بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
وَٱلۡعَصۡرِ |
1 Beim Spätnachmittag! |
إِنَّ ٱلۡإِنسَٰنَ لَفِی خُسۡرٍ |
2 Der Mensch steckt im Verlust! |
إِلَّا ٱلَّذِينَ ءَامَنُوا۟ وَعَمِلُوا۟ ٱلصَّٰلِحَٰتِ |
3 Außer denen, die glauben und gute Werke tun |
وَتَوَاصَوۡا۟ بِٱلۡحَقِّ وَتَوَاصَوۡا۟ بِٱلصَّبۡرِ |
und einander zur Wahrheit und Geduld anhalten. |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
wa-l-ʿaṣr] Die arabischen Lexika verzeichnen eine Reihe von z. T. gegensätzlichen Bedeutungen: „Zeit, Zeitspanne“, „Tageszeit“, „Morgen“, „Nachmittag, Abend“; der Dual al-ʿaṣrān wird mit „Tag und Nacht“ erklärt ( Lane, Bd. 5, 2062b ). Da auch andere Suren von Schwüren eröffnet werden, die bestimmte Tageszeiten wie Tagesanbruch, Morgen oder – besonders häufig – die Nacht nennen (Q 74:33, 81:17, 89:1.4, 91:1.4, 92:1, 93:1.2), stellt wohl auch ʿaṣr eine spezifische Zeitangabe dar und bezeichnet nicht allgemein „Zeitspanne“ o. Ä. (so ohne weitere Begründung Cuypers 1999, 47 ). Falls wirklich der Spätnachmittag intendiert ist, so hebt sich Q 103 von allen anderen frühmekkanischen Schwüren bei Tages- und Nachtzeiten ab, die entweder die Nacht oder verschiedene Stadien des Morgens und Vormittags evozieren. Zu grundsätzlichen Hinweisen zu den koranischen Schwüren sowie ihrer wahrscheinlichen, aber bis dato noch nicht hinreichend untersuchten Anlehnung an ein charakteristisches Ausdrucksmittel altarabischer Seher (kuhhān) s. die Anmerkung zu 100:1–5; zu Aufbau und Funktion des hier vorliegenden Schwurtypus s. die Anmerkung zu 93:1.2 mit zahlreichen Parallelstellen.
Versabteilung: Medina II zieht V. 1 zu V. 2 ( Spitaler, Verszählung, 72 ). Wie die anderen Schwüre am Surenanfang ist aber auch wa-l-ʿaṣr als eigenständiger Vers zu sehen ( Neuwirth, Studien, 35 ).
ʾinna l-ʾinsāna la-fī ḫusr] Die Übersetzung folgt Zirker . – Gemeint ist vielleicht, dass der Mensch aufgrund seines Verhaltens der jenseitigen Seligkeit verlustig geht. Von einem eschatologischen „Verlust“ ist, wie Torrey 1892, 32 , anmerkt, auch in Lukas 9:24 („Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten“) die Rede; in der Pschitta steht hier für gr. ἀπόλλῡμι syr. ḥsar, also die dem arabischen ḫasira bzw. ḫusr entsprechende Wurzel (s. TUK, Nr. 178). Vgl. a. Paulus Brief an die Philipper 3:7.8 (TUK, Nr. 179). Für einen eschatologischen Gebrauch von ḫasira, ḫusr im Koran gibt es noch zahlreiche weitere Belege, s. Torrey 1892, 30–32 . In frühmekkanischer Zeit vgl. noch 79:12 (qālū tilka ʾiḏan karratun ḫāsirah).
allaḏīna ʾāmanū] Zum Verb ʾāmana s. die Anmerkung zu 69:33.
wa-tawāṣau bi-l-ḥaqqi wa-tawāṣau bi-ṣ-ṣabr] Vgl. 90:17 (ṯumma kāna mina llaḏīna ʾāmanū wa-tawāṣau bi-ṣ-ṣabri wa-tawāṣau bi-l-marḥamah). Zu der für spätmekkanische und medinensische Texte charakteristischen Wendung allaḏīna ʾāmanū wa-ʿamilŭ ṣ-ṣāliḥāt s. den Abschnitt Literarkritik weiter oben.
