بِسۡمِ ٱللَّهِ ٱلرَّحۡمَٰنِ ٱلرَّحِيمِ |
Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers! |
ٱلۡقَارِعَةُ |
11 Die Erschütternde! |
مَا ٱلۡقَارِعَةُ |
2 Was ist die Erschütternde? |
وَمَآ أَدۡرَىٰكَ مَا ٱلۡقَارِعَةُ |
3 Was lässt dich wissen, was die Erschütternde ist? |
يَوۡمَ يَكُونُ ٱلنَّاسُ كَٱلۡفَرَاشِ ٱلۡمَبۡثُوثِ |
24 Am Tag, an dem die Menschen wie auffliegende Motten sein werden |
وَتَكُونُ ٱلۡجِبَالُ كَٱلۡعِهۡنِ ٱلۡمَنفُوشِ |
5 und die Berge wie zerzauste Wolle, |
فَأَمَّا مَن ثَقُلَتۡ مَوَٰزِينُهُۥ |
36 wessen Waagschalen dann schwer sind, |
فَهُوَ فِی عِيشَةٍۢ رَّاضِيَةٍۢ |
7 der führt ein zufriedenes Leben; |
وَأَمَّا مَنۡ خَفَّتۡ مَوَٰزِينُهُۥ |
8 wessen Waagschalen aber leicht sind, |
فَأُمُّهُۥ هَاوِية |
9 dessen Mutter ist eine Schlucht. |
وَمَآ أَدۡرَىٰكَ مَا هِيَهۡ |
410 Was lässt dich wissen, was sie ist? |
نَارٌ حَامِيَةٌ |
11 Heißes Feuer! |
bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm] Zur Basmala s. die entsprechende Anmerkung zu 93; zum Gottesnamen raḥmān s. die Anmerkung zu 55:1.
Vgl. die Einleitung der ebenfalls frühmekkanischen, jedoch später als Q 101 anzusetzenden Sure 69.
al-qāriʿah] Wörtlich: „die Schlagende“; vgl. noch 69:4 (kaḏḏabat ṯamūdu wa-ʿādun bi-l-qāriʿah). Enigmatische Bezeichnunge des Weltendes durch aktive Femininpartizipien begegnen auch in weiteren frühmekkanischen Texten, s. 88:1 (al-ġāšiya), 80:33 (aṣ-ṣāḫḫa), 79:34 (aṭ-ṭāmmatu l-kubrā), 69:1–3 (al-ḥāqqa), 69:5 (aṭ-ṭāġiya), 69:15 (al-wāqiʿa), 56:1 (ebenfalls al-wāqiʿa) und 53:57 (al-ʾāzifa). Solche metonymischen Umschreibungen eines Substantivs durch ein Adjektiv stellen allgemein ein Charakteristikum der altarabischen Dichtung dar (vgl. Bauer 1992, 172–180); vgl. etwa ʾabyaḍu ʾiṣlītun („ein scharfes Weißes“) für „Schwert“ (aš-Šanfarā, Lāmiyyat al-ʿarab, V. 11; s. Jones 1982, 48). Der Koran bedient sich an den genannten Stellen also eines poetisch konnotierten Stilmittels, das jedoch gezielt als Mittel der Enigmatisierung und damit rhetorischen Betonung des Weltendes refunktionalisiert wird. Im Vergleich mit den vier frühmekkanischen fāʿilāt-Schwurserien Q 100:1–5 (wie die vorliegende Sure Gruppe I), 79:1–5, Q 77:1–5 und 51:1–4, die das hereinbrechende Weltende durch prototypische Gegenwartserfahrungen (Reiterangriff und Sturm) präfigurieren, fällt auf, dass auch dort die Form des aktiven Partizips femininum zur Bezeichnung der endzeitlichen Katastrophe dient (s. insb. die Anmerkungen zu 100:1–5 und 79:1–5). Das morphologisches Schema fāʿila wird so innerhalb der frühmekkanischen Korantexte mit präzisen semantischen Konnotationen aufgeladen.
