḥāḍḍūna (bzw. in einer alternativen Lesart yaḥuḍḍūna) ʿalā ṭaʿāmi l-miskīn, „Nein! Ihr seid nicht gütig gegen die Waise, / haltet (euch untereinander) nicht zur Speisung des Armen an, / verzehrt die gesamte Erbschaft / und liebt den Besitz innig!“ Die drei Elemente Speisung – Waise – Armer tauchen in früh- und mittelmekkanischer Zeit auch noch in dem Tugendkatalog 90:13–16 auf, Waisen und Arme noch in 89:17.18 (kallā bal lā tukrimūna l-yatīm / wa-lā taḥāḍḍūna ʿalā ṭaʿāmi l-miskīn) und Waisen und Bettler in 93:9 (fa-ʾammă l-yatīma fa-lā taqhar / wa-ʾammă s-sāʾila fa-lā tanhar); vgl. a. 69:34 (wa-lā yaḥuḍḍu ʿalā ṭaʿāmi l-miskīn) und 74:44 (wa-lam naku nuṭʿimu l-miskīn). Es handelt sich dabei also um einen schon früh im Koran auftretenden sozialkritischen Topos. Auf ähnlich stereotype Weise können in der hebräischen Bibel „Witwe und Waise“ (s. Exodus 22:21.22, Deuteronomium 14:29, Maleachi 3:5) und „arm und elend“ (ʿonī we-eḇyôn; z. B. Jeremia 22:16, Ezechiel 18:12, 22:29) kombiniert werden. Die Verdienstlichkeit karitativer Taten und insbesondere der Speisung von Armen wird aber auch im Neuen Testament betont, u. a. in der bekannten Passage Matthäus 25:35 ff., wo sie – wie in der vorliegenden Sure – in einen eschatologischen Zusammenhang gestellt wird: Beim Jüngsten Gericht redet der Menschensohn die Seligen mit den Worten an: „Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; / ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben ...“ S. a. die Anmerkungen zu 93:9 und zu 90:11–16. Ebenfalls um einen Topos prophetischer Ethik handelt es sich bei den koranischen Ermahnungen, „volles Maß zu geben“; vgl. die Anmerkung zu 83:1–4.
Textkritik: Statt yaduʿʿu wird auch die Lesart yadaʿu (von waḍaʿa) tradiert ( Muʿǧam, ad loc. ). Für die Mehrheitslesung yaduʿʿu spricht jedoch, dass das schärfere „wegstoßen“ inhaltlich angemessener scheint und auch im folgenden Vers eine geminierte Wurzel (ḥaḍḍa) gebraucht wird.
Gegen eine äußerliche Verrichtung des Gebets polemisiert schon Matthäus 6:5: „Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden (ὅπως φανῶσιν τοῖς ἀνθρώποις = 107:6: allaḏīna hum yurāʾūn)“ ( Rudolph 1922, 13, 16 ; zu weiteren Literaturangaben s. TUK, Nr. 266). Zur Frage der Zusammengehörigkeit von V. 1–3 und V. 4–7 die Anmerkungen zur Literarkritik.
fa-wailun li-l-muṣallīn / allaḏīna hum ʿan ṣalātihim sāhūn] Zu ṣallā und ṣalāh vgl. die Anmerkung zu 108:2. Mit s-h-w (sāhūn, vgl. frühmekkanisch noch Q 51:11: allaḏīna hum fī ġamratin sāhūn) ist inhaltlich wohl dasselbe wie mit dem später häufigen Begriff der ġafla gemeint, der Tor Andrae zufolge der u. a. bei Ephrem verurteilten religiösen Sorglosigkeit und Nachlässigkeit entspricht ( Andrae 1926, 135 f. ).