Versabteilung: Medina II setzt einen Verstrenner nach ḥaqq ( Spitaler, Verszählung, 35 ). Dabei ergäbe sich zwar ein Reim, jedoch würden zwei gedanklich zusammengehörende und parallel gebaute Satzteile getrennt ( Neuwirth, Studien, 35 ). Da V. 3 vermutlich ein späterer Zusatz ist (s. o.), ist die übermäßige Länge des Verses ohnehin nicht überraschend.
Literaturliste
Die auf 3Kr reimende Sure besteht aus einem eingliedrigen Schwur „beim späten Nachmittag“ mit rügendem ʾinsān-Spruch als Schwuraussage; V. 3 nimmt in Gestalt eines kurzen Tugendkatalogs die Gläubigen von dem in V. 2 artikulierten Vorwurf aus und schränkt damit die vorangehende Verurteilung des Menschen schlechthin im Sinne einer Differenzierung von Guten und Bösen ein.
Interpretatorisch ist insbesondere die Frage nach dem Zusammenhang von V. 1.2 von Interesse. Neuwirth schreibt Schwüren bei Tages- und Nachtzeiten allgemein die Funktion zu, „die durch Nennung bestimmter Gottesdienstzeiten evozierbaren liturgischen Erfahrungen des Offenbarungs-Empfängers festzuhalten [...] und damit der gesamten Sure einen hymnischen Grund-Tenor zu unterlegen“ ( Neuwirth, „Horizont“, 21 ). Eine solche hymnische Konnotation klingt jedoch im vorliegenden Text nirgends nach (vgl. auch die kritische Erörterung von Neuwirths Hypothese in der Anmerkung zu 93:1.2). Den inhaltlichen Bezug zum Folgevers macht deshalb am ehesten Robinsons profane Deutung des ʿaṣr als des Zeitpunkts, zu dem Händler am Ende eines Markttags ihre Einnahmen berechnen ( Robinson 2003, 163 ), verständlich. Der ʾinsān-Spruch in V. 2 würde dann dem durch den einleitenden Schwur evozierten Bild finanziellen Gewinns eine Ansage des dem Menschen drohenden eschatologischen „Verlustes“ entgegenstellen. Robinsons Interpretation überzeugt auch angesichts des sich ergebenden Bezugs zu Q 104, wo ebenfalls irdischer Reichtum und jenseitige Verdammung kontrastiert werden. Gleichwohl ist nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen, dass mit dem Nachmittag doch eine Gebetszeit gemeint sein könnte (so Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 157 ).
Literaturliste
Die ursprünglich nur aus zwei kurzen Versen bestehende Sure gehört zu Gruppe I der frühmekkanischen Suren, genauer gesagt zu den kurzen, nur aus einfachen Versgruppen aufgebauten Droh- und Scheltworten Q 95, 104, 107 und 111. Die Gruppe dieser prägnanten Ansagen einer fundamentalen Störung des Gott-Mensch-Verhältnisses ist chronologisch wohl nach Q 105 und Q 106 und wahrscheinlich vor detaillierteren Ausmalungen des Jüngsten Gerichts wie Q 100 und 101 anzusetzen (vgl. die Einleitung zu Q 105).