Nur die kufische Zählung setzt nach al-qāriʿah einen Versschluss (Spitaler, Verszählung, 72). Für diese Abteilung spricht, dass andere frühe Suren ebenfalls einen ersten kurzen Vers mit dann zunehmender Verslänge enthalten (Neuwirth, Studien, 35). Insbesondere ist die parallele Eröffnung von Q 69 zu vergleichen, s. aber auch Q 52, 55, 83, 89, 93, 95 (vgl. Kommentar), 103 sowie 106.
yauma yakūnu n-nāsu ka-l farāši l-mabṯūṯ / wa-takūnu l-ǧibālu ka-l-ʿihni l-manfūš] Vgl. 70:8–10 (yauma takūnu s-samāʾu ka-l-muhl / wa-takūnu l-ǧibālu ka-l-ʿihn / wa-lā yasʾalu ḥamīmun ḥamīmā). Eine endzeitliche Desintegration insbesondere von Bergformationen wird frühmekkanisch noch in 52:10, 56:5, 69:14, 73:14, 77:10, 78:20 und 81:3 heraufbeschworen. Sie gehört zum Standardinventar biblischer und nachbiblischer Schilderung des Weltendes, vgl. die Anmerkung zu 81:3. Zugleich hängt die Rolle von Bergen in koranischen Endzeitbeschreibungen sicher damit zusammen, dass die Berge auch in koranischen Aufzählungen der göttlichen Schöpfungswerke (sog. ʾāyāt-Passagen) erscheinen, wo sie als Garanten von Festigkeit und Stabilität fungieren (s. 78:6–8: ʾa-lam naǧʿali l-ʾarḍa mihāda / wa-l-ǧibāla ʾautāda / wa-ḫalaqnākum ʾazwāǧa; vgl. a. 79:32, 88:19). Eine vergleichbare Wertung der Berge ist, wie Angelika Neuwirth hervorgehoben hat (Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 181), auch altarabisch bezeugt, nämlich im Eröffnungsvers eines Trauergedichts von Labīd auf seinen Bruder Arbad (tabqă l-ǧibālu baʿdanā wa-l-maṣāniʿu, „nach uns bleiben die Berge und die Burgen“, vgl. Jones 1982, 81). – Zur Erwähnung von zerzauster Wolle (ʿihn) s. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 180, die auf eine Überschneidung mit dem Anfangsteil der Muʿallaqa des Zuhair verweist: Nach dem Aufbruch der Geliebten mit ihrer Karawane bleiben Wollflocken (futāt al-ʿihn) am Boden zurück (Arazi / Masalha 1999, 57, Nr. 94:16).
Textkritik: Überliefert wird auch die Lesung yaumu ... (Muʿǧam, ad loc.). V. 4.5 wären dann nicht als Vordersatz zu V. 6–9 zu verstehen, sondern als vom Folgenden unabhängiges Prädikat zu einem ungenannten Subjekt: „[Das ist] der Tag, an dem die Menschen wie auffliegende Motten sein werden ...“
Grammatik: Die Antithese ist syntaktisch am ehesten als Nachsatz zu V. 4.5 zu konstruieren.
Versabteilung: Baṣra und Damaskus ziehen V. 6 und V. 8 mit dem jeweils folgenden Vers zusammen (Spitaler, Verszählung, 72). Durch diese Zählweise wird zwar ein Kreuzreim vermieden, jedoch ergeben sich unverhältnismäßig lange Verse. Kreuzreime, obzwar selten, kommen im Übrigen durchaus vor, vgl. 89:15.16 und 92:5–10 (evtl. a. 69:19.25), wo sie in mit Q 101 vergleichbaren Gegenüberstellungen von Bösen und Guten stehen (Neuwirth, Studien, 35).
fa-huwa fī ʿīšatin rāḍiyah] Vgl. 69:21 (dieselbe Formulierung wie im vorliegenden Vers) sowie 88:9 (li-saʿyihā rāḍiyah). Weitere frühmekkanische Vorkommnisse der Wurzel r-ḍ-y sind 93:5 (wa-la-saufa yuʿṭīka rabbuka fa-tarḍā), 92:21 (wa-la-saufa yarḍā), 89:28 (irǧiʿī ʾilā rabbiki rāḍiyatan marḍīyah) und 53:26 (ʾillā min baʿdi ʾan yaʾḏana llāhu li-man yašāʾu wa-yarḍā). Die Wurzel ist offenbar durchgängig eschatologisch konnotiert.
fa-ʾummuhū hāwiyah] Für den Vers existieren zwei hauptsächliche Deutungsalternativen (zu weiteren Interpretationen s. u.):
1) Idiomatisch: „Seine Mutter stürzt“ = „Seine Mutter möge dem Fall preisgegeben sein“ – „eine Art Euphemismus für einfaches halaka ‚der geht zu Grunde’“ (so Fischer 1906, 41).
