بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
لِّإِيلَٰفِ قُرَيۡشٍ |
1 Für die Gewöhnung der Quraiš, |
إِۦلَٰفِهِمۡ رِحۡلَةَ ٱلشِّتَآءِ وَٱلصَّيۡفِ |
2 ihre Gewöhnung an die Winter- und Sommerreise |
فَلۡيَعۡبُدُوا۟ رَبَّ هَٰذَا ٱلۡبَيۡتِ |
3 sollen sie dem Herrn dieses Hauses dienen, |
ٱلَّذِیٓ أَطۡعَمَهُم مِّن جُوعٍۢ |
4 der sie genährt hat gegen Hunger |
وَءَامَنَهُم مِّنۡ خَوۡفٍ |
und gesichert hat gegen Furcht. |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
Im Hinblick auf den Ausdruck ʾīlāf in V. 1 und 2 besteht sowohl textkritische als auch semantische Unsicherheit (s. allg. Paret, Kommentar, ad loc. ).
Textkritik: Da das Langalif dem traditionellen rasm zufolge in beiden Versen nur nachträglich in den Konsonantenduktus eingetragen wurde und dasselbe auch für das yāʾ in V. 2 gilt, welches das lange ī von ʾīlāf notiert, wäre für den zweiten Vers prinzipiell auch eine Lesung ʾilf zu erwägen (vgl. in diesem Sinne Muʿǧam, ad loc. ). Jeffery und Birkeland zufolge werden für V. 1 von Ibn Masʿūd u. a. auch die Variante li-yaʾlafa bzw. li-taʾlafa (mit dem Konsonantenduktus l-y-ʾ-l-f) tradiert (vgl. Jeffery 1937, 112, 275 , sowie Muʿǧam, ad loc. ). Birkeland nimmt deshalb als ursprünglichen Wortlaut an li-yaʾlafa Quraiš / ʾilfahum ..., der in medinensischer Zeit zur heutigen Textfassung verändert worden sei (zu seiner Deutung der Sure s. Birkeland 1956 , 102–130; vgl. die Kritik in Paret, Kommentar, ad loc. ). Rubin weist jedoch darauf hin, dass die Ibn Masʿūd zugeschriebene Variante eigentlich la-yaʾlaf (bzw. la-taʾlaf) mit lām al-ʾamr lautet ( Rubin 1984, 184 f. ) und folgendermaßen zu übersetzen wären: „Quraiš sollen sich [an die Verehrung Gottes] halten, / auf dieselbe Weise, wie sie sich an die Winter- und Sommerreise halten.“ Rubin hat sicherlich recht damit, dass diese Lesart Produkt theologischer Reflexion und somit sekundär ist ( Rubin, ebd., 182 ): „On the pure theological level, the idea that the Quran should refer to the benevolence of Allāh towards Quraysh in an early Meccan sura, was entirely intolerable to scholars of the first century A.H. For these scholars, Quraysh could not have possibly enjoyed the benevolence of Allāh, as long as they did not embrace Islam.“ – Für die traditionelle Mehrheitsversion, die zweimal ʾīlāf liest, spricht überdies, dass die Wiederaufnahme eines Wortes im Folgevers ein koranisches Stilmittel ist, das auch in Q 96 (V. 1.2, V. 4.5, V.15.16), 87:18.19 und 40:36.37 zum Einsatz kommt (s. ausführlicher den Kommentar zu 96:1.2).
Lexik: Wie Crone (1987, 204–214) herausgearbeitet hat, dürfte es sich bei einem Großteil der im Zusammenhang mit Q 106:1.2 überlieferten Traditionen um nachträgliche exegetische Spekulationen handeln, bei denen durchweg fraglich ist, ob sie auf genuin historischem Wissen über ein System von als ʾīlāf bezeichneten Schutzabkommen zwischen den Quraiš und den die Handelsrouten flankierenden Beduinenstämmen beruhen. Eine kontrollierbare Deutung des Ausdrucks kann deshalb nur durch Ableitung von der Wurzelbedeutung versucht werden. Alifa kann sowohl „verbunden sein mit“ als auch „sich gewöhnen an“ bedeuten; entsprechend kann der vierte Stamm die Bedeutungen „vereinigen, verbinden“ oder aber „jdn. mit etw. verbunden sein lassen“, insb. im Sinne von „jdn. an etw. (eine Sache, einen Ort) gewöhnen“, transportieren (Lane, Bd. 1, 79b–80b). Die erste Alternative ist die in westlichen Koranübersetzungen gängige (vgl. Paret : „Dass die Quraisch zusammenbringen, / die Reise des Winters und Sommers zusammenbringen“). Dagegen hat Uri Rubin auf überzeugende Weise dafür plädiert, auch die in der obigen Übersetzung zugrunde gelegte Alternative zu erwägen, die in der islamischen Kommentarliteratur durchaus präsent ist. Dieser Deutung zufolge ist Quraiš nicht Subjekt, sondern erstes Objekt von ʾīlāf; wörtlich wäre zu übersetzen: „Aufgrund der Gewöhnung der Quraiš, / ihrer Gewöhnung an die Winter- und Sommerreise ...“. Dabei hat ʾālafa / ʾīlāf aber wohl nicht nur die Bedeutung von „gewöhnen“, sondern „seems to have a more specific meaning of enabling someone to resort habitually to a place under complete protection“ ( Rubin 1984, 170 ; vgl. 175 : „This maṣdar means to remove the hardships of performing something, so that it can be practised habitually, or, at one’s pleasure.“).