Versabteilung: Die Verszähltraditionen von Damaskus, Mekka und Medina setzen nach yurāʾūn keinen Versschluss ( Spitaler, Verszählung, 73 ); formkritisch ist dies deshalb plausibel, weil auch in dem Wehspruch 83:1–3 auf einen kürzeren Einleitungsvers ein relativischer Lasterkatalog aus zwei längeren Versen folgt ( Neuwirth, Studien, 36 ). Akzeptiert man trotz der allerdings vorhandenen Reimpotenz yurāʾūn die Zusammenziehung von V. 6.7, so ergibt sich für Sure 107 ein symmetrischer Aufbau von zwei Dreiergruppen.
wa-yamnaʿūna l-māʿūn] Vgl. 68:12 (mannāʿin li-l-ḫairi muʿtadin ʾaṯīm) und 70:21 (wa-ʾiḏā massahu l-ḫairu manūʿā). Geiger leitet den Ausdruck māʿūn von hebr. māʿôn, „Wohnung“ und auch „Zuflucht“, her und übersetzt V. 7 entsprechend mit „sie verweigern die Obhut“ bzw. „sie geben keinem Hülfesuchenden ein Obdach“. Nöldeke (1910, 28) akzeptiert Geigers Ableitung, lehnt jedoch die Annahme ab, das arabische Wort müsse notwendigerweise dieselbe Bedeutung wie der etymologisch zugrundeliegende hebräische Ausdruck bewahrt haben. Als Beleg zitiert er einen Vers von al-Aʿšā Maimūn, in dem es über den Gelobten heißt, kein „schäumender Euphratkanal“ sei „verschwenderischer als er mit seinen Wohltaten“, bi-ʾaǧwada minhu bi-māʿūnihī; s. TUK, Nr. 180). Der ursprünglich aus dem Hebräischen stammende Ausdruck māʿūn hatte also offenbar bereits in vorkoranischer Zeit die Bedeutung „Wohltat“, „Spende“ o. Ä. angenommen. Nöldekes Position hat sich auch Rhodokanakis angeschlossen, der die eigenständige Bedeutungsentwicklung von arab. māʿūn durch Interferenz mit arab. maʿūna (von ʿ-w-n) erklären will ( Rhodokanakis 1911, 67 f. ). Gleichwohl ist nicht auszuschließen, daß die koranische Verwendung des Ausdrucks bewußt den Anklang an hebräisch māʿôn sucht.
Literaturliste
Die Sure etabliert systematisch einen Konnex zwischen religiösen Überzeugungen und kultischen Handlungen einerseits und der moralischen Bewährung des Einzelnen im Alltag. Die erste Versgruppe tut dies in Form einer mit ʾa-raʾaita eingeleiteten Frage, die rhetorisch eine Stellungnahme des Hörers zu „denen, die das Gericht leugnen“ einfordert; die Sure wendet sich damit vielleicht an Kultteilnehmer, die das in V. 4 f. dargestellte Verhalten selbst beobachten (zum Sitz im Leben der frühmekkanischen Suren s. allg. Neuwirth, „Rezitationstext“ ). Die in V. 2.3 gegebene Antwort setzt die Leugner des Gerichts dann mit Menschen gleich, welche „die Waise wegstoßen“ und „nicht zur Speisung des Armen anhalten“. V. 1–3 stellen damit die beständige Gewärtigung des eschaton als Voraussetzung gesellschaftlicher Solidarität dar und behandeln damit ein auch in anderen frühmekkanischen Suren zentrales Thema: Derselbe Zusammenhang wird in Q 92:5.6.8.9 hergestellt, während 104:1–3 schildert, wie menschliches Handeln in Ermangelung des geforderten eschatologischen Grundbewusstseins aussieht. Die in diesen Texten geforderte Zukunftsorientierung, welche die Erwartung einer Rechenschaftsablegung am Jüngsten Tag zur Basis innerweltlichen Handelns macht, komplementiert die Vergangenheitsorientierung der früheren Sure 106, die als Grund für ethisches Handeln in der Gegenwart noch auf göttliche Gnadenerweise in der Vergangenheit verwies.
Wie V. 1 weist auch der Eröffnungsvers der zweiten Versgruppe einen rhetorisch markanten Einsatzpunkt auf, nämlich die einen Lasterkatalog einleitende Interjektion „Wehe ...“ (wail). Die anschließenden Verse zielen zunächst (V. 4–6) auf die kultische Nachlässigkeit der Getadelten ab, doch wirft der Schlussvers diesen zusätzlich noch eine „Verweigerung von Hilfeleistung“ vor: Die am Ende der ersten Versgruppe exemplarisch angeführte Unterlassung der Unterstützung besonders schwacher Gesellschaftsmitglieder (Waisen und Arme, die bereits in der Hebräischen Bibel metonymisch für sozial Schwache insgesamt stehen) wird damit am Surenschluss noch einmal unter einen allgemeinen Oberbegriff gestellt. Inhaltlich korrespondieren insofern V. 1 und V. 4–6 (religiöse Unterlassungen) und V. 2.3 und V. 7 (soziale Unterlassungen), wobei somit insgesamt in der ersten Versgruppe das Augenmerk eher auf sozialen und in der zweiten Versgruppe eher auf religiösen Verfehlungen liegt.