2) Topologisch: „Seine Mutter ist ein Schlund, Abgrund“, wobei hāwiya ein Synonym für mahwā bzw. mahwāt, „Schlucht“, oder huwwa, „Abgrund“, wäre und die Hölle bezeichnen würde; als Belege für diese zweite Deutung s. insb. al-Ǧauharī, Tāǧ al-luġa wa-ṣiḥāḥ al-ʿarabiyya, s. v. h-w-y: wa-l-mahwā wa-l-mahwātu: mā baina l-ǧabalaini wa-naḥwu ḏālika (die Synonymie von hāwiya für mahwā wird im Folgenden dann nicht nur ausdrücklich festgehalten, sondern auch noch durch einen Vers belegt), sowie Lisān, s. v. h-w-y.
Zugunsten der von August Fischer präferierten Deutung des Verses im Sinne des Idioms hawat ʾummuhū spricht, dass diese Wendung nicht den Eindruck einer koranexegetischen Konstruktion erweckt, obwohl sie auch in den wichtigsten Wörterbüchern stets im Zusammenhang mit dem Koranvers angeführt wird; immerhin zitieren die Kommentare und Lexika jedoch einen Belegvers aus der Dichtung. Gegen eine ausschließlich idiomatische Interpretation des Verses steht jedoch der Umstand, dass hāwiya – sofern das Wort als partizipiale Umschreibung von hawā verstanden wird – nicht gut Bezugspunkt der folgenden Lehrfrage sein kann, obwohl koranische Lehrfragen sich ansonsten immer auf den unmittelbar vorangehenden Ausdruck beziehen (vgl. 69:1–3, 74:26.27, 77:13.14, 83:7.8.18.19, 86:1.2, 90:11.12, 97:1.2, 104:4.5). Fischer geht deshalb sogar so weit, V. 10.11 für einen späteren Zusatz zu halten (s. o., Literarkritik). Doch dürfte die Tatsache, dass eine ausschließlich idiomatische Deutung von V. 9, wie sie von Fischer vertreten wird, nicht ohne eine ansonsten durch nichts nahegelegte literarkritische Zerschneidung des Textes auskommt, eher für die zweite Interpretation sprechen. Parets Übersetzung von V. 10 („Doch wie kannst du wissen, was das bedeutet?“) ist offensichtlich bemüht, eine solche literarkritische Implikation der idiomatischen Deutung zu vermeiden und versteht hiya als unspezifischen Rückbezug auf die vorangehende Aussage insgesamt. Das ist nicht überzeugend: Abgesehen davon, dass koranische Lehrfragen ansonsten immer an einen konkreten Ausdruck anknüpfen, macht seine Interpretation auch nicht verständlich, warum der Vers – wenn er sich denn auf die vorangehende Aussage als ganze und nicht auf das Stichwort hāwiya bezieht – gerade das weibliche Personalpronomen gebraucht.