In einem kürzlich erschienen Artikel nimmt Rubin allerdings weitgehend Abstand von dieser früheren Deutung ( Rubin 2011 ). Er geht nun davon aus, dass die Erwähnung der quraišitischen Sommer- und Winterreisen nur „ in a tone of disapproval“ gemeint sein könne, „to deplore Quraysh whose winter and summer journey has become their chief preoccupation, while ignoring the benevolence of the lord of the Kaʿba who has provided for all their needs within their own ḥaram. This means that in the eyes of the Qurʾān the repeated winter and summer journey was too excessive and marked the compulsive engagement of Quraysh in an improper habit that stemmed from avaricious pursuit of worldly advantage outside Mecca which contradicted their religious duties.“ ( Rubin 2011, 7 ) Rubins Neudeutung zufolge manifestiert die Sure also ganz und gar kein positives Verhältnis zu den Quraiš, sondern ordnet sich vielmehr in die lange Reihe koranischer Anklagen gegen die Gier und Gottesvergessenheit der Mekkaner ein. Problematisch hieran ist allerdings, dass ein solches Verständnis den Text inhaltlich ganz und gar von Sure 105 ablöst, obwohl diese ihm nicht nur stilistisch näher als alle übrigen Koranverkündigungen steht, sondern auch traditionell eng mit ihm in Verbindung gebracht wird (s. o. Literarkritik). Stattdessen stellt Rubin die vorliegende Sure mit verschiedenen spätmekkanischen und medinensischen Stellen zusammen, die den Wohlstand Mekkas seiner Ansicht nach allein von Gott und nicht von irgendwelchen menschlichen Anstrengungen abhängig machen ( Rubin 2011, 3 ) – meiner Ansicht nach ein tendentiell anachronistisches Vorgehen, welches die spezifische Aussage von Sure 106 an diejenige späteren Koranpassagen assimiliert. Rubins Übersetzung des einleitenden li als missbilligendes lām li-t-taʿaǧǧub („Wonder you at the habitual preoccupation of Quraysh ...“) ( Rubin 2011, 7 ) lässt sich insofern mit den diesem Kommentar zugrundeliegenden chronologischen Prämissen nicht vereinbaren. Umso erstaunlicher ist deshalb, dass Neuwirth – die Q 106 ebenfalls zu den frühesten Koransuren rechnet und ansonsten sehr um Anachronismusvermeidung bemüht ist – Rubins Neudeutung der Sure scheinbar vorbehaltlos übernimmt ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 118 und 120 ; sie übersetzt: „Wozu nur das Beharren der Quraish ...“). Wenn Neuwirth zugleich daran festhält, im Hinblick auf Q 105 und 106 von „kollektiv orientierten Providenzversicherungen“ ( Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 45 ) zu sprechen (vgl. auch ebd., 122 : „Q 106 ist ein eng an Q 105 anschließender Text über göttliche Gunstbezeigungen“), so verkennt sie damit, wie grundsätzlich Rubins Umdeutung des Textes einer solchen von Birkeland inspirierten Charakterisierung zuwiderläuft. – Übrigens ist Rubins Gedanke, das einleitende li- sei als lām li-t-taʿaǧǧub aufzufassen, durchaus einleuchtend und impliziert für sich genommen noch nicht, dass die Sure die quraišitischen „Winter- und Sommerreisen“ missbilligt. Man könnte also durchaus auch folgendermaßen übersetzen: „Wie die Quraiš gewöhnt sind, / an die Winter- und Sommerreise gewöhnt sind! / Darum sollen sie dem Herrn dieses Hauses dienen ...“. Die ersten beiden Verse würden also Erstaunen über das regelmäßige Gelingen der „Winter- und Sommerreise“ ausdrücken und dann dazu aufrufen, Gott hierfür den ihm gebührenden Dank abzustatten.