Von ʿAlī b. abī Ṭālib und Ibn Masʿūd werden ausführlichere Versionen der Sure überliefert (vgl. Muʿǧam, ad loc. ):
1 | Beim späten Nachmittag |
2 | und bei den Schicksalsschlägen, welche die Zeit bringt ("nawāʾibi d-dahr)! |
3 | Der Mensch ist in einem Zustand des Verlustes, |
4 | und darin ist er bis zum Ende der Zeit (ʾilā ʾāḫiri d-dahri)! |
1 | Beim späten Nachmittag! |
2 | Wir haben den Menschen zu einem Zustand des Verlustes (li-ḫusrin) geschaffen, |
3 | und darin ist er bis zum Ende der Zeit! |
Lässt sich zeigen, dass eine der drei Versionen ursprünglicher als die anderen beiden ist? Zugunsten der von ʿAlī tradierten Langfassung spricht die Möglichkeit, dass man (vielleicht bereits noch während der allerersten Phase der Textüberlieferung vor dem Tod Muḥammads) am Auftauchen des später (45:24) explizit kritisierten Terminus dahr (die zerstörerische „Zeit“ bzw. die Schicksalsmacht) Anstoß genommen haben könnte und die beiden diesen Ausdruck enthaltenden Verse deshalb aus dem Text verdrängt worden sein mögen. Dagegen steht jedoch, dass der Begriff dahr auch in 26:1 erscheint und dort nicht eliminiert wurde. Der Name Ibn Masʿūds wiederum verbindet sich auch sonst mit über den textus receptus hinausgehenden Lesevarianten, die sich häufig als exegetisch motiviert herausstellen und damit sekundär sein dürften (vgl. Goldziher 1920, 8 ff. ). Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es wohl am wahrscheinlichsten, dass die kanonische und ja tatsächlich außerordentlich kurz wirkende Textversion nachträglich zu den beiden obigen Langfassungen erweitert worden ist.
Bei V. 3 des textus receptus handelt es sich um eine nachträglich eingefügte Ausnahme der Gläubigen von der vorangehenden Rüge. Als solche gibt sie sich durch ihre Länge (13 Silben im Gegensatz zu 2 und 8 Silben in V. 1.2) und durch ihre bereits formelhaft geprägte Terminologie zu erkennen: Die Wendung allaḏīna ʾāmanū wa-ʿamilŭ ṣ-ṣāliḥāti ist charakteristisch für spätmekkanische und medinensische Texte (vgl. 98:7, 65:11, 48:29, 47:12, 45:21.30, 42:22.23.26, 41:8 u. a.); in den drei Fällen, in denen die Formulierung sonst noch in frühmekkanischen Suren erscheint (95:6, 85:11 und 84:25) handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls um Einschübe (s. die Abschnitte Literarkritik zu Q 95, 85 und 84). Überdies weist 103:3 (ʾillă llaḏīna ʾāmanū ... wa-tawāṣau bi-l-ḥaqqi wa-tawāṣau bi-ṣ-ṣabr) große Ähnlichkeit mit 90:17 (ṯumma kāna mina llaḏīna ʾāmanū wa-tawāṣau bi-ṣ-ṣabri wa-tawāṣau bi-l-marḥamah) auf, bei dem es sich gleichfalls um einen späteren Zusatz handeln dürfte (s. den Abschnitt Literarkritik zu Q 90). Angesichts dieses Befundes erscheint es nicht überzeugend, die auffällige Länge von 103:3 mit Michel Cuypers als einen „effet de style, opposant au caractère abrupt et irréparable de la perdition, la longue patience nécessaire pour échapper à ce décret brutal“ ( Cuypers 1999, 47 ) zu erklären. Wie bei Q 84:25 und Q 95:6 (vgl. die entsprechenden Surenkommentare) wird damit ein früher Text, der noch ganz vom Vorwurf der Sündhaftigkeit und Undankbarkeit menschlichen Tuns überhaupt beherrscht ist, in die im Zuge der mekkanischen Gemeindebildung entstandene Dichotomie von „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ eingepasst. Robinson 2003 (162–164) argumentiert auf Grund phonetischer Ähnlichkeiten zwischen V. 3 und dem Wort ʿaṣr für die Ursprünglichkeit des Schlussverses. Angesichts der strukturellen Ähnlichkeit des Verses zu anderen ʾillā-Zusätzen, seiner auch von Robinson keineswegs befriedigend erklärten Überlänge und der Tatsache, dass ʾinsān-Sprüche in der Regel nicht durch Einschränkungen qualifiziert werden (vgl. 75:14.15, 89:15.16, 90:4–11, 95:4.5, 96:6.7, 100:6–8; die auf 70:19–21 folgende ʾillā-Passage ist ebenfalls sekundär) dürfte eine Erweiterungshypothese aber doch wahrscheinlicher sein.