Neben solchen immanenten Schwierigkeiten einer ausschließlich idiomatischen Erklärung des Verses gibt es weitere Argumente für die zweite Alternative. Bemerkenswert ist zunächst, dass die Gleichsetzung von hāwiya mit mahwā bzw. mahwāt in den Wörterbüchern gerade nicht im Zusammenhang mit 101:9 behandelt wird und insofern kein bloßes Resultat exegetischer Spekulationen zu sein scheint. Der von Sells erhobene Einwand, dass „attestations for the term hāwiya meaning abyss in early Arabic are tenuous“ (Sells 1993, 418), greift angesichts der lexikographischen Belege nicht, zumal hāwiya auch aus reimlichen Gründen dem gängigeren mahwā vorgezogen worden sein dürfte. Die topologische Deutung von hāwiya wird überdies dadurch bestätigt, dass die Hölle auch in der Offenbarung des Johannes 9:1.11 als „Abgrund“ bezeichnet wird (Brady 1978; vgl. TUK, Nr. 114), und dass zwei ähnliche koranische Lehrfragen (83:7.8 und 83:18.19) ebenfalls an semantisch opake Ortsbezeichnungen (siǧǧīn und ʿillīyīn) anknüpfen; hāwiya ist also wohl als eine – wie in Q 83 absichtlich enigmatische – Ortsbezeichnung aufzufassen und nicht lediglich als partizipiale Umschreibung von hawā. Doch muss eine solche Deutung des Ausdrucks nicht ausschließen, dass auch ein Anklang an das Idiom hawat ʾummuhū beabsichtig sein könnte: Die „Multivalenz“ (Sells 1993, 420) der auch idiomatisch zu verstehenden Aussage fa-ʾummuhū hāwiya, die erst im folgenden Vers auf einen örtlichen Sinn festgeschrieben wird, könnte durchaus so intendiert sein (vgl. in diesem Sinne auch Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 181).
Weitere Deutungen: Wohl auf der Grundlage der Synonymie hāwiya = mahwāt scheinen manche islamische Kommentatoren hāwiya einfach als einen Eigennamen für die Hölle aufzufassen, indem sie nämlich hāwiya mit an-nār glossieren. Als Paraphrase von V. 9 ergäbe sich dann „Seine Mutter (= sein Aufenthaltsort) ist die Hölle“ (mustaqarruhŭ n-nār, vgl. etwa Ṭabarī, ad loc.; s. hierzu und zu weiteren Deutungsmöglichkeiten Bellamy 1992). Obwohl es sich dabei aller Wahrscheinlichkeit um eine sekundäre Konstruktion handelt, ist auch diese Deutung in die Wörterbücher eingegangen und wird dort in der Regel als eine eigenständige Bedeutung des Ausdrucks angeführt (s. al-Ǧauharī, Tāǧ al-luġa wa-ṣiḥāḥ al-ʿarabiyya, s. v. h-w-y: wa-hāwiyatun: ʾismun min ʾasmāʾi n-nār ...; vgl. a. Lisān, s. v. h-w-y). Alternative Erklärungen der Stelle sind von Torrey und Bellamy vorgeschlagen worden. Torrey zufolge handelt es sich bei hāwiya um eine Arabisierung von hebr. hōwā, „Verderben“ (Torrey 1922; vgl. Jesaja 47:11 und Ezechiel 7:26), wobei jedoch fraglich ist, ob die koranischen Hörer frühmekkanischer Zeit mit diesem in der Hebräischen Bibel lediglich an zwei Stellen vorkommenden Ausdruck so vertraut waren, dass der Vers die von Torrey behauptete Intertextualität hätte abrufen können. Bellamy 1992 plädiert dafür, den rasm von V. 9 als fa-ʾummatun hāwiya („ein steiler Weg nach unten“) zu emendieren. Doch selbst wenn die von ihm vertretene Variante in der islamischen Lesartenliteratur belegt wäre (was nicht der Fall ist), so müsste sie doch als eine lectio facilior gelten, welche den ursprünglichen Wortlaut nachträglich zu glätten versucht.
wa-mā ʾadrāka mā hiya / nārun ḥāmiyah] Vgl. insbesondere die Lehrfrage in 104:4 ff.: kallā la-yunbaḏanna fĭ l-ḥuṭama / wa-mā ʾadrāka mă l-ḥuṭamah / nāru llāhi l-mūqadah. Zu nār vgl. die Anmerkung zu 111:3.
Literaturliste
Die Sure setzt ein mit der Interjektion al-qāriʿa, „die Erschütternde!“, welche die endzeitliche Katastrophe statt mit einem lexikalisch etablierten Ausdruck durch eine Neubildung der Bildungsform (fāʿila) bezeichnet. Solche enigmatisierenden Substitutionen sind eine insbesondere zu Anfang eschatologisch geprägter Suren effektvoll eingesetzte koranische Innovation, s. 69:1 und 88:1 (im Sureninnern vgl. a. 79:34 und 80:33), die aus dem in der altarabischen Dichtung häufigen Stilmittel metonymischer Umschreibungen erwachsen sein könnte. Der „schockierende“ (Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 180) Auftakt wird durch eine zweimalige Nachfrage unterstrichen, welche das einleitende Stichwort al-qāriʿa jeweils am Versende nachhallen lässt.