fa-l-yaʿbudū rabba hāḏă l-bait] Als bait wird die Kaʿba frühmekkanisch noch in 52:4 bezeichnet. Die Anrede Gottes als rabb hāḏă l-bait entspricht dem in einer nabatäischen Inschrift für Duschara gebrauchten Gottestitel mrʾ bytʾ ( Healey 2001, 92 ; mündlicher Hinweis von David Kiltz). Die Parallele bestätigt die durchaus mit der islamischen Tradition kongruente Ansicht, dass es sich bei der gepriesenen Gottheit um eine ursprünglich im mekkanischen Lokalkult verwurzelte Schutzgottheit handelt. Zum Verhältnis des Gottesnamens Allāh zu dem hier gebrauchten Titel „Herr“ vgl. die Anmerkung zu 95:8 Andrae weist darauf hin, „dass die christlichen Dichter den Gott der Kaʿba als den christlichen Gott betrachtet haben und dass sie folglich an dem dortigen Kultus as an ihn gerichtet teilnehmen konnten“; so schwört etwa ʿAdī b. Zaid in einem Atemzug „beim Herrn Mekkas“ (wa-rabbi Makkata) und dem Gekreuzigten ( Andrae 1926, 39 ).
allaḏī ʾaṭʿamahum min ǧūʿin wa-ʾāmanahum min ḫauf] Ḥimṣ, Mekka und Medina setzen einen Verstrenner nach ǧūʿin ( Spitaler, Verszählung, 73 ). Das so entstehende Versende stimmt jedoch nicht mit dem Reimschema überein. Da V. 4 für einen Schlussvers auch nicht übermäßig lang ist, ist eine Unterteilung von V. 4 abzulehnen ( Neuwirth, Studien, 36 ). – Zu der Wendung ʾāmanahum min ḫauf vgl. 95:3 (wa-hāḏă l-baladi l-ʾamīn). Das Verb ʾāmana hat hier noch seine genuin arabische Bedeutung „Sicherheit gewähren“, während später die aus dem Nordsemitischen entlehnte Bedeutung „glauben“ vorherrscht (s. die Anmerkung zu 69:33).
Literaturliste
Die Sure besteht nur aus einem einzigen, vier Verse umfassenden Satzzusammenhang und weist einen Monoreim mit Konsonantenwechsel (3KK mit vorherrschenden Spiranten) auf. Vor dem Hintergrund von V. 3, wo Gott als „Herr dieses Hauses“ (= der mekkanischen Kaʿba) beschrieben wird, ist mit Rubin davon auszugehen, dass Q 106 insgesamt auf den besonderen Status abhebt, den die Quraiš als Bewohner des mekkanischen ḥaram genossen und der ihnen in den Augen der übrigen Stämme eine sakral begründete Unverletzlichkeit verlieh. Die Sure ist damit wie Q 105 dem besonderen Schutz gewidmet, den Allāh dem mekkanischen ḥaram gewährt, und hält die Quraiš zu entsprechender Dankbarkeit an. V. 1 und 2 geben in Gestalt eines Präpositionalausdrucks den Grund des Dankes an (ʾīlāf der Winter- und Sommerreise), V. 3 schließt einen jussivischen Aufruf zur Gottesverehrung an; dieser wird dann in V. 4 durch einen hymnischen Relativsatz ausgebaut und motiviert, der noch einmal Gottes Gnadenerweise gegenüber den Quraiš zusammenfasst. Ein formal ähnlicher, jedoch inhaltlich ganz anders gelagerter (nämlich auf Gottes universale Schöpfer- und Offenbarungsrolle abhebender) Relativsatz begegnet in Q 96:1.4.
Die Sure weist so eine syllogismusartige Zweitaktigkeit auf: V. 1 und 2 beschreiben eine Tatsache, V. 3 und 4 erschließen daraus die Verpflichtung der Quraiš, Gott dafür den ihm gebührenden Dank abzustatten. Dieser Übergang vom Faktischen zum Normativen bzw. von der literarischen Form des im Perfekt (in der dritten Person Singular oder der ersten Person Plural) formulierten Berichts zur imperativischen Verhaltensanweisung lässt sich ähnlich auch in Q 93 (ab V. 9) und Q 94 (ab V. 7) und mit einem Jussiv anstelle des Imperativs auch in Q 108 (ab V. 1) beobachten. Zur grundlegenden theologischen Aussage von Q 105 und 106 s. a. den Kommentar zu 105:1–5.
