بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
أَلۡهَىٰكُمُ ٱلتَّكَاثُرُ |
11 Die Habgier lenkt euch ab, |
حَتَّىٰ زُرۡتُمُ ٱلۡمَقَابِرَ |
2 bis ihr ins Grab kommt. |
كَلَّا سَوۡفَ تَعۡلَمُونَ |
23 Nein! Ihr werdet zu wissen bekommen! |
ثُمَّ كَلَّا سَوۡفَ تَعۡلَمُونَ |
4 Nochmals: Nein! Ihr werdet zu wissen bekommen! |
كَلَّا لَوۡ تَعۡلَمُونَ عِلۡمَ ٱلۡيَقِينِ |
5 Nein! Wenn ihr nur sicher wüsstet! |
لَتَرَوُنَّ ٱلۡجَحِيمَ |
36 Ihr bekommt bestimmt das Höllenfeuer zu sehen! |
ثُمَّ لَتَرَوُنَّهَا عَيۡنَ ٱلۡيَقِينِ |
7 Nochmals: Ihr bekommt es bestimmt mit sicherem Blicke zu sehen! |
ثُمَّ لَتُسۡـَٔلُنَّ يَوۡمَئِذٍ عَنِ ٱلنَّعِيمِ |
8 Nochmals: An jenem Tage werdet ihr bestimmt über das Wohlleben befragt! |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
at-takāṯur] In Q 57:20 ist im Kontext einer abwertenden Charakterisierung des „diesseitigen Lebens“ von einem takāṯur fĭ l-ʾamwāl wa-l-ʾaulād die Rede. Paret übersetzt wörtlich „die Sucht, mehr zu haben“. Sehr wahrscheinlich handelt es sich aber um eine Arabisierung von griech. pleonexia (Künstlinger 1931, 619), bei der der griechische Komparativ pleon durch den arabischen VI. Stamm mit seiner Konnotation der Gegenseitigkeit wiedergegeben wird. Falls der von Künstlinger hergestellte Zusammenhang zutrifft, so dürfte im Hintergrund des koranischen Begriffs der griechische Originaltext des Neuen Testaments stehen, denn die Peschitta gebraucht für pleonexia die Begriffe yaʿnūtā und ʿālobūtā, die dem arabischen Terminus weniger eng entsprechen. An Textstellen vgl. etwa Psalm 119:36 und die Lasterkataloge in Markus 7:21.22, Römerbrief 1:29, 1. Korintherbrief 6:9.10, insb. aber Lukas 12:15 (TUK, Nr. 193): „Dann sagte er zu den Leuten: Gebt acht, hütet euch vor jeder Art von Habgier. Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, dass ein Mensch aufgrund seines großen Vermögens im Überfluss lebt.“ Andrae verweist im Zusammenhang mit dem vorliegenden Vers auf Ephrems Beschreibung des Weltmenschen als jemandem, der stets „mehr begehrt“ (sāʾēl yatīrā; s. Andrae 1926, 130).
ḥattā zurtumu l-maqābir] Der Nebensatz ist wohl einfach im Sinne von „bis ins Grab“ bzw. „euer ganzes Leben lang“ zu verstehen. In der islamischen Überlieferung wird der Vers allerdings auch als Anspielung auf ein konkretes Geschehnis in der Vergangenheit gedeutet: Die Mekkaner seien zu den Gräbern ihrer verstorbenen Angehörigen hinausgezogen, um diese zu zählen, und hätten auf diese Weise selbst die Verstorbenen in ihren „Wetteifer um mehr“ einbezogen (so auch Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 131, die von „Ahnenverehrung“ spricht). Als sprachliches Indiz für diese Deutung wertet Paret die Tatsache, dass V. 2 im Perfekt und nicht im Imperfekt steht (Paret, Kommentar). Angesichts der auch sonst ausgeprägten Neigung des frühen tafsīr zur anekdotischen Ausschmückung des Korantextes ist es aber vielleicht doch naheliegender, das einleitende Scheltwort (V. 1 und 2) als Feststellung eines allgemeinen Sachverhalts zu verstehen. Das Perfekt drückt im Arabischen ja keineswegs immer etwas Vergangenes aus, sondern kann auch eine aspektuelle Funktion haben (so sind im Arabischen etwa Sprichworte, ähnlich dem gnomischen Aorist im Altgriechischen, im Perfekt formuliert; vgl. a. die Anmerkung zu 96:1.2).