Die Lehrfrage leitet einen eschatologischen Temporalsatz ein, der das Bild eines zerfallenden Kosmos entwirft. Der Übergang von der Lehrfrage zum Temporalsatz entspricht dem auch aus anderen frühmekkanischen Suren vertrauten Muster von Enigma und Auflösung (vgl. etwa die Kommentare zu Q 102, 104 und 111). Wie Sells 1993, 410, bemerkt, steigt in V. 4.5 nach den sehr kurzen ersten drei Versen die Verslänge deutlich an und geht erst in V. 10.11 wieder auf die anfängliche Kürze zurück; der eschatologische Temporalsatz (mit Nachsatz) in V. 4–9 sticht damit deutlich als Mittelpunkt der Sure heraus.
Der Temporalsatz beginnt mit zwei eindrucksvollen Bildsetzungen: Die Orientierungslosigkeit der Menschen am Jüngsten Tag wird mit durcheinanderwirbelnden Motten veranschaulicht, die scheinbare Beständigkeit und Stabilität von Bergformationen – die anderswo als Zeichen der göttlichen Schöpfermacht erscheinen – wird durch ihren paradoxen Vergleich mit zerzauster Wolle dekonstruiert. Beide Motive veranschaulichen damit stenographisch die zwar gottgegebene, aber eben nur vorläufige Vertrauenswürdigkeit und Berechenbarkeit der diesseitigen Welt. Wenn der Vergleich der Berge mit ʿihn manfūš, zerflockter Wolle, mit Neuwirth tatsächlich im Bezug auf einen Vers aus der Muʿallaqa des Zuhair zu verstehen ist (s. o.), so ergibt sich eine intertextuelle Parallelisierung der von der eschatologischen qāriʿa verwüsteten Welt mit den in zahlreichen altarabischen Gedichten beschriebenen verlassenen Lagerstätten. Um die gänzliche Verlassenheit des Einzelnen am Jüngsten Tag zu veranschaulichen, würde die Sure also auf eine aus der Poesie vertraute paradigmatische Situation menschlicher Einsamkeit zurückzugreifen: Die in der Qaṣīdendichtung im Motiv der verwehten Lagerspuren artikulierte Erfahrung einer instabilen, vom Vergehen bedrohten und insofern menschliche Selbstbehauptung gefährdenden Welt würde aus der Gegenwart in die eschatologische Zukunft transponiert.
Auf den eschatologischen Temporalsatz V. 4.5 folgt ein antithetischer Nachsatz, der das Abwiegen guter Taten beim Jüngsten Gericht einblendet (V. 6.7). Die in V. 4.5 umrissene Desintegration bisheriger gesellschaftlicher und natürlicher Ordnungen mündet so in eine von ausschließlich moralischen Gesichtspunkten diktierte Neuordnung der Welt: Gute und Böse werden, wie die Antithese auch strukturell veranschaulicht, säuberlich voneinander geschieden und gemäß ihren Verdiensten und Verfehlungen belohnt bzw. bestraft. Der den Mittelpunkt der Sure ausmachende eschatologische Temporalsatz mit seinem Nachsatz erreicht seinen Abschluss in V. 9 mit der Strafansage „Dessen Mutter ist eine Schlucht“, mit der zugleich die idiomatische Nebenbedeutung „dessen Mutter ist dem Fall preisgegeben“ assoziiert werden kann (s. o.). Sie fungiert aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit als retardierendes Moment und geht erst im abschließenden Verspaar V. 10.11 in eine eindeutige Androhung der Höllenstrafe über (vgl. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 183).