Im Schlussvers sticht die kaum zufällige Wurzelähnlichkeit zwischen māʿūn und dem Verb manaʿa hervor, die zwei unterschiedliche Permutationen desselben Konsonantenbestandes (m-n-ʿ / m-ʿ-n) enthalten; die Verwendung des hapax legomenonmāʿūn (zur Etymologie s. o.) anstelle eines gängigeren Begriffes ist sicherlich auch durch diese Assonanz motiviert. Der Gegensatz zwischen der eigentlich gebotenen „Hilfeleistung“ und ihrer faktischen „Verwehrung“ wird so durch eine sprachliche Ähnlichkeit der betreffenden Worte hervorgehoben – in der Terminologie späterer Rhetoriker handelt es sich um die Stilfigur des ǧinās maqlūb.
Literaturliste
Die Kürze der Verse (durchschnittliche Länge: 9,9 Silben) spricht für das hohe Alter der Sure, wobei allerdings umstritten ist, ob V. 4–7 nicht eine nachträgliche Erweiterung darstellen (s. u., Literarkritik). Auffällig ist daneben, dass die Sure – wie etwa auch Q 103 und 104 – ihre Anklage religiöser und sozialer Missstände noch nicht in eine antithetische Kontrastierung von Guten und Bösen einbettet, wie sie für spätere Suren charakteristisch ist. Auch dies kann als Indiz für einen frühen Entstehungszeitpunkt gewertet werden, zu dem die später zentrale Dichotomie von Anhängern und Gegnern der koranischen Verkündigung noch nicht ausgeprägt war. Die Sure gehört zu Gruppe I und dort genauer zu den kurzen, nur aus einfachen Versgruppen zusammengesetzten Droh- und Scheltworten Q 95, 102, 103, 104 und 111, die chronologisch wohl nach Q 105 und Q 106 und vor detaillierteren Ausmalungen des Jüngsten Gerichts wie Q 100 und 101 anzusetzen sind (vgl. die Einleitung zu Q 105). Vom Aufbau vergleichbar ist dabei insbesondere Sure 104, die ebenfalls aus einem Wehspruch (mit folgendem Drohwort) und einer daran anschließenden Lehrfrage zusammengesetzt ist; die Struktur von Q 107 verhält sich dazu in gewisser Weise invers, insofern hier erst eine rhetorische Frage und dann ein Wehspruch steht.
Paret erwägt, V. 4–7 als nachträglichen Zusatz anzusehen: „Denn hier ist von Betern die Rede, die auf ihr Gebet nicht achten und (dabei von den Leuten) gesehen werden wollen. Ein derartiger Typ von Frömmigkeit ist in der Zeit vor der Hiǧra innerhalb der muslimischen Gemeinde kaum denkbar“ ( Paret 1961, 242 ). Tatsächlich sind die beiden Abschnitte von Q 107, anders als in der strukturell verwandten Sure 104, nicht durch pronominale Rückbezüge oder Wortwiederholungen miteinander verschränkt, was die Frage nach der Einheitlichkeit des Textes nahelegt. Doch auch wenn in medinensischer Zeit eine zu 107:4–7 ganz ähnliche Kritik an bestimmten Mitgliedern der koranischen Gemeinde geäußert wird (vgl. 4:142, wo ebenfalls das Verb rāʾā auftaucht, und 9:54), so unterscheiden sich diese Stellen von 107:4 ff. doch deutlich in Verslänge und Terminologie (in 4:142 und 9:54 steht kusālā statt wie in 107:5sāhūn, und die Kritisierten werden explizit als munāfiqūn, „Heuchler“, bezeichnet). Nun gibt es eine frühmekkanische Stelle, die den vorislamischen mekkanischen Opferkult ausdrücklich als ein „Gebet“ bezeichnet: 108:2 fordert Muḥammad auf, zu seinem Herrn zu beten und zu opfern (fa-ṣalli li-rabbika wa-nḥar; vgl. Birkeland, 1958a, 