kallā saufa taʿlamūn ...] Vgl. 78:4.5 (kallā sa-yaʿlamūn / ṯumma kallā sa-yaʿlamūn).
kallā lau taʿlamūna ʿilma l-yaqīn / la-tarawunna l-ǧaḥīm] Neuwirth (Studien, 232 sowie Frühmekkanische Suren, 125 und 129 f.) versteht V. 5 und 6 als Protasis und Apodosis eines irrealen Bedingungsgefüges. Das ist nicht gänzlich auszuschließen, auch wenn bei einem Energeticus im Nachsatz eigentlich keine irreale Protasis mit lau, sondern eine reale mit la-ʾin zu erwarten wäre (Wright, Bd. 2, 42). Problematischer ist, dass eine konditionale Verknüpfung von V. 5 und 6 voraussetzen würde, dass das Verb „sehen“ in V. 6 lediglich im mentalen Sinne von „etwas vor sich sehen“ aufzufassen ist; zudem wären V. 6–8 nicht als kategorische Gerichtsansage zu verstehen, sondern nur als bedingte Folge der Protasis V. 5 – beide Konsequenzen erscheinen als der rhetorischen Wucht von V. 6 ff. eher unangemessene Abschwächungen. Zudem lässt sich die Übersetzung von la- + Energicus mit „... so würdet ihr ...“ spätestens in V. 8 (ṯumma la-tusʾalunna yaumaʾiḏin ʿani n-naʿīm) nicht mehr aufrechterhalten; es liegt deshalb näher, auch die vorangehenden beiden Verse nicht apodotisch zu verstehen. Neuwirth versucht das Problem zu umgehen, indem sie V. 7 nicht als Fortführung von V. 6, sondern als Neueinsatz auffasst, s. Frühmekkanische Suren, 130; entsprechend folgt in ihrer Übersetzung auf „würdet sehen“ in V. 6 „werdet sehen“ in V. 7 – eine unter literarischem Gesichtspunkt wenig befriedigende Textstrukturierung, da die offenkundige Parallelität der beiden Verse unberücksichtigt bleibt. Aufgrund all dieser Argumente sowie weiterer struktureller Überlegungen (s. u. den Kommentar) fasst die hier gegebene Übersetzung V. 6 als eigenständigen Satz auf und gibt die emphatisierende Kraft des einleitenden la- mit „bestimmt“ wieder (vgl. auch Wright, Bd. 2, 41, wo der Vers sogar als Beleg für nicht-konditionales la- + Energicus angeführt wird).
Belege zum frühmekkanischen Gebrauch von ǧaḥīm: Wie der vorliegende Vers belegt, tritt die Bezeichnung der Hölle als ǧaḥīm (ist als Synonym zu nār feminin) bereits in Gruppe I der frühmekkanischen Texte auf, während der biblische Begriff ǧahannam erst ab Gruppe IIIa dokumentiert ist (vgl. die Anmerkung zu 78:21; zu nār s. die Anmerkung zu 111:3). Weitere frühmekkanische Vorkommnisse von ǧaḥīm sind 83:16 (ṯumma ʾinnahum la-ṣālŭ l-ǧaḥīm), 82:14 (wa-ʾinna l-fuǧǧāra la-fī ǧaḥīm), 81:12 (wa-ʾiḏă l-ǧaḥīmu suʿʿirat), 79:36 (wa-burrizati l-ǧaḥīmu li-man yarā), 79:39 (fa-ʾinna l-ǧaḥīma hiya l-maʾwā), 73:12 (ʾinna ladainā ʾankālan wa-ǧaḥīmā), 69:31 (ṯumma l-ǧaḥīma ṣallūh), 56:94 (wa-taṣliyatu ǧaḥīm) und 52:18 (waqāhum rabbuhum ʿaḏāba l-ǧaḥīm). Auch in späteren Suren kehrt der Ausdruck häufig wieder. Erwähnenswert ist noch, dass er sowohl in 82:13.14 als auch in 52:17.18 auf das Wort naʿīm reimt, das in der koranischen Semantik folglich als eine Art Gegenbegriff fungiert.