Erst nach einer weiteren, die Spannung steigernden Lehrfrage wird die von den Bösen zu gewärtigende Strafe in einem neuen Redeanlauf zu einem unmissverständlichen Höllenbild konkretisiert, das den Kulminationspunkt des gesamten Textes bildet. Wie bereits die Folge von qāriʿa-Lehrfrage (V. 1–3) und eschatologischem Temporalsatz (Vordersatz: V. 4.5) zu Beginn der Sure weist damit auch der Übergang zum abschließenden Verspaar das dramaturgische Muster von Rätsel und Auflösung auf. Die Erweiterung eines zunächst nur rätselhaft formulierten Drohworts durch eine Lehrfrage erinnert an die wohl etwas früher anzusetzende Sure 104, wo ebenfalls ein enigmatischer Ausdruck (al-ḥutama, V. 5) mit dem „Feuer“ (nār, 101:11 und 104:6) der Hölle identifiziert wird; es ist nicht unwahrscheinlich, dass der kurze Schlussvers von 101, nārun ḥāmiyah, im Bewusstsein der Hörer die ausführlichere Beschreibung des Höllenfeuers aus 104:6–9 wachrufen soll.
Literaturliste
Die Sure gehört eng mit Q 99 und 100 zusammen, die ebenfalls kurze Schilderungen des Jüngsten Tages darstellen (vgl. im Unterschied dazu etwa die bereits zweiteiligen Suren 81 und 82). Inhaltlich lassen sich Q 99 bis 101 als Entfaltungen der schon in den kurzen Droh- und Scheltworten Q 95, 102, 103, 104, 107 und 111 angerissenen Thematik des Jüngsten Gerichts verstehen und sind damit Gruppe I zuzuordnen. Für eine etwas spätere Entstehung als die genannten Suren spricht vor allem die Tatsache, dass sich Q 99, 100 und 101 nicht nur in Versgruppen, sondern bereits in sehr kurze Gesätze gliedern lassen. Die beiden in Q 101 (wie auch in Q 99) nur relativ knapp angerissenen Motive einer eschatologischen Desintegration der diesseitigen Weltordnung und einer anschließenden Scheidung von Guten und Bösen werden in den wohl späteren Suren 81, 82 und 92 dann ausführlicher durchgeführt (s. u. den Kommentar zu V. 4–9).
Interessant ist ein Vergleich der durchschnittlichen Verslänge von Q 99 (12,6 Silben), 100 (10 Silben) und 101 (8,45 Silben), deren Schwankungsbreite mehr als 4 Silben beträgt; gemessen an anderen Suren aus Gruppe I vergleichsweise lange Verse weist auch die sicherlich sehr frühe Sure 105 auf (im Durchschnitt 12 Silben). Diese für andere frühmekkanischen Surengruppen eher ungewöhnliche Schwankungsbreite ist aber in erster Linie mit der Kürze der betreffenden Suren zu erklären: Signifikant längere Verse als der Surendurchschnitt begegnen in allen Untergruppen der frühmekkanischen Periode, fallen aber bei längeren Texten nicht annähernd so stark ins Gewicht.
Versteht man V. 9 (fa-ʾummuhū hāwiya) mit Fischer als idiomatischen „Euphemismus für einfaches halaka ‚der geht zu Grunde’“ (s. u.), so wird der inhaltliche Zusammenhang zwischen V. 9 und der daran anknüpfenden Lehrfrage V. 10.11 problematisch: Denn es erschließt sich dann nicht mehr ohne Weiteres, inwiefern einer der beiden grammatisch in Frage kommenden Anknüpfungspunkte für die mit dem weiblichen Personalpronomen (hiya) formulierte Lehrfrage – entweder ʾumm oder hāwiya – als „heißes Feuer“ paraphrasiert werden könnte. Fischer zieht daraus die Konsequenz, dass es sich bei V. 10 und 11 um eine spätere Hinzufügung handeln müsse: Weil man über die Bedeutung von fa-ʾummuhū hāwiya im Unklaren gewesen sei, jedoch erkannt habe, dass der Vers dem Sünder die ewige Verdammnis androht, habe ein anonymer „Qorān-Kenner“ die Verse 10 und 11 angefügt, „um damit auch dem blödesten Auge oder Ohre die Beziehung von Vers (6) [in der Flügel-Zählung] auf die Höllenstrafe klar zu machen“ (Fischer 1906, 53).