Obwohl Rubin ʾīlāf in V. 1.2 im Sinne von „gewöhnen an, ermöglichen“ deutet (s. o.), stellt er die Historizität von als ʾīlāf bezeichneten Schutzabkommen zwischen den Quraiš und den übrigen arabischen Stämmen nicht gänzlich in Frage (s. jetzt Rubin 2011, 27 , mit dem Hinweis, dass die Information, die mekkanischen Schutzabkommen seien ʾīlāf genannt worden, üblicherweise nicht in exegetischen, sondern in lexikographischen und historischen Werken zu finden ist – was gegen Patricia Crones These spricht, es handele sich bei solchen Überlieferungen letzten Endes nur um koranexegetische Spekulationen). Dass die Sure den traditionell mit solchen Sicherheitsbündnissen assoziierten Terminus verwendet, versteht Rubin als eine Art Wortspiel ( Rubin 1984, 171 f. ): „It is indeed true that the sources occasionally apply the name ʾīlāf to these pacts, but the similarity between this name and the phrase ‚li-ʾīlāfi Quraysh’ does not necessarily mean that our sūra deals with these agreements. On the contrary, it seems that by using the root ‚a.l.f.’, the Quran intends to suggest that instead of the earthly pacts with the tribes, which were seldom observed, Quraysh eventually gained divine protection, a ‚godly’ ʾīlāf, which provided them for the first time with a firm basis for their safety and welfare.“ Die Anerkennung des mekkanischen ḥaram und seiner Stellung als wichtiges Pilgerzentrum – die sich wiederum in der Einrichtung von Märkten wie ʿUkāẓ und damit auch in einer wirtschaftlichen Besserstellung Mekkas niederschlug – führt Rubin dabei auf das in Q 105 geschilderte Fehlschlagen des Angriffs Abrahas zurück, der den Mythos von der Sakralität und Unverletzlichkeit Mekkas begründet habe ( ebd., 176–179 ); Q 105 enthält damit also die Ätiologie für den in Q 106 als Ausdruck göttlichen Wirkens geschilderten Jetztzustand.
Während Rubin die traditionelle Erklärung der „Winter- und Sommerreise“ aus V. 2 als von den Quraiš unternommene Handelsreisen zu akzeptieren scheint (vgl. die in Rubin 2011, 5 angeführten, bedenkenswerten innerkoranischen Argumente für die Historizität mekkanischer Handelsreisen), gibt Peters (1999, xxxvi) zu bedenken, dass es hierbei auch um saisonale Pilgerfahrten zum mekkanischen Heiligtum gehandelt haben könnte; angesichts von Crones Dekonstruktion einer mekkanischen „republique marchande“ (so die Formulierung von Henri Lammens) ist dies eine durchaus erwägenswerte Vermutung (vgl. Peters 1999, xxxvi f. : „whatever the Quraysh possessed came from the cult around the Kaʿba“). Für ein Verständnis der theologischen Pointe der Sure ist diese Frage jedoch nachrangig; wichtig ist, dass Q 106 genauso wie Q 105 den besonderen Status des mekkanischen ḥaram als Resultat der gnadenvollen Aktivität Gottes lesbar machen will: „Not circumstances, not human skill, not covenants per se, but the Lord is the source of the favourable position of Quraiš“ ( Birkeland 1956, 128 ). Im Unterschied zu Q 105 werden dabei die sich aus Gottes Zuwendung ergebenden kultischen Verpflichtungen der von ihm Begünstigten explizit gemacht (vgl. ähnlich die an den Verkünder gerichteten Trostsuren Q 93, Q 94 und Q 108): „Sie sollen den Herrn dieses Hauses anbeten“ (Q 106:3). Es ist nicht wahrscheinlich, dass der Text seinen Hörern damit etwas ganz und gar Unerhörtes mitteilte: Die Tatsache, dass Gott, das eigentliche Subjekt von V. 1.2, in der ersten Texthälfte gar nicht explizit erwähnt wird, legt nahe, dass es unter den Quraiš bereits ein rudimentäres Bewusstsein davon gab, Empfänger besonderer Gnadenerweise Allāhs zu sein (vgl. Rubin 1984, 167). Wie auch in der späteren Stelle 10:22.23 deutlich wird, radikalisiert der Koran hier religiöse Überzeugungen, die in diffuser Form bereits gegeben waren (ohne dass man deshalb, wie Amman (2001) zu recht insistiert, die koranischen Verkündigungen als geschichtlich notwendige Vollendung einer sich bereits vorkoranisch abzeichnenden Tendenz zum Monotheismus verstehen muss). Ein ausdrückliches Bekenntnis zum Eingottglauben ist allerdings erst späteren Texten vorbehalten (gegen Rubin 1984, 173 ).