ṯumma] Zu ṯumma im Sinne von „noch einmal“ vgl. 74:20 (ṯumma qutila kaifa qaddar), 78:5 (ṯumma kallā sa-yaʿlamūn), 75:37 (ṯumma kāna ʿalaqatan fa-ḫalaqa fa-sawā) und 82:18 (ṯumma mā ʾadrāka mā yaumu d-dīn).
an-naʿīm] Vgl. 83:22 (ʾinna l-ʾabrāra la-fī naʿīm), 82:13 (ʾinna l-ʾabrāra la-fī naʿīm), 56:89 (fa-rauḥun wa-raiḥānun wa-ǧannatu naʿīm) und 52:17.18 (ʾinna l-muttaqīna fī ǧannātin wa-naʿīm), wo naʿīm jeweils in Kontrast zu ǧaḥīm steht und das jenseitige Paradies bezeichnet (vgl. dazu die Anmerkung zu 81:13; naʿīm erscheint auch noch in 68:34: ʾinna li-l-muttaqīna ʿinda rabbihim ǧannati n-naʿīm). Im vorliegenden Vers hat an-naʿīm jedoch offensichtlich einen negativen Sinn und bezieht sich auf das irdische „Wohlleben“ der Verdammten; als eschatologisch konnotiertes Äquivalent zu al-ǧanna tritt das Wort dann erstmals in 82:13 (Gruppe II) auf.
yaumaʾiḏin] Der Ausdruck entspricht dem neutestamentlichen ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ / syr. b-haw yaumā (vgl. Matthäus 7:22 u. a.), das allerdings anders als im Koran nicht durchgängig eine eschatologische Referenz hat. Im Hintergrund stehen letzten Endes alttestamentliche Texte wie Zefanja 1:8–18: „Am Tag des Schlachtopfers des Herrn / rechne ich ab mit den großen Herren und den Königssöhnen / und allen, die fremdländische Kleider tragen; // an jenem Tag rechne ich ab ... // An jenem Tag ...“. Yaumaʾiḏin als deiktischer Verweis auf den Jüngsten Tag begegnet bereits in frühmekkanischer Zeit sehr häufig als Einleitungsformel für den Nachsatz eschatologischer Temporalsätze und erscheint neben 102:8 noch in 52:11, 55:39, 69:15–18, 70:11, 74:9, 75:10.12.13.22.24.30, 77:15.19 und öfter (Refrain), 79:8, 80:37.38.40, 82:19, 83:10.15, 88:2.8, 89:23.25, 99:4.6 und 100:11.
Literaturliste
Der Text gliedert sich, wie auch 83:1–6 und 104:1–4, in eine Anklage gegenwärtigen Fehlverhaltens (V. 1–2) und eine Vergegenwärtigung seiner eschatologischen Konsequenzen (V. 3–8). Interessant ist, dass sich die Abfolge Scheltwort – Drohwort gerade spiegelbildlich zu den beiden Grundelementen der (wohl etwas später verkündeten) Trostsuren Q 93, Q 94 und Q 108 und auch der früheren ḥaram-Sure Q 106 verhält: Während dort zunächst von einem göttlichen Gnadenerweis berichtet wird, aus dem dann bestimmte ethische oder religiöse Verpflichtungen des Menschen erschlossen werden, wird hier eine menschliche Verletzung solcher Normen konstatiert, an die sich eine Ankündigung von Gottes zu erwartender Strafe anschließt. Q 93, 94 und 108 setzen also mit einer (positiven) Aktion Gottes ein, auf die eine (normativ gebotene) Reaktion des Menschen folgt; Q 102 und Q 104 setzen mit einer (negativen) Aktion des Menschen ein, auf die eine (in ihrem Eintreten faktisch sichere) Reaktion Gottes folgt.
Bemerkenswerterweise stellt die der Sure insgesamt zugrunde liegende Aufeinanderfolge von „Gegenwartskritik“ (V. 1.2) und „Zukunftsaussage“ (V. 3–8) auch eine Grundform der alttestamentlichen Prophetie dar. In der Hebräischen Bibel werden beide Teile in der Regel durch die sog. Botenspruchformel („So hat JHWH gesprochen: ...“) getrennt (vgl. Zenger 2004, 422), die in durchgängig als Gottesrede gehaltenen Texten wie den koranischen Verkündigungen allerdings überflüssig wäre; die Abgrenzung zwischen Scheltwort und Gerichtsdrohung kann deshalb in Q 102 und 104 lediglich durch den Ausruf kallā geleistet werden. Die strukturelle Analogie könnte eine wichtige Signalfunktion haben: Sie kennzeichnet den koranischen Text, der zu Gruppe I der frühmekkanischen Suren gehört und damit noch ganz am Anfang der Korangenese steht, als Exemplar einer den Hörern möglicherweise aus Schriftlesungen vertrauten Redegattung, nämlich derjenigen prophetischer Schelt- und Drohsprüche. Zugleich zeigt sich an der Sure, dass selbst die frühesten koranischen Verkündigungen nicht auf eine Nachahmung biblischer Vorbilder zu reduzieren sind, insofern der grundsätzliche Textaufbau zwar an alttestamentliche Formen erinnert, das einleitend angeprangerte Laster der „Habgier“ jedoch eher in – gattungsmäßig ganz anders beschaffenen – neutestamentlichen Texten prominent ist (s. o.).