Fischers Hypothese steht jedoch in verschiedener Hinsicht auf schwachen Beinen. Zum einen ist die idiomatische Deutung des Verses keineswegs alternativlos; die topologische Gleichsetzung der hāwiya mit dem Feuer der Hölle kann, wie weiter unten ausgeführt, auch sprachlich plausibilisiert werden, wenn man die in den arabischen Lexika belegte Synonymie hāwiya = mahwāt bzw. huwwa beachtet (s. u.). Und selbst wenn V. 9 wirklich auf die Wendung hawat ʾummuhū anspielt, so könnte der Vers doch immerhin eine idiomatisch-topologische Doppelbedeutung haben. V. 10 würde dann das zunächst von den Hörern mitassoziierte idiomatische Verständnis von hāwiya als partizipialer Umschreibung von hawā aufbrechen, indem es den Ausdruck mit dem „heißen Feuer“ der Hölle gleichsetzt.
Die monothematische Sure gehört zur Gruppe der kürzeren eschatologischen Bilder (Q 99, 100, 101, 111), die bestimmte Elemente des Jüngsten Gerichts und/oder der anschließenden Bestrafung der Verdammten ausmalen und insofern die jenseitigen Konsequenzen der in den Gerichtsansagen Q 95, 102, 103, 104, und 107 konstatierten Störung des Gott-Mensch-Verhältnisses entfalten. Strukturell handelt es sich bei Q 101 um einen eschatologischen Temporalsatz mit Nachsatz (V. 4–9), dem eine einleitende Lehrfrage (mit ihr vorbauendem Ausruf) voran- und eine zweite Lehrfrage nachgestellt ist. Die zweite, sich an die mehrdeutige hāwiya-Aussage in V. 9 anschließende Lehrfrage V. 10.11 tritt insbesondere aufgrund des parallelistischen Aufbaus der vorangehenden Verse (Entsprechung zwischen V. 4 und 5 sowie zwischen V. 6.7 und 8.9) hervor (vgl. Neuwirth, Frühmekkanische Suren, 184). Obwohl die Sure gemessen an ihrer Kürze eine relativ hohe Anzahl von Reimwechseln enthält, zieht sich das Schema āKiʿah (V. 1–3) bzw. āKiyah (V. 7.9–11) durch den gesamten Text und bindet so den im Zentrum stehenden Temporalsatz mit den von außen angelagerten Lehrfragen zu einer straffen Komposition zusammen. Im Mittelpunkt steht das Doppelmotiv einer eschatologischen Desintegration und moralisch bestimmten Neuordnung der Welt, das Q 101 mit der in etwa zeitgleich verkündeten Sure 99 teilt; zu einem späteren Zeitpunkt werden die beiden Themen eingehender und rhetorisch noch eindrucksvoller in den ʾiḏā-Serien zu Beginn von Q 81 und 82 und den beiden Antithesen in Q 92 (V. 5–11 und V. 14–21) verhandelt.
Die oben vorgeschlagene Gliederung des Textes deckt sich partiell mit derjenigen Michel Cuypers, der in der Sure eine Spiegelbildstruktur des Schemas A (V. 1), B (V. 2.3), C (V. 4.5), C’ (V. 6–9), B’ (V. 10), A’ (V. 11) erblickt, wobei er hier im Gegensatz zu anderen Texten keinen Scharniervers identifiziert (Cuypers 1999, 41 ff.). Insbesondere zwischen den umfangreichsten Segmente V. 4.5 und V. 6–9 bestehen jedoch – abgesehen von der Tatsache, dass sie sich intern jeweils in zwei parallele bzw. antithetische Hälften gliedern – keinerlei Korrespondenzen, welche die Verwendung der Bezeichnungen „C“ und „C’“ rechtfertigen würden.
Überblick
1–3 āKiʿah | 1 1–3 Ausruf und Lehrfrage |
4.5 3K(K)2K mit Spiranten | 2 4.5 Antwort: eschatologischer Temporalsatz (yauma-Vordersatz) |
6.8 īnuh, 7.9 āKiyah | 3 6–9 eschatologischer Nachsatz: Antithese mit Verheißung (V. 6.7) und Drohwort (V. 8.9) |
10.11 āKiyah | 4 10.11 erneute Lehrfrage (an V. 9 anknüpfend) und Antwort |
Proportionen: 3+2+4+2.