238 ; s. a. allg. zur Sure Birkeland, 1958b ). Die Ursprünglichkeit von 107:4–7 ist damit zumindest sehr wahrscheinlich: V. 4 meint nicht das islamische Gebet der medinensischen Zeit, sondern den vorislamischen Kaʿba-Kultus, der, wie 108:2 belegt, ebenfalls als „Gebet“ bezeichnet werden konnte; vgl. einen bei Paret (Kommentar, ad loc.) zitierten Brief von S. D. Goitein: „Bezüglich der ṣalāt der Mekkaner glaube ich, dass dieser Ausdruck schon von Christen und Juden für den sehr oberflächlichen Kultus der Heiden gebraucht worden ist. Muḥammad war empört, dass seine Landsleute ihren eigenen Kult nicht ernst nahmen. Am Anfang seiner Laufbahn glaubte ja M. selbst an das Numen seiner Vaterstadt.“ Dabei muss vorerst offen bleiben, ob diese vorislamische mekkanische ṣalāh wirklich einen ausschließlich heidnischen Charakter hatte oder nicht vielleicht auch durch eine Anverwandlung jüdisch-christlichen Traditionsgutes geprägt gewesen sein könnte.
Die Sure baut sich aus zwei kurzen Versgruppen auf (polemische Schilderung des Bösen V. 1–3, Wehspruch V. 4–7). Dabei steht in V. 1–3 die Leugnung des Jüngsten Gerichts und unsolidarisches Sozialverhalten im Vordergrund; V. 4–7 kritisieren eine nur äußerliche Gebetsteilnahme, schlagen jedoch mit dem Vorwurf verweigerter „Hilfeleistung“ im Schlussvers wieder den Bogen zurück zu dem in V. 2.3 angeprangerten Mangel an gesellschaftlicher Solidarität. Beide Abschnitte verknüpfen insofern jeweils ein religiös-kultisches Vergehen (V. 1: Leugnen des Gerichts, V. 4–6: nachlässige und nur auf Äußerlichkeiten bedachte Kultteilnahme) mit Versäumnissen aus der Sphäre zwischenmenschlichen Umgangs (V. 2.3 und V. 7: unterlassene Hilfeleistung insbesondere gegenüber Waisen und Armen). Die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit der Kultteilnahme, so V. 4–7, bemisst sich damit auch an außerkultischem Handeln. Religionsgeschichtlich ist die damit postulierte Verschränkung von sakraler und profaner Sphäre bzw. von Kultus und Ethos durchaus keine Selbstverständlichkeit. Denn frühe Korantexte wie Q 92, Q 104 und Q 107 heben sich hierin deutlich von ihrem altarabischen Umfeld ab, in dem Kultaussübung vor allem eine Verrichtung zum Zwecke magischer Zukunftsbeeinflussung oder –erhellung gewesen zu sein scheint; die das gesellschaftliche Miteinander strukturierenden Werte begründeten sich im altarabischen Kontext noch anderweitig.
Stilistisch dominieren in der gesamten Sure Relativsätze: In V. 1 wird der Fragegegenstand, die Person des Leugners, relativisch eingeführt, in V. 2 und 3 fungiert ein zweiteiliger Relativsatz als Prädikat zu ḏālika, in V. 5–7 ist der Wehspruch aus V. 6 durch zwei Relativsätze (von denen der zweite wiederum aus zwei Teilsätzen besteht) erweitert. Alle diese Relativsätze zählen negative religiöse oder soziale Eigenschaften auf, so dass die Sure insgesamt den Charakter eines Lasterkatalogs hat, dessen formale Kohärenz sich vor allem den Relativpronomen verdankt (relativisch um einen Lasterkatalog erweiterte Wehsprüche stehen auch in 83:1–3 und 104:1–3; ihnen folgen dort jedoch Beschreibungen ihrer eschatologischen Konsequenzen, die in Q 107 nicht zur Sprache kommen).