Neuwirth (Studien, 232 und Frühmekkanische Suren, 126, will V. 3–8 nicht in zwei Dreiergruppen, sondern in drei Zweier gliedern, da sie V. 5 und 6 als Protasis und Apodosis eines irrealen Bedingungsgefüges versteht, was jedoch eher unwahrscheinlich ist (zu Gegenargumenten s. o.). Dass der Abschnitt V. 3–8 in zwei Dreiergruppen zu unterteilen ist (was wiederum gegen eine konditionale Verknüpfung von V. 5.6 spricht), ist aber auch deshalb wahrscheinlich, weil eine Dreiergliederung die strukturelle Korrespondenz zwischen V. 3–5 und V. 6–8 sichtbar macht: Der erste Vers jeder Dreiergruppe (V. 3 und V. 6) wird im zweiten Vers (V. 4 und V. 7) noch einmal bekräftigend wiederholt (in V. 7 erweitert um einen Akkusativausdruck). Die Zusammengehörigkeit von V. 3–5 und von V. 6–8 zeigt sich auch in der sonstigen sprachlichen Gestaltung: Alle Verse der ersten Versgruppe weisen zu Beginn den Ausruf kallā auf, während alle Verse der zweiten Gruppe im Energicus stehen. Dabei verhält sich die zweite Versgruppe klimaktisch zur ersten: Nachdem V. 3–5 ein unbestimmtes Wissen evozieren, über welches die Angesprochenen nicht verfügen, lösen V. 6–8 die implizite Frage nach dem Inhalt dieses Wissens auf, indem sie ein Gerichtsszenario mit den beiden Komponenten Höllenfeuer und Rechenschaftsablegung skizzieren. Zu einem ähnlichen Steigerungsmoment vgl. die Analysen zu Q 104 und 111 (dort auch weitere Stellenverweise).
Ganz in Übereinstimmung mit der hier vorgelegten Gliederung teilt auch Cuypers die Sure in drei Textstücke (V. 1.2, V. 3–5, V. 6–8) ein. Um dennoch eine parallelistische Grundstruktur auf die Sure projizieren zu können, fasst er jedoch V. 3–8 zu einem übergreifenden Textabschnitt zusammen, dem er V. 1.2 gegenüberstellt. Die angebliche Korrespondenzbeziehung zwischen V. 1.2 einerseits und V. 3–8 andererseits beschränkt sich dabei jedoch auf die lose semantische Nähe von takāṯur („das Bestreben, mehr zu haben“ bzw. die Untugend der „Habgier“) in V. 1 und naʿīm (das diesseitige „Wohlleben“ der Sünder) in V. 8, die beide mit dem negativen Lebenswandel der Verdammten assoziiert sind (vgl. Cuypers 1999, 45–47).
Literaturliste
Die frühmekkanische Sure gehört nach Gesamt- und Verslänge (durchschnittlich 9,5 Silben) zu Gruppe I der frühmekkanischen Suren; für diese Zuordnung spricht auch ihre relative strukturelle Einfachheit – die Sure besteht nur aus den beiden Momenten 1) Scheltwort (V. 1–2) und 2) einer in zwei Dreiergruppen gegliederten Drohung (V. 3–8), während spätere Suren durch eine additive Aneinanderreihung einfacherer Textformen eine sehr viel höhere literarische Komplexität erreichen. Innerhalb von Gruppe I läßt sich der Text den kurzen, nur aus einfachen Versgruppen aufgebauten Droh- und Scheltworten Q 95, 103, 104, 107 und wohl auch noch Q 111 zuordnen, die wie die vorliegende Sure prägnante Ansagen einer fundamentalen Störung des Gott-Mensch-Verhältnisses sind; chronologisch ist diese Binnenklasse von Gruppe I wohl nach Q 105 und Q 106 und vor detaillierteren Ausmalungen des Jüngsten Gerichts wie Q 100 und 101 anzusetzen (vgl. die Einleitung zu Q 105).
Es lassen sich keine Indizien für etwaige Einschübe ausmachen.