Literaturliste
Dass es sich bei Sure 106 um einen frühmekkanischen Text handelt, kann angesichts der Kürze der Verse (durchschnittliche Silbenzahl pro Vers: 11) und des für viele andere frühe Suren charakteristischen Gottesnamens rabb + Suffix bzw. (wie hier) nomen rectum (statt des später gängigen Gottesnamens Allāh) als sicher gelten; aufgrund seiner Kürze ist der Text genauer Gruppe I zuzuordnen. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich Q 106 zusammen mit Q 105 theologisch deutlich von den übrigen frühmekkanischen Texten abhebt: Gott erscheint hier (noch?) nicht als universaler Schöpfer und Richter, sondern als gütiger Schutzherr des mekkanischen Gemeinwesens (zu einer jüngst von Uri Rubin vorgetragenen Neudeutung, derzufolge die Sure die Handelsaktivitäten der Quraiš nicht auf göttlichen Schutz zurückführt, sondern vielmehr missbilligt, s. u. die Anmerkung zu 106:1); zudem fehlt jeder Hinweis auf die in den anderen frühmekkanischen Texten beschriebene massive Störung im Verhältnis zwischen Gott und Mensch (vgl. nur Q 100:6 ff. oder, noch prägnanter, Q 103:1.2). Den mit späteren Texten kontrastierenden affirmativen Bezug auf die Quraiš, die in späterer Zeit nur noch als allaḏīna kafarū, „die Ungläubigen“, figurieren, hat bereits Richard Bell hervorgehoben ( Bell 1926, 73 ). Q 105 und 106 – deren enge Zusammengehörigkeit auch aus der Überlieferung spricht, die beiden Texte hätten ursprünglich einmal eine einzige Sure gebildet (s. u., Literarkritik) – gehören deshalb zweifellos zu den frühesten Korantexten und bilden möglicherweise sogar den Einsatzpunkt der koranischen Textgenese überhaupt, sind also wohl zu Beginn von Gruppe I der frühmekkanischen Suren anzusetzen (vgl. Sinai 2010, 425–428 ). Kurze Droh- und Scheltworte wie Q 95, 102, 103, 104, 107 und 111, die eine fundamentale Störung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch ansagen, wären dann Ausdruck einer auf Q 105 und 106 folgenden theologischen Neuorientierung, mit der erstmals das Kernthema der frühmekkanischen Texte (die ethisch-religiöse Unzulänglichkeit des Menschen und die Realität des Jüngsten Gerichts) angeschnitten würde.
Harris Birkeland fasst Sure 105 und 106 mit den an den Verkünder als Individuum gerichteten Trostsuren Q 93, 94 und 108 zu einer Gruppe von frühen Suren zusammen, die seiner Meinung nach ein einheitliches theologisches Profil aufweisen ( Birkeland 1956 ); jedoch weisen Q 105 und 106 einerseits und Q 93, 94 und 108 hinreichende Unterschiede auf, um ihre von Birkeland vermutete Zusammengehörigkeit in Frage zu stellen (vgl. die Bemerkungen zur Datierung von Q 105 für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit seiner These; zu Angelika Neuwirths Übernahme von Birkelands These s. die Ausführungen zur Datierung von Q 108).
Im Anschluss an manche islamischen Exegeten vertritt Peters die These, Q 105 und Q 106 hätten ursprünglich eine einzige Sure gebildet ( Peters 1999, xxxv ). Dabei will Peters, der die „dangling conjunction“ am Anfang von Sure 106 moniert, 106:1.2 offenbar nicht als präpositionalen Auftakt zu Q 106:3.4 konstruieren, sondern das Verspaar syntaktisch noch zu dem in 105:2 beginnenden Satzzusammenhang rechnen. Die von ihm postulierte Satzperiode macht allerdings einen nicht weniger unnatürlichen Eindruck als die sich bei einer Trennung beider Texte ergebende „dangling conjunction“. Für eine Zugehörigkeit von 106:1.2 zu den folgenden und nicht zu den vorausgehenden Versen spricht aber vor allem der unterschiedliche Reim der beiden Suren (Q 105 reimt auf 3(K)K2l, Q 106 dagegen auf